Die Gegenstimme. Thomas Arzt
Sesta, Skoumal, Mock, Wagner, Pesser, Binder, Sindelar, Stroh, Hahnemann. Ersatzleute Zöhrer, Marischka, Laudon, Neumer.
Na, alles gut, Seppl? Der Herr Bürgermeister sieht heute noch aufgeplusterter, fast wie ein Auerhahn aus, mit dem Federbüschel und den Orden am Revers. Ja, alles gut, kommt’s wie von selbst aus dem Seppl, doch dann räuspert er sich und schluckt, was ist? Was hat er, der Seppl? Warum trinkt er denn heimlich den Schnaps in der Früh? Sie haben zum letzten Mal gespielt. Der Kern verharrt in einer Verwirrtheit, was der Seppl jetzt wieder redet, will’s schon abtun, da meint der Nagl, der Seppl mache sich nur Sorgen um den österreichischen Fußball. War doch das letzte Spiel der Nationalelf. Ja, und was für eins! Die Deutschen hätte man direkt niedergeschossen. Der Bürgermeister Kern starrt auf den Krumm, weil doch vom Niederschießen der Deutschen keine Rede sein darf, gerade heute nicht, und sagt halb streng, halb salopp: Na, da hat der Gemeindesekretär wohl seinen Altpatriotismus nochmals ausleben wollen, sei’s drum. Heut wird ganz neupatriotisch das Kreuz am rechten Fleck gemacht. Und da legt er dem Seppl die Hand auf die Schulter, mit einer sonderbaren Schwere.
Ist das die Schwere seines Amts? fragt sich der Seppl. Wie leicht fällt’s, wenn sich ständig alles dreht, im Politischen? Da war grad eben noch das eine zu tun und jetzt wieder doch nicht, und der Herr Bürgermeister war grad eben noch bei der einen Partei und jetzt wieder doch nicht. Hat sich da gut durchmanövriert, so hat’s die Hanni gestern unter der Hand gesagt, als nur noch sie und der Seppl da waren, sie waren die Letzten und haben sogar die Fahnenstange noch poliert, bis die Sonn untergegangen ist, aber behalt’s für dich, Seppl, darfst nicht allzu viel mehr offen sagen. Der Seppl sagt’s trotzdem, als er sich am Dach vom Amt festkrallt, der Fahnenstange zum Glanz verhelfend: Ist ein Schlitzohr, der Kern, weil ist doch nach Bayern. Spricht’s aus, was alle wissen, hat sich doch der Kern in den letzten Jahren irgendwann aus der alten Partei heimlich geschlichen, auch wenn er kurz davor noch groß am Redenschwingen war, fürs Vaterländische, da ist er plötzlich leiser geworden, hat sich mit dem Herrn Schwager auf einige Fahrten ins Nachbarländische begeben, was tust im Bayrischen, Kern? fragt unschuldig die Ortsjugend beim Bier. Und er sagt immer nur, fast als wär’s ein Volkslied, es g’hört zsamm, was zsamm g’hört, und außerdem sei es doch ein schöner Landstrich, man wird doch auch mal fortfahren dürfen. Zurückgekommen ist er als ein Nazi. – Sag das nicht so, Seppl. Aber die Hanni weiß das doch auch, ist doch nicht dumm. Keiner im Dorf hier ist so blind, das nicht gesehen zu haben. Hat eben den Zeichen der Zeit als ein erster nicht nur nachgeschaut. Ist ihnen nachgegangen. Nachgetrottelt. – Geh, Seppl. – Wenn’s wahr ist! Und wie dann der Abend vom 11. März gekommen ist, da ist er mit seinem Wagen hoch zum Altbürgermeister von der Altpartei, auf den Bürgermeisterhof, hat sich noch Verstärkung mitgenommen in seinem Wagen, weil sollst doch immer in der Überzahl, das hat er wohl dort draußen gelernt, in Bayern. Das Überraschungsmoment der Überzahl gegenüber der Unterzahl, die eigentlich, wär sie nicht überrascht worden, die Überzahl gewesen wär, wobei man eine Eigentlichkeit der Mehrheit ja immer nur schwer erkennen kann, was denkt sie denn wirklich, die Mehrheit? Die Hanni schweigt. Was denkt denn die Hanni im Herzen? Ist sie Marxistin? Revolutionärsozialistin? Erzkatholikin? Deutschnationalistin? Die Wörter fallen im Hirn vom Seppl durcheinander, so viel Geschrei in den letzten Wochen. Er weiß nur, wie’s dann weitergegangen ist, dass nämlich das Schlitzohr von Kern in der Tür vom Altbürgermeister gestanden ist, aufgeplustert und bewaffnet, zieh dir was drüber, ist was zu tun, unten auf der Gemeinde, steig ein. Hätt der Altbürgermeister ihm, dem Aufgeplusterten, nicht einfach die Tür ins Gesicht? Hätt er ihm doch eine drüberdreschen müssen, sagt der Seppl zur Hanni, aber beide wissen, dass allen neuerdings eine absonderliche Furcht im Nacken sitzt. Welche das genau ist, das weiß keiner so sicher, ist nahe der Furcht, die man dem Herrn entgegenbringt, fast in einer Demut. Wir konnten halt nicht aus unserer Haut, wird’s hernach geheißen haben.
Am End ist der Altbürgermeister jedenfalls am Gemeindetisch gesessen, umlauert von den Neuüberzeugten, die ihm ein Dokument hingelegt haben, ab morgen wachelt da ein neuer Wind. Tu ned lang um und setz deinen Haxn drunter. Zögert der Altbürgermeister? Ist er erleichtert, dass alles so schnell geht? Oder trägt er auch schon eine andere Überzeugung unterm Mantel? Er lässt’s geschehen. Und der Kern löst den Gemeinderat auf und setzt sich seine besten Freund ins Amt. Und behält dann doch auch die, die nötig sind, damit alles am Laufen, so ist’s ja nicht. So eine Gemeinde muss ja auch, wenn sie neu besetzt ist, laufen. Und der Seppl spürt in seinem Denken immer schwerer nun wieder die Neubürgermeisterhand, sie drückt ihn runter, setzt’s euch jetzt.
Dann wird das erste Kreuz gemacht. Vor allen anderen macht er’s, der Kern. Dass es jeder sieht. Faltet den Wahlzettel, gibt ihn ins Kuvert, das Kuvert in die Wahlurne und den Schreibstift weiter an den nächsten, das ist der Krumm. Auch er, Blicke treffen sich, es muss nicht viel geredet werden, tut es offen, kein Wahlgeheimnis hier. Für den Führer. Gibt den Stift weiter. Das ist eine sonderbare Art, diese neue Politik. Als würd man das eigene Denken abschaffen. Und wieder, für den Führer, Blicke der Genugtuung, oder ist’s diese absonderliche Ehrfurcht? Was würd passieren, wenn man nun den Tisch verlassen würd, den Stift zerbrechen, draufsteigt am Boden, sich diesem neuen Gleichklang verweigert?
Jetzt ist der Seppl an der Reihe, vor ihm das Papier, von draußen hört er die hereindrängenden Stimmen, das ganze Dorf. Vor die Kommission soll getreten werden, völlig unverhohlen wird das treue Volk sein Ja in aller Öffentlichkeit. Seppl, gemma. Doch der Seppl zögert. Das ist ihm zuwider. Er steht auf, was willst? Nimmt das Papier, den Stift, so wie’s immer gemacht worden ist. Routine ist wichtig, sagt er, will hinter den Vorhang, den er mit der Hanni gespannt, wie auch bei den letzten Wahlen schon, wann waren die? Mach’s doch gleich hier, verdammt. Ist da schon eine Wut in den Worten? Mit Vehemenz will man ihn am Tisch halten. Er reißt sich los, ist immer das Wahlgeheimnis, bei jeder Wahl ist das Geheimnis, so gehört’s, seit dem Anfang, wo man abgestimmt, und so zitiert er aus dem Stehgreif Sätze der Verfassung, das sagt die Verfassung. Seppl, was zählt die Verfassung? Ist aber auch die Verordnung, Herr Bürgermeister, nimmt er sich das tatsächlich heraus, der Seppl, konfrontiert den Bürgermeister? Der steht ihm nun gegenüber, wird ernst in seinem Schauen, der Seppl hebt das Kinn und sagt, was er zu sagen hat, was er auswendig gelernt: Die Stimmzelle ist derart herzustellen, dass der Stimmberechtigte in der Zelle unbeobachtet von allen anderen im Stimmlokal anwesenden Personen den Stimmzettel ausfüllen und in den Umschlag geben kann.
Stille im Raum. Lass dich nicht zu weit raus, Seppl, der Bürgermeister Kern räuspert sich. Und der Seppl setzt nochmals an, die Stimmzelle ist derart herzustellen, dass der Stimmberechtigte … – Schon gut, Seppl. Es ist die gewohnte Milde zurück, mei, der Seppl ist der Seppl. Und der Bürgermeister weiß doch selbst am besten, was drinsteht, in der Verordnung, die ihm die neue Regierung in Wien zukommen hat lassen. Eine freie und geheime Wahl. Dann lass ihn halt. Der Nagl, der schon halb gestanden ist, setzt sich wieder, der Krumm schaut weg, irgendwo runter (neuerdings wird Blicken einfach ausgewichen). Der Bürgermeister hält dem Huber Seppl den Vorhang auf, bitt’schön der Herr. Solang’st weißt, was sich g’hört.
Was sich gehört, hat er genau im Kopf, der Seppl, er weiß, dass in anderen Gemeinden schon Leute abgeholt worden sind, dass man die zu laut Gewesenen weggesperrt hat, damit sie keine unerwünschte Propaganda verbreiten, und dass einer von der falschen Art sowieso nicht wählen darf, das weiß er auch (er fürchtet den Moment, da einer kommen wird und sie ihm abspricht, die Fähigkeit zur Willensäußerung). Umso eigenwilliger zieht er den Vorhang hinter sich zu, noch den Spott im Ohr: Sag mal, Seppl, was ist noch mal ein Jud? So haut ihm der Edelbauer noch eine Provokation in die Wahlzelle rein, die nur aus einem Theatervorhang aus dem Bühnenfundus des Dorfes besteht, und im Automatismus seiner Routine wird der Seppl zur verlässlichsten Auskunftsperson seiner Gegenwart, erstens, Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt. Als volljüdisch gilt ein Elternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen Religionsgesellschaft angehört hat. Zweitens, als Jude gilt der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende jüdische Mischling, der, Zwei, Punkt Eins, am 16. September 1935 der jüdischen Religionsgesellschaft angehört hat oder danach in sie aufgenommen wurde, oder