Mombasa. Jürgen Jesinghaus
sein müssen?“
„Er war zur Zeit der Hausdurchsuchung nicht bei uns, sondern auf einer unserer Baustellen.“
„Woher soll ich wissen, dass er mit dem Mord nichts zu tun hat? Wenn ich einen Mörder decke, sind meine Brüder in Gefahr. Das Kloster selbst, die Heimstätte von zwanzig Menschen, mit Gebäuden, Ländereien steht auf dem Spiel. Es wäre nicht das erste Mal in den letzten Monaten, dass der Staat Kirchengüter einzieht, Menschen vertreibt oder in Lager sperrt.“
Der Prior sah Radebusch durch die randlose Brille an. Sie macht ihn jünger als er vermutlich ist, dachte Fritz, ein Bürokratentyp, ein Beamter – wäre normalerweise nicht mein Fall.
„Urbanski war es nicht. Ich könnte es beschwören.“ Radebusch hörte sich selber zu. „Er kann es nicht gewesen sein. Er hat Frau und Kinder. Er kommt aus der Krakauer Gegend.“
Der Prior hatte den Kopf nach hinten gelegt, die Beine übergeschlagen, sein Kinn wurde von einem Daumen gestützt. Der Zeigefinger war damit beschäftigt, gegen die Nasenflügel zu klopfen. Wie würde die Aufzählung der Tatsachen: a) verheiratet, b) Vater und c) Krakauer die Unschuld Urbanskis beweisen?
„Ich habe Masrat umgelegt.“
Radebusch kannte sich selbst nicht mehr. Wie kam er dazu, dem Mann vor ihm etwas zu gestehen, was er nicht einmal seiner Frau, die es verdammt nochmal etwas anging, zu sagen gewagt hatte! Der Klostervorsteher erhob sich abrupt, indem er seine Hände auf die Schenkel stützte und sich hochkatapultierte. Er drehte sich zum Fenster und spielte hinter seinem Rücken nervös mit den Fingern. Radebusch war einen Augenblick lang unsicher, ob die Ursache für die Nervosität des Mannes nicht im Innenhof oder auf der Straße zu suchen wäre, so angestrengt blickte der Mönch hinaus.
„Wenn er geschnappt wird, dann müssen Sie sich melden.“
„Ja“, sagte Fritz, „das müsste ich wohl.“
„Sie erhalten den Auftrag zur Beseitigung der Schlaglöcher. Schicken Sie Urbanski her.“
Daniel drehte den Stoffbären mit beiden Händen von einer Seite zur anderen. Dann schien er ihn mit der Handfläche wiegen zu wollen. Dabei schaute er Frau Radebusch fragend an. Sie hatte ihm den Bären wie beiläufig zusammen mit den Lebensmitteln und den Büchern auf den Tisch gepackt.
„Wussten Sie“, fragte die Frau, „dass ‚Teddybär‘ von Theordore Roosevelt kommt? Jemand hat ihn aus Verehrung des Präsidenten der Vereinigten Staaten so benannt, des Präsidenten vor dem letzten Krieg, noch zu Kaisers Zeiten.“
Sie flüsterte, als wäre diese Mitteilung von äußerster Wichtigkeit und als könnten sie hier belauscht werden.
„Mein Mann und ich haben sie im Feindsender gehört, die Geschichte des Teddybären. Das Abhören ist strafbar. Es soll Todesurteile setzen.“
Frau Radebusch verhielt sich so, als deutete allein der Besitz eines Teddybären auf das heimliche Abhören alliierter Sender hin und als müsste darum ein Teddybär so schnell wie möglich aus dem Gesichtskreis zufälliger Besucher in Radebuschs Wohnung verschwinden.
Verrückt! Die glaubt doch nicht wirklich, ein Kinderbär sei bereits ein Indiz für angloamerikanische Umtriebe oder das Symbol deutscher Spione im Dienst der Alliierten? Sie hat vor Jahren ein Kind verloren. Warum gibt sie jetzt den Teddy aus der Hand, mit dieser überspannten Begründung? Die Tierpuppe, ziemlich schwer, lange Schnauze, engstehende Glasaugen, sah so aus wie die Bären im Kölner Zoo. Daniel wusste, dass man gebrauchte Stofftiere und Puppen nur aus Liebe verschenkt oder als Vorschuss auf Liebe, die entstehen und sich bewähren soll. Die blaue Schleife saß adrett um den dicken Nacken. Die Naht am Rücken verlief sauber gestochen, wie neu. Daniel untersuchte sie in der Annahme, dass in dem Tier etwas für ihn versteckt sei. Aber er konnte keine Öffnung finden, die ihm darin Recht gegeben hätte, und er wollte von sich aus den Teddy nicht aufschlitzen. Er war eine Erinnerung an das tote Kind und ihm, Daniel Spielstein, anvertraut worden. So beschloss er, ihn sorgfältig aufzuheben, legte ihn auf Zeitungspapier und schob ihn unter sein Feldbett. Kann sein, dass Frau Radebusch etwas verrückt ist, leicht durcheinander, oder die Welt ist verrückt geworden - oder du selbst. Frau Radebusch war eine praktische Frau. Wenn man Daniel Spielstein, den Juden, entdeckte, dann würde ihn niemand und nichts retten – ob man bei ihm die Pistole fände, wäre dann schon egal.
Luise Radebusch, die Frau von Fritz und Philipps Mutter, starb am 4. Dezember 1944 auf einem Pfad entlang der Eisenbahn. Sie suchte nach Resten Grünkohl auf den Feldern, als Tiefflieger einen Zug durch Oplyr angriffen. Außer ihr starben an diesem Weg zur selben Zeit noch achtzehn Menschen, darunter ein Kind.
Kapitel 2
10.
Daniel kam aus seiner Löwengrube (für länger als nur für ein paar Stunden), nachdem ein Jeep auf den Betriebshof geprescht war und Gustav Hartkopf das Gefährt als „echt amerikanisch“ beschrieben hatte.
„Kein Nazi-Trick, Dan. Der Fahrer ist Indianer. Waren Indianer in der Wehrmacht? Na also!“
„Gibt es im Staate New York noch Indianer, in Yonkers beispielsweise? Vielleicht ist er ein Jude. Das wäre schön. Ein jüdischer Indianer, der meinen Vater gekannt hat. Ein Regenmacher und der Augenwischer. Mein Gott. Wer war noch bei ihm?“
„Ein Jude!“
Die Männer warfen sich auf einen Haufen Sand und lachten, lachten und weinten. Sie lachten, bis ihnen die Brust weh tat, bis ihr Lachen im Husten erstickt wurde und ihnen die Tränen über die Backen flossen. Sie hätten noch nie in ihrem Leben so gelacht!
In den ersten Wochen seiner Befreiung spazierte Dan umher. Als die Straßenbahn wieder in Betrieb genommen wurde, fuhr er nach Bonn und ging die die Pfarrer-Gyssel-Straße. Das Haus seiner „Illegalität“, das Haus, das sein Vater gerne gekauft hätte, war ausgebombt. Er fragte Leute aus der Nachbarschaft, nachdem er sich als Spiälsin vorgestellt hatte. Ach, das wissen Sie nicht? Den 18. Oktober 1944 hat es überstanden, aber den Winter nicht mehr. Die Amis sind dahintergekommen, dass der Größte Feldherr aller Zeiten im Westen eine Offensive machen wollte oder schon angefangen hatte. Da war der Bahnhof dran und alles, was aus der Stadt in die Eifel führte. Daniel wäre gerne wieder in die „Illegalität“ gezogen, jetzt als Herr Spielstein, aber das ging nun nicht mehr. Deshalb nahm der das Angebot der Militärverwaltung an, die ihm (durch Gustav Hartkopfs Vermittlung) ein Haus der Reichsbahn in Oplyr an der Strecke Bonn-Köln in Aussicht gestellt hatte. Daniel Spielstein blieb in Oplyr, einer Kleinstadt (Stadt erst seit Anfang der 1950er), wo ein Nazi-Apparatschik erschossen worden war, wo ein paar Liberale lebten, ein paar Sozen und viele schwarze, aber wenig braune Katholiken. Das war besser als vielerorts anderswo in Deutschland.
Daniel lebte als einziger in dem Haus an der Reichsbahn (der Bundesbahn, wie sie seit Ende 1949 hieß). Die Haustür war überdacht gewesen. Jetzt stand nur noch das gusseiserne Gestell, denn der Regenfang war längst ein Opfer des wollüstigen Triebs geworden, mit Kieselsteinen Sterne ins Glas zu werfen. Daniel hatte nach der Übernahme des Hauses die Dolche und Lanzenspitzen des restlichen Glases herausgebrochen, um sich und den Passanten das Gefühl der Bewohnbarkeit zu vermitteln. Die Zimmer des unteren Stocks waren zugenagelt, ebenso die Fenster. Zwei angesplitterte Bretter wiesen darauf hin, dass mit Pflastersteinen die Festigkeit des Verhaus geprüft worden war. Einmal fand er ein Hakenkreuz auf die Ziegelsteinfront gepinselt. Daniel verwandelte es in ein Quadrat mit Unterquadraten. Er wurde deshalb von Unbekannt angezeigt, weil er sich am hellichten Tag, aufreizend langsam und akkurat, an der Hausfront mit Pinsel und schwarzer Farbe zu schaffen gemacht habe. Die Polizei vermutete in Daniel den antisemitischen Schmierer. Ihr musste er demonstrieren, wie aus einem Hakenkreuz ein Kellerfenster wird. Daniel bewohnte zwei Zimmer im zweiten Stock. Er erreichte sie über einen Flur, von wo aus man einen kleinen Boden besteigen konnte (wenn man die Leiter, die unter der Decke hing, herunterzog). Daniel fragte sich oft, wie es über ihm und unter ihm aussähe. Die Vorstellung, in ein Zimmer einzudringen, wo Möbel, mit weißen Tüchern wie mit Leichentüchern bedeckt, herumstünden, hielt ihn davon ab, die Tür zur Wohnung im ersten Stock zu öffnen. Er wäre sich wie ein Einbrecher