Mombasa. Jürgen Jesinghaus

Mombasa - Jürgen Jesinghaus


Скачать книгу
aus Handel und Gewerbe hatte ausrichten lassen.

      Der alte Grein hatte von den Rittern zu Oplyr, die im vorigen Jahrhundert weiter nach Süden an den Rhein gezogen waren, um dort mit Sekt und Basalt zu handeln, Liegenchaften am Vorberg sowie die Überreste der Burg Kemperstein gekauft. Kemperstein war im 18. Jahrhundert zerstört worden, nicht durch fremde Eindringlinge, sondern durch die Unachtsamkeit eines ihrer Bewohner. Die Burg war ausgebrannt, verlassen und verfallenen. Die Bauern, der Regen und der Wind, der Schnee und das Eis hatten fast alles abgetragen. Nur Reste der Schildmauer waren erhalten geblieben, als Hartmut von Grein die Ruine erwarb, die selbst die preußischen Restauratoren nicht hatten wiederherstellen wollen, obwohl eine Reihe alter Ansichten existieren, die alle in wenigstens einem Punkt übereinstimmen, der Darstellung des Bergfrieds, der architektonischen Prinzipien trotzend nach oben zu nicht schmaler, sondern breiter wurde.

      Leider lässt sich der flüchtig hingeworfenen Zeichnung des Malers Renier Roidkin, die im Greinschen Hotel hängt, nicht entnehmen, welche Bauweise dazu geführt hatte und schon gar nicht, welchem Zweck eine solche Bauweise gedient haben könnte. Der Eindruck selbst ist nicht zufällig, denn bei allen Darstellungen beträgt das Verhältnis der Durchmesser von Fuß und Krone ungefähr 1 : 1,3. Näheres dazu ist nachzulesen in der wissenschaftlichen Arbeit zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt, dem staatlichen Prüfungsamt vorgelegt von Ellen Finke: ‚Versuch einer Erklärung des konischen Turms zu Oplyr‘. Eine Erklärung, die Ellen Finke ausführlich behandelt und wohl auch selbst erfunden hat, ist die angeblich rebellische Haltung derer von Oplyr, die „alles auf den Kopf gestellt“ hätten, sogar ihren eigenen Turm, als Zeichen des Widerspruchgeistes, der das Unterste nach oben kehrt. Diese revolutionäre Gesinnung hätte sie ins 13. Jahrhundert datieren müssen, denn der Baubeginn rührt aus dieser Zeit, und von einem Burg-Umbau, der die Substanz verändert hätte, ist in den folgenden Jahrhunderten bis zur Zerstörung nichts überliefert worden. In keiner Schriftquelle wird der konische Turm erwähnt. Er scheint bei den Chronisten als etwas Normales gegolten zu haben. Mangels Beweisen musste Ellen ihre These vom Widerspruchsgeist der Oplyrer Ahnen fallen lassen. Sie tat es über elf Seiten hinweg. So hat Ellen die historische Wissenschaft zweimal bereichert, um eine These und um die Erkenntnis, dass diese These nicht stimmt (meistens werden für Bereicherungen dieser Art wenigstens zwei Wissenschaftler benötigt). Sie kaprizierte sich dann auf eine Erklärung, die nicht mehr den Turm selbst betraf (den es vielleicht gar nicht gegeben hat), sondern nur seine womöglich erfundenen Abbildungen. Der Zeichner des ältesten bekannten Bildes hatte durch missratene Striche – aus Nachlässigkeit oder Hintersinn – den Turm falsch wiedergegeben und alle anderen Zeichner danach, darunter Roidkin, hielten sich an diese eine Vorlage. Die Kopisten hätten demzufolge den Turm mit eigenen Augen gar nicht mehr gesehen. Daraus schließt Ellen (dieses Ergebnis brachte ihr die gute Note ein), dass der Turm bereits im 16. Jahrhundert zerstört worden war (eine solche Aussage findet sich tatsächlich in dieser Deutlichkeit sonst nirgendwo). Ob sie auch den Vorzug der Wahrheit hat, konnte Ellen nicht belegen. Ein Turm, der 1549 (dem Jahr der älteste Zeichnung) noch stand, wenn auch auf dem Kopf oder falsch gezeichnet, und ab 1599 nur noch als Kopie auftauchte, musste ein gewalttätiges Ende gefunden haben. Im Truchsessischen Krieg? Die Herren von Oplyr also doch Rebellen? Warum wird dieses gewaltsame Ereignis nirgends erwähnt? Sollte es totgeschwiegen werden? Wurde der Turm geschleift oder wie die Godesburg in die Luft gesprengt? Wurde alles (bis auf die Schildmauer) dem Erdboden gleichgemacht und gab es darum keine Ruine mehr, die einen Zeichner verlockt hätte, sie auf Papier zu werfen?

      Ellens Arbeit gelangte auf Umwegen an den Stadtrat von Oplyr. Sie fiel dem amtierenden „jungen Grein“ in die Hände, dem CDU-Ratsherrn, der in den 50er Jahren das Haus auf dem Grundstück der Burg Kemperstein in ein Hotel umgewandelt und eigenmächtig auf das Jahr 1248 datiert hatte. Der konische Turm Ellens regte ihn dazu an, einen Teil des Kellers im kitschig-romantischen Stil auszubauen. Von Grein verstand es, seinen Gästen glaubhaft zu machen, dass der Keller in „direkter Tradition“ zum konischen Turm zu Oplyr stehe, und keiner, selbst Ellen nicht, konnte ihm das Gegenteil beweisen, denn wenn es überhaupt einen Bergfried auf Kemperstein gegeben hatte (auch Ellen zweifelte daran nicht), dann musste er ungefähr dort gestanden haben, wo Grein seinen Keller hatte umgestalten lassen und wo man abends - laut Getränkekarte des Hauses – rassige Weine aus dem Wingert der „Grafen von Oplyr“ trinken konnte. Der Getränkekarte ist ferner zu entnehmen, dass die adeligen Herren von Oplyr ihr Gewerbe ausgedehnt und nahe ihren Basaltbrüchen einige Lagen hinzugekauft hätten – am Mittelrhein, mit garantiert trockenen Weinen. Trotzdem gab es hin und wieder Warnungen vor künstlich hergestellten Duftstoffen im Wein, obwohl keiner aus Oplyr (jedenfalls nicht, dass es bekannt geworden wäre) im Aufsichtsrat eines großen Chemie-Konzerns saß.

      Ellen Finkes Anstrengungen, das Geheimnis des konischen Turms zu lüften, regte Herrn von Grein oder seinen Geschäftsführer dazu an, im Hotel ein besonderes Gästebuch auszulegen, in das sich nur diejenigen eintragen duften, die einen möglichst witzigen oder ernsthaften oder fantasievollen Erklärungsversuch für den konischen Turm beisteuern konnten. In einer roh gemauerten Nische, beleuchtet durch einen versteckten Scheinwerfer, lag auf einem „altdeutschen“ Stehpult das Gästebuch aus. Obwohl die dilettantischen Versuche teils witzig, teils albern waren (aber keiner von ihnen ernsthaft), versetzte es Ellen in eine ständige Unruhe, jemand könnte eine naheliegende Erklärung liefern, die ihr bei der Abfassung ihrer wissenschaftlichen Arbeit entgangen war. Der konische Turm wurde bald zu einem festen Begriff und jeder, der glaubte, etwas zu seiner Erklärung beisteuern zu können, zählte sein Geld, zog das Beste an und führte seine Bekannte, seine Geliebte oder seine Gattin aus in den „Turmkeller“ des Hotels Grein, um seinen Geistesblitz im Gästebuch einzubrennen. Der Keller-Umsatz stieg. Der Turmkeller wurde Stammplatz für Heimat- und Traditionsvereine aus der Umgebung. Endlich trat die Volkshochschule an Ellen Finke heran (sie war inzwischen Lehrerin am Beethoven-Internat) und bat sie, ihre Theorie vom konischen Turm einem bildungsbeflissenen Publikum vorzutragen. Sie ließ sich von Grein, dem Hotelier, die Erlaubnis geben, alle Erklärungsversuche, die eifernde oder angesäuselte Gäste niedergeschrieben hatten, in ihrer Volkshochschulklasse zu besprechen und im Einzelnen zu widerlegen, wenn es einer Widerlegung bedurfte. Ellen Finkes gut besuchte Kurse (unter dem Rubrum „Kreatives Gestalten“) waren Seminare zur Produktion witziger und schriller Erfindungen. Die Kursusabschlussabende verbrachte man – selbstverständlich – im Turmkeller des Hotels von Grein.

      Über dem konischen Turm, den Spekulationen darüber und über der reichen Geschichte eines alten Dorfes (der heutigen Stadt Oplyr) und dem erstaunlichen Emporkommen einiger seiner Bürger sollte nicht unter den historischen Teppich gekehrt werden, was die Familie von Grein während der Nazi-Zeit gemacht oder unterlassen hat, auch nicht, wenn sie es gerne möchte, weil sie heute fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Gustav Hartkopf war zum ersten Mal 1944 mit dem jungen Grein bekannt geworden, der seine Mitwirkung beim Loskauf von Daniel Spielstein nicht leugnete, obwohl er damals gar nicht gewusst hatte, welche Person „freigekauft“ worden war (er kannte Daniel nicht). Nach dem Krieg tat der junge Grein so, als hätte er, bestenfalls ein Mitläufer, der ‚Organisation‘ nur deshalb angehört, um an einflussreicher Position das Gute zu bewirken, was er aus der Opposition heraus nicht hätte leisten können. Er wusste das Gute und sein Zustandekommen immer so zu schildern, dass ihm beinahe eine Auszeichnung als „Angehörigem des Widerstandes“ zuteil geworden wäre. Selbst aus der klugen Ablehnung wusste er sich ein Zeugnis seiner Bescheidenheit auszustellen! Darum war es ihm nicht schwergefallen, sich in die ehrbare Nachkriegsgesellschaft einzureihen, ohne einen Flecken auf der Weste, und darum erschien es ihm und allen Oplyrern selbstverständlich, dass nach jener Unwetterkatastrophe, dem Hageleinschlag, der Herr Minister für Raumordnung mit seinem Gefolge bei ihm einkehrte und bei keinem sonst. Hand aufs Herz. Einen Mord hätte man dem „jungen Grein“ wahrscheinlich nicht anhängen können, vielleicht nicht einmal die Mithilfe daran. Denn hatte er jemanden ans Messer geliefert? War seine Verschwiegenheit nicht im Gegenteil die Garantie für Daniels Überleben? Solche Erwägungen mögen es Gustav Hartkopf leichter gemacht haben, wegen des Verkaufs seiner Kiesfabrik in Verhandlungen mit ihm zu treten. Daniel allerdings war aus verständlichen Gründen nicht zu überreden, an den Verhandlungen teilzunehmen, obwohl er am besten das Datenmaterial kannte und besser über die wirtschaftliche Lage, die sich in den Zahlen manifestierte, Bescheid wusste als jeder andere.

      15.


Скачать книгу