Die Gegenstimme. Thomas Arzt
will er sich zu einer Dummheit hinreißen lassen? Wer reißt hier wen? Ist doch eine ausgemachte Sach, Karl, der Anschluss ist lang schon passiert, und da lacht die Kern Cilli, fast freut sich hier ein Mensch ganz ohne Vorbehalt, sie freut sich wirklich, denkt der Karl. Da wird doch auch der letzte kritische Geist sein Einsehen haben müssen, sie schubst den Karl, war das liebevoll? Sorgt sie sich um sein Wohlergehen? Doch der Karl merkt das alles gar nicht, ist beschäftigt mit sich selbst, denn er schaut in sich hinein. Sieht sich als schmollenden Jungen, der mit Stimmbruchstimme sagen will: Seht her, der Karl kann, was ihr nicht könnt. Ist es also Trotz? Übermut? Oder ist hier ein Spieler unterwegs, erstmals womöglich etwas zu riskieren?
Er drängt sie zur Seite, was bist denn selbst nicht bei der Mess? Und geht weiter. Entschlossen, das Dumme zu tun, das für ihn das einzig Denkbare, für den Geschichtsstudenten aus Innsbruck. Vor zwei Jahren hat er noch gemeint, es reicht im Vergangenen zu graben, doch tut’s das noch? Wie sehr steckt das Vergangene wieder im Gegenwärtigen? Und wie wenig Gegenwart bleibt, wenn die Geschichte uns überrollt? Geh, Karl, redest wieder so oberlehrerhaft, kannst dir dein Reden in deinen Studentenarsch, und er kriegt einen Tritt nun von der Cilli, von hinten, dann läuft sie weg, das Lachen bösartig angeschwollen, es wird bald aus allen Häusern hier so gelacht werden. Und er muss sich gerade halten jetzt, der Karl, der nicht sonderlich von der Statur, der wenig an Muskelmasse, schwach auf der Brust. Hätte lieber Pfarrer werden sollen, wie der Vater es vielleicht gewünscht: Die was im Kopf haben in der Familie, die sollen ins Kloster, da haben’s ein Auskommen und die Familie ein Ansehen, aber was ist der Geschichtsstudent im fernen Innsbruck? Wie kann er sich’s Leben leisten? Ist der Vater stolz auf den Sohn? Und macht der Sohn dem Vater, der hier im Dorf ein angesehener Mensch, nicht eine Schande heut? Kaum zurück aus der Stadt, mit seinem städtischen Gang, seiner städtischen Bekleidung, fast schon fremd, keiner mehr von uns! Ja, wer sonst könnt das Dorf heut hier verraten, wenn nicht der Karl?
April 1938 und der Zurückgekehrte ist der letzte Uneinsichtige. Denn seit dem sonderbaren Licht im Jänner haben’s hier im Dorf doch alle schon gesehen, eine Vorahnung war’s, so sehr, dass die Ahnenden bereits überzeugt: Die neue Zeit ist da. Hat gestrahlt, das Licht im Jänner, so rot, als ob ein Feuer über den Feldern. Sind rundum in den Gemeinden die Einsatzkräfte sogar ausgerückt, um den Brandherd zu suchen, war aber kein Brand. Ein Sonnenphänomen. Später wird’s ein Flächenbrand der verführten Herzen gewesen sein. Und vom Kalvarienberg aus hat man den besten Blick gehabt, alle sind’s gestanden, haben sich’s angeschaut, was als Verheißung bald, als Prophezeiung. Der Führer leuchtet uns. Das hat so sehr die Augen aller verdreht, dass es nicht lang gedauert hat und die Naziburschen haben am Hochkogel ein Feld ausgebrannt, sodass von weither das Hakenkreuz. Haben das Hakenkreuz ins Feld rein. So hat es die Mutter am Vorabend erzählt. Gebrandmarkt mein Dorf, das denkt der Karl noch heut. Und alle lachen mich aus. Was zählt eine lächerliche Stimme? Der Gemeinderat ist an dem Tag, an dem der Karl die Ortsstraße raufgeht, schon aufgelöst. Der Altbürgermeister abgesetzt, wie konnt das so ohne Gegenwehr?
Wo war die Gegenwehr? Das hat er seine jüngere Schwester gestern vorm Schlafen gefragt, die Friedl, bei einem Schnaps vor dem Haus, und die Friedlschwester hat nur gemeint, verbrenn dir nicht die Zung. Er hat sich in einen Wahn geredet, heißt es später, hat da wohl die Welt retten wollen, hat halt gedacht, er tue was Gutes. Aber das Gute, Karl? Ist es nicht manchmal fehl am Platz? Bist 22, Karl. Willst auch ein Leben noch haben. Wenn der Jubel hierzuland schon in der Übermacht, was zählst da du als Einzelner? Und dann ist sie schlafen, die Friedlschwester. Aber wo stehst denn du, auf welcher Seit? Wollt er ihr noch nachrufen. War aber das Schweigen schon zwischen ihnen. Die Nazis hab ich nie gemocht, wird sie später immer sagen, weil die doch gegen Jesus waren.
Nun steht er beim Friedhof, unterhalb der Gitter, da hat sich der Hubertbruder einmal fast aufgespießt, als er wieder zu viel gesoffen, der Jüngste von ihnen, Sorgenkind, schwarzes Schaf, hätt er sich fast derrannt. Recht g’schieht ihm, dem Unruhestifter. Dagegen war der Karl immer der Verlässliche, der hat was gemacht aus sich. Und es gibt sie ja doch, die Sätze, die von der Hochachtung erzählen, die ihm von der Familie, alle Achtung! Der Karl! Und jetzt wird der Fall noch tiefer, der Anstandssohn, wie konnt er nur! So schaut er jetzt rauf, zum Kloster. Die beiden Türme, darunter die steil ansteigende Schotterstraße, rechts lugt das Volksschulgebäude hervor. Er könnt diesen Blick mit geschlossenen Augen zeichnen, weil er hier immer rauf hat müssen, der kleine Karl mit der großen Tasche unterm Arm, die Schläg schon spürend, die er vom Herrn Oberlehrer, die tun dir gut, Karli, nur so wirst dir ein Rückgrat zulegen. Hat er es den Oberlehrerschlägen zu danken, dass er als ausgewachsener Mensch nun seine erste wirkliche Dummheit vorhat? Will mich nicht mehr dreschen lassen, wimmert der kleine Karl unter der Tuchent. Wo beginnt die Gegenwehr? Wie kann er aufbegehren, im schmächtigen Körper, der zur Anpassung erzogen? Oder wächst die Courage erst dort, wo die Schläge des Daheims schon hinter dir? Die Glocken läuten, reißen ihn aus den Gedanken. Neun ist’s. Und alle sitzen’s in der Mess. Alle, die sich noch hintrauen, in die Mess. Seit die Nazis hier das Sagen, musst dir’s gut überlegen, mit deiner Religion.
Das katholische Dorf hört dem katholischen Herrn Pfarrer zu, der spricht jetzt von der Kanzel. Eine schwere Zeit, sagt er, eine Zeit, die den Glauben braucht, sagt er, die das Vertrauen braucht, und er liest aus dem Evangelium. Eine Feigheit nur, wo die Worte so weit weg von einem selbst ausgelegt werden, dass einem der Arm zu kurz, um das Gesagte zu begreifen. Was gerne Auslegungssache heißt, nennt der Karl Lüge. Das will seine Schwester nicht hören. Der Kirche sind ihre gläubigen Hände gebunden. Jetzt singt ein Chor in einer weit entrückten Schönheit. Karls Mund geht ungewollt auf, als ahmte er nach, was im Kirchenschiff drinnen nun Seelen trösten soll. Und in großer Nervosität tritt er in den Stiftshof. Geht die Mauer ab, die Finger krallen sich in Kalk, er schaut zwischen die Gitter der Fenster, sieht die spaltbreit offene Tür zum Konvent, da huscht er hinein, was treibt ihn?
Jetzt schleicht er durchs Halbdunkel, hört drinnen im Kirchenschiff das Gebet. Zittrig lehnt er da, riecht den alten Staub. Da war er als Gymnasiast. Hat auf Lateinisch das Vaterunser heruntergeleiert, auf Griechisch die Bibel studiert, im sogenannten Studentenhof seine Runden gedreht, womöglich auch das Regiment harter Jahre am Knabenkörper erfahrend, und somit die Erkenntnis, dass schon lange vor den Hakenkreuzen am Hochkogel den starken Händen gehuldigt worden ist, wann hat’s begonnen? Wer ohne Narbe ist, werfe den ersten Stein. Und voll Zorn schlägt der Karl nun in die Mauern, es bröckelt, ein bislang ungehörtes Aufbegehren, wir wussten doch alle, was wir tun. April 1938, ein Bekenntnis des Frevels.
Er flieht ins Freie, braucht Luft. In so einem Klostergang atmet man die Jahrhunderte, da rast die Geschichte am inneren Auge vorbei, marschiert über dich hinweg. Da werden Bauernkriege geführt und Kaiserreiche verheiratet, Aufrührer geköpft und Hochzeiten am Baronteich gefeiert, ein Großaufgebot damals für den Baron, und das ergebene Lehnsvolk winkt mit Blumen, da war der Karl noch nicht auf der Welt, aber erzählt hat man’s ihm, tausendfach. Was für ein Märchen, Karl. – Waren’s dieselben Blumen, Mutter, die du nun deinem Führer? Und der Vater schustert die Kriegsmontur zurecht, der Hubertbruder rennt kopfüber in die nächste Selbstüberschätzung und die Friedlschwester schmiert, panisch das Messer, unheilvoll der Blick auf die Madonna im Eck, das Brot, jetzt iss doch was, Karl, schaust schlecht aus, vielleicht tut das Denken einem nicht so gut wie der Glaube. Sie betet jetzt sicher für ihn.
Nun geht er schnell, rennt vorbei an der Außenmauer, durch den kleinen Tunnel am hinteren Stiftstrakt, den Kreuzweg hoch, Station für Station. Oben steht eine Bank vor der Kapelle, da wird er übers Tal blicken, das ihn immer noch kennt. Es muss ihn kennen. Er ist kein Fremder. Er tut es, weil er eben einer von hier.
2
Steht der Huber Seppl, steht der Seppl am Eck hinter dem Gemeindeamt, genehmigt sich einen Schluck aus der Flasche. Steckt die Flasche schnell weg, unterm Janker, damit’s keiner sieht. Weiß er doch, der Huber Seppl, dass am Wahltag nichts Geistiges, bis am Abend nach Wahlschluss nichts vom Geistigen, ist ja nicht blöd, der Seppl, denkt der Seppl, und denkt zugleich,