Mombasa. Jürgen Jesinghaus
für einen anderen als den Herrn Minister eine dienende Funktion wahrnehmen, aus Furcht, es könnte als Unterlegenheit gedeutet werden. So ließ er den Schirm fallen, griff in die Innentasche des Mantels. Er begann zu schwitzen, weil sich aller Augen mit kalter Gleichgültigkeit auf ihn richteten, tastete nach dem Papier, fand es, beschwor es inbrünstig, das richtige zu sein, und entfaltete es, während er hörbar Luft holte. Er räusperte sich und las, laut und deutlich wie eine Proklamation:
„800 ha Gemüse und Blumen, 200 ha Obst, mithin 1000 ha Freilandkultur.“
„Die sind zerstört?“ fragte der Minister.
„Jawoll, zu 50% und mehr, außerdem mindestens 20 ha Unterglaskulturen. Alle Zahlen sind Mindestzahlen, das möchte ich betonen, denn nicht alle Betroffenen haben die Schäden gemeldet.“
„Das macht ungefähr 20 ha Glasbruch.“
„Hierüber liegen noch keine genauen Zahlen vor.“
„Nach Adam Riese: 20 ha Unterglaskulturen werden von mindestens 20 ha Glas überdacht. Und wenn ich mich hier umschaue, ist das meiste davon zerstört.“ Das klang eher ironisch als betroffen.
„Jawoll, Herr Minister, Herr Minister wollen die Neigung der Glasdächer bedenken. Glasbruch wie nach einem Bombenangriff!“
Dem Generalmajor erschien dieser Vergleich unangemessen. Er war ein Mann, der seine Bomben kannte und der das herabgesetzte Ansehen ihrer Wirkung nicht auf sich sitzen lassen wollte: „Nicht ganz“, warf er deshalb ein und bemühte sich, seinem Lächeln anmerken zu lassen, dass er dem Einwand eine tiefere Bedeutung beimaß und nicht nur als Scherz verstand. Der Vorsitzende des Zentralmarktes ärgerte sich, weil er (im Gegensatz zu dem Offizier) Bombenangriffe in Bonn und Düren mitgemacht hatte und daher zugeben musste, dass der Vergleich albern war.
„Ein ha macht zwei Fußballplätze.“ Die Feststellung des Ministers wurde als Frage aufgefasst, darum beeilte sich der Vorsitzende mit der Wiedergabe einer exakten Definition: „Ein ha, 100 Ar, 10.000 Quadratmeter.“
„Sehen Sie, ich merke mir von Jugend auf nur das mit den Fußballplätzen“, der Minister erntete damit ein geziemendes Lachen aller Beteiligten. „Es sind doch zwei Fußballplätze?“ fragte er scharf, ohne jemanden anzusehen – mit der Wirkungen, dass die begleitenden Männer alle durcheinander Multiplikationsaufgaben vorrechneten und Lösungen anboten, die zwischen 1000 und 100.000 Quadratmetern lagen, bis jemand mit einem Zittern in der Stimme eine definitive Aussage wagte:
„Es sind zwei Fußballplätze“, die Herren nickten beifällig, „wenn man berücksichtigt, dass die Seitenmaße genau stimmen, was nicht bei allen …“.
„Nach meiner Information“, der Minister schnitt die Diskussion über Fußballplätze ab, ohne seine Stimme zu heben, „sind alle Betroffenen erfreulicherweise gegen Glasbruch versichert, aber bedauerlicherweise, und ich möchte hinzufügen leichtsinnigerweise nicht gegen die unter Glas befindlichen Kulturen, auch nicht gegen Prellschäden der Obstkulturen.“ Der Minister sah in die Runde und jedem Einzelnen ins Gesicht, um die Wirkung seiner Worte abzulesen. Er bog seinen Kopf zurück, kniff die Augen zusammen und sprach gegen die Wolken: „Das Land springt nur bei Schäden ein, gegen die man sich nicht versichern kann.“ Er senkte den Kopf, bis die Augen auf seine Schuhe gerichtet schienen und wiederholte: „Nicht versichern kann. Das Bedauerliche ist, dass es aber Versicherungen gegen Prellschäden und Hagelschlag gibt“, der Minister sprach jetzt zu allen, während er reihum jeden flüchtig ansah, „und dass viele Betroffene nur leider keinen Gebrauch davon gemacht haben, sei es, um die Prämien zu sparen“, der Minister hob abwehrend die Hände und schien sich ducken zu wollen, „oder es sei – das will ich gerne zugeben und da sehe ich eine gewisse Chance, meine Herren, weil ja niemand in diesem Landstrich ernsthaft mit einer Hagelkatastrophe“, der Minister warf sich in die Schultern und fuhr mit der Hand in die Runde „diesen Ausmaßes hat rechnen können, nicht wahr – niemand“, sein Blick heftete sich an das Barett des Generalmajors (der Generalmajor nickte ernst), „niemand bis auf die Glücklichen oder soll ich besser sagen Vorausschauenden, die es für angebracht hielten, eine solche Versicherung abzuschließen.“ Der Minister schaute nun freundlich auf den Vorsitzenden des Zentralmarktes, der ihm diese Information vor einer Stunde mitgeteilt hatte. Der Vorsitzende erschrak. Er wurde bleich. Sekundenlang konnte er nichts anderes denken, als dass ihm ein kapitaler Fehler unterlaufen sei. Der Minister hatte es ihm gerade zu verstehen gegeben und ihn genau an der passenden Stelle angeblickt – für alle Anwesenden deutlich erkennbar – und ihn damit als Informanten entlarvt. Was er zur Ehre seines Verbandes geschwätzig und stolz mitgeteilt hatte, erwies sich als Falle und konnte leicht gegen ihn selbst ausgelegt werden. Wenn das Land nicht mit Zahlungen überkommt, wird er der Sündenbock sein, nur weil einige (alles Parteifreunde von ihm) durch ihre Pedanterie die Unvorhersehbarkeit eines glasbrechenden Hagels in der Kölner Bucht widerlegt haben und nun dem Minister einen Vorwand liefern, sich mit Zahlungen aus der Staatskasse zurückzuhalten. An mir bleibt es hängen, wenn ich nicht energisch gegensteuere.
„Herr Minister! Ich appelliere an die Solidarität aller Bürger dieses Landes, und ich vertraue darauf, dass Ihre Regierung mit allen Kräften den in Mitleidenschaft gezogenen Bauern finanziell unter die Arme greifen wird.“ Einen Augenblick peinliches Schweigen, in dem der Generalmajor den Himmel absuchte und der Minister seine Fingernägel prüfte, als ließe sich aus dem farblosen Perlmutt durch eine geschickte Stellung gegen das graue Licht eine passende Antwort ablesen. Der Persönliche des Ministers stellte dem Vorsitzenden seine Missbilligung offen entgegen (die Missachtung zum Schweigen verurteilter Diener). Zu dem General gewandt, der seine Inspektion beendet hatte und keine Feindbewegung hatte beobachten können, sagte der Minister: „Natürlich wird alles geschehen, was dem Lande möglich ist, um zu helfen. Eine direkte Entschädigung wäre allerdings nach dem geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaften eine Subvention im Sinne – äh – des EG-Rechts, deshalb müsste die Kommission die Zahlung genehmigen.“ Der General nickte. Als hätte der Minister dadurch die Zustimmung von unpassender Stelle empfangen, löste er seinen Blick vom Barett (zu dem er gesprochen hatte) und wandte sich an alle, indem er schnell in die Runde schaute, ohne jemanden anzusehen: „Das dauert, meine Herren, das kann Mooonate dauern.“ Dann setzte sich der Minister in Bewegung. „Wir sind auch nicht glücklich darüber, aber EG-Politik wird nun mal in der Bundeshauptstadt und nicht in Düsseldorf gemacht, wenn sie überhaupt von Deutschen gemacht wird. Aber wir wollen darüber die nichtmonetäre Hilfe nicht vergessen.“ Er blieb stehen und zeigte mit dem Finger fast feindselig auf den Vorsitzenden: „Der General hat die Hilfe der Bundeswehr angeboten! Ihre Landwirtschaftsexperten werden mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wichtig ist, dass Kupferoxid gespritzt wird, wenn das Holz aufplatzt! Und die finanzielle Sache werden wir gemeinsam schon regeln. Ich habe mich vor Ort von der katastrophalen, existenzbedrohenden Auswirkung überzeugt und danke Ihnen für Ihre Mithilfe und Ihre Informationen.“ Der Minister war an seinem Dienstwagen angekommen. „Wir treffen uns bei …?“ hier blickte er zu seinem Persönlichen, der hastig in den Unterlagen blätterte und dabei murmelte: „Ich glaube bei von Grein.“
„Also wir treffen uns dann später.“ Der Minister stieg in den Wagen und grüßte von innen mit der Hand. Die anderen Herren strebten auch ihren Autos zu. Wenig später bewegte sich eine motorisierte Kolonne über den Feldweg zu der Straße, an der das von Greinsche Hotel liegt.
14.
Alle amtierenden von Greins heißen „der junge Grein“, so auch der jetzige Inhaber des Quarzwerkes, eines Hotels und mehrerer Liegenschaften. Diese Tradition lehrt, dass in den Augen der Bevölkerung und der Familie selbst nur EIN bedeutender Vertreter der Familie existierte, der „alte Grein“. Dessen Tüchtigkeit und hohes Ansehen in der preußischen Verwaltung hatten ihm zum Adelsprädikat verholfen. Hartmut Grein, der „Alte“, war Ingenieur in preußischen Diensten, machte sich um die Erschließung des Eisenbahnverkehrsnetzes in den Rheinlanden verdient und hatte es im Alter von 44 Jahren zu Wohlstand und Einfluss gebracht. Sein Portrait hängt heute in der Empfangshalle des Hotels „von Grein“, umrahmt von den drei wertvollsten Dokumenten, die sich noch im Familienbesitz befinden, einer Patenturkunde, einer Urkunde über die Erhebung in den Adelsstand und einer reich