Die Gegenstimme. Thomas Arzt
Thomas Arzt
Die Gegenstimme
Roman
© 2021 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien
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Umschlaggestaltung: buero 8 / Thomas Kussin
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer
ISBN ePub:
978 3 7017 4652 1
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1736 1
Inhalt
1
Geht der Bleimfeldner Karl, geht er die Ortsstraße hinan, vom Bleimfeldnerhaus, wo der Vater ein Schuster und er schon gar nicht mehr wirklich daheim, weil er doch lang schon fort. Ein Studierter, der Bleimfeldner Karl, aber trägt das Zuhaus noch in sich, samt Schustervater und Näherinmutter, kleinbürgerlich die Sippschaft allesamt. Ganz bist ja nie weg, auch wennst nimmer da, denkt sich der Karl und spürt so etwas wie eine Verwurzelung, erstmals vielleicht.
Jetzt muss er an das Gespräch von gestern Abend denken, als er angekommen ist. Die Mutter beim Tisch in der Kuchl, weißt, Karl, ist halt nimmer wie früher, und sie hat dabei zum Fenster rausgeschaut, wo drüben beim Platzer die Dorfjugend auf ein Bier, den Hitlergruß ganz artig und musterhaft vorführend, lächerlich, denkt der Karl. Die gleichen Burschen haben vor Kurzem noch artig und musterhaft den Herrgott beschworen. Nimmer wie früher, wiederholt die Mutter, und setzt fort, weil wichtig ist, egal was kommt, die Familie. Schaut in die Runde, mit Mutteraugen, war da eine Angst? Angstmutteraugen schauen in Angstvateraugen. In Angstschwesterhänden blitzt ein Messer, willst ein Brot, Karl?
Egal also was kommt, denkt sich der Karl, den Abend von gestern im Kopf, und geht jetzt schon auf Höhe Baronteich, da ist einst die erste seiner Schwestern, lang lang ist’s aus, die ist da hinein, in der Nacht, und nimmer raus. Das Kind konnt nicht schwimmen, eine Tragödie. So kommt ihm seine Verwurzelung recht schwerwiegend vor, und schwer muss er atmen. Als würden’s mich nach hinten ziehen wollen, die Heimatwurzeln, mich festhalten: Tu’s nicht! Palmsonntag, April 1938, und der Ort ist geschmückt.
Da stellt sich wer in den Weg, servus Karl. Und der Karl schaut rein, ins Gesicht von der Kern Cilli. Gar nicht bei der Mess, Karl? Die Kern Cilli, einen Kopf kleiner, aber heut in einer Aufgerichtetheit. Hab gehört, hast was Dummes vor, hast doch nix Dummes vor, bist doch nicht dumm, und die Worte haben was Anmaßendes, heut redet die Kern Cilli, als würd sie in die Höhe schießen, weil sie ja die Tochter vom neuen Bürgermeister, der ja auch ein Hochgeschossener ist, mit Parteigewalt, so ist die Cilli mitgewachsen, mit Vater, Familie, der gesamten Gemeinde: Und eine nie dagewesene Größe spricht aus ihr. Heut ist ein Freudentag, Karl, den wirst doch nicht verderben wollen. Wem sollt er hier was verderben? Wen wollt er denn hier mit reinstürzen, ins Verderbliche? Der Mensch verdirbt sich sein Leben schon ganz von selbst, entgegnet der Karl ohne Umschweif, als hätt er sich die Worte zurechtgelegt. Hat sie’s gehört, die Bürgermeistertochter? Hat sie überhaupt die Ohren für einen klaren und nüchternen Gedanken? War doch immer die Erste, die in Euphorie beim Faschingsball sich selbst vergessen wollt und die Burschen einen nach dem anderen verschlingen hätt können, oder ist er jetzt nur eifersüchtig? Hätt der Karl gern was von dieser euphorischen