Die Gegenstimme. Thomas Arzt
diesmal oft nur sinnloses Gerede, abseits von der Wirklichkeit, wie sie ist. Und für den Seppl ist die Wirklichkeit eine andere als für die meisten, weil der ist schon besonders, der Seppl, drum denkt er sich auch, im Grund tät grad jetzt vor so einer enormen Wahl das Geistige in hochprozentiger Dosis am besten, so denkt’s der Seppl, lacht mit dem hochgeistigen Gedanken und dem Schnaps, der den Hals runterbrennt, in sich rein und schaut raus, aufs Tal, das sich öffnet unter ihm.
Schlängelt sich der Fluss dort im Tal in der Au, durchs Sumpfgebiet, dahinter heben sich leicht die Hügel an, bewaldet, und wenn er sich anstrengt, der Seppl stellt sich auf die Füß, die Zehenspitzen, dann lugt doch irgendwo auch der Traunstein. Nein, nicht von herunten, Seppl, denk doch nach, musst rauf auf den Hügel hinterm Kloster. Da oben, wo die Aussicht dich bei guter Wetterlage bis zur Landeshauptstadt schauen lässt, sogar darüber hinweg, als würdest schon die Grenz nach Böhmen, da am Hügel oben schaust auch auf den Felsen, die Traunsteinspitze vom Salzkammergut. Auch der Priel aus dem Stodertal glänzt mit seinem Schneefeld heraus. Und davor freilich immer, mit ihrer schroffen Nüchternheit, die Kremsmauer.
Nüchternheit tut heut nicht gut, denkt der Seppl und nimmt einen zweiten Schluck, zieht die Jacke fest zu, als würd’s ihn frösteln. Sollt wärmer werden, das Wetter, hat’s geheißen, die Zeitung schreibt von allmählicher fortschreitender Besserung, wenn auch der April, wie er eben ist, in einer enormen Wechselhaftigkeit. In der Nacht hat’s sogar einen Frost gehabt, das wird auch heut erwartet, schreibt die Zeitung. Und der Seppl liest die Zeitung genau. Will am Laufenden sein, damit ihm keiner was, niemand soll ihm was erzählen. Ist doch nicht dumm, der Seppl, wiederholt er nun mit den eigenen Lippen und tut’s so, als müsst man’s merken, wie sehr es ihn schmerzt, das Wort von der Dummheit, das ihm anhaftet.
Der Seppl ist eben der Seppl. Und die Leut sagen es mit einer Milde, er sei eben anders. Schon als Kind hat man ihm diesen Satz gesagt, dann wird’s schon stimmen, hat er irgendwann selbst gesagt. Aber ist er deswegen verrückt? Jetzt muss er lachen, laut, aus einer Plötzlichkeit raus, der geistig Zurückgebliebene mit dem Hochgeistigen unterm Janker, lacht am Wahltag übers Tal hinweg, warum? Die Reflexe meiner Muskulatur sind unergründlich, denkt er als Antwort. Das Lachen ein bitteres bald, es verzerrt seine Wangen. Das Verrückte lacht auf seine eigene Weis. Bin nicht verrückt, sagt er dann immer. Ist eine Entrückung. Der Seppl einfach etwas neben der Spur. Musst drum nicht alles auf die Waagschale legen, beim Seppl, nicht für bare Münze nehmen, seine Wort. Die Zurechnungsfähigkeit ist so eine Sach. Auch wenn er fleißig und auch arbeitsfähig und drum auch angesehen und keiner, der am Rand, der Seppl, nein, der ist mitten im Dorf, da kennt man ihn, da lacht er einen an, ein verlässlich freundliches Gemüt. Mei, der Seppl. Nur weil’s die Geburt nicht so gut gemeint hat mit ihm. Das ist aber jetzt kein Grund hierzuland ihn ins Abseits zu drängen. Ist ein gutes Land, hierzuland. Und überhaupt muss man von Glück reden, dass der Seppl das alles durchgestanden, dass er nach der Geburt durch den Winter, als ein Siebenmonatskind, allerhand. Einen Lebenswillen, der Seppl. Im Ofen ist er gelegen, die Mutter hat ihn zum Feuer, das ihn warmgehalten hat, damit der Junge ausgebacken wird. So hat man’s gemacht, und so ist was geworden aus ihm. Ein Gemeindeangestellter. Wenn auch die Leut immer mit diesem Seufzen, sobald sein Name fällt, im Reden, das merkt er schon, der Seppl. Der ist eben nicht ganz hell! Derweil kommt’s ihm übermäßig hell vor, die Welt, grad heut wieder, grad jetzt. Eine Geblendetheit erwischt den stillen und bedächtig nun dreinschauenden Schnapstrinker hinterm Gemeindeamt, weil ein Sonnenloch hat sich aufgetan, unerwartet, mitten in der Nordwetterkammbewölkung, ist das nun die allmähliche Besserung?
Wo steckst? ruft forsch eine Männerstimm aus dem Amt raus, der Nagl bückt sich vor, es geht gleich los. – Ich komm schon, sagt der Seppl, sein hochprozentiges Geheimnis wahrend. Was treibt er denn, der Seppl, ruft ein anderer, der Gemeindesekretär Krumm redet neuerdings in einer Akkuratheit, so als würd ein Regiment antreten zu einem außerordentlichen Marsch, aber wohin? Kontrollier nur noch das Blumengehänge, so sagt’s der Seppl, damit er noch einen heimlichen dritten Schluck. Der Seppl kontrolliert noch das Blumengehänge, wiederholt’s der Nagl dem Krumm, der wiederum zurückbrüllt, das Gehänge sei ein Kontrolliertes, das hätt schon die Hanni heut um sechs. Außerdem muss nach hinten raus kaum was sichtbar sein vom Dekorativen. Aber grad das, meint der Seppl, sei ja das Versäumnis, und er steckt weiteren Blumenschmuck provisorisch in die Girlanden, soll doch auch ins Tal raus strahlen, die Gemeinde. – Da hat er recht, sagt jetzt der Edelbauer, der heut ein Beirat ist und der den Vorschriften, die neuerdings in einer ungewöhnlichen Schnelle und auch Präzision ans Amt herangetragen werden, mit äußerster Gewissenhaftigkeit zu folgen gedenkt, Vorschrift ist Vorschrift, so hat’s der Seppl noch genau im Ohr, das Protokoll von vor drei Wochen: Großbeflaggung hat zu erfolgen, wenn ein hervorragendes Mitglied der Reichsregierung oder der Reichsparteileitung zu einem offiziellen Besuch anwesend ist und eine offizielle Ansprache oder Rede halten wird. Großbeflaggung und Großschmuck erfolgen, wenn der Reichskanzler selbst anwesend ist und spricht. Unabhängig von den vorbezeichneten Anlässen gilt in der Zeit vom 6. April 1938 früh bis 10. April 1938 abend für das ganze Landesgebiet Österreichs Großbeflaggung und Großausschmückung.
Seither haben alle im Ort damit zu tun, dass die Herausgeputztheit der Anordnung von oben entspricht, wobei gar nicht klar ist, wo dieses Oben neuerdings sein soll, jedenfalls verweist die Bezirksbehörde auf die Landesbehörde und die wieder auf die Bundesbehörde, die doch immer das letzte Wort gehabt hat, die aber, und so viel ist dem Seppl klar, nun auch nur mehr die Worte nachspricht, die wiederum von einem anderen Oben heruntergesendet worden sind, oder eigentlich von draußen herein, von B erlin nämlich. So läuft hier neuerdings ein jeder wie verrücktfür Berlin.
Der Seppl hat die ausgebrochene Ausschmückungshysterie mit einem Achselzucken hingenommen, ist wie an jedem Tag davor aus dem Bett und hat sich streng an seine eingeübte Routine gehalten. Kein Grund, nun alles auf den Kopf zu stellen. So sagt er’s und sagt auch nicht Heil, wie’s neuerdings gesagt wird, sondern noch sein Grüß Gott. Das Grüß Gott ist seine Routine, wie das Waschen des Körpers und das Anlegen der Kleidung nach dem Aufstehen. Wie die Kniebeugen, er macht zwanzig jeden Morgen, das hat ihm die Hanni als Übung beigebracht, um seinen Körper besser in den Griff zu bekommen, und wie das Lesen der Zeitungen von der Trafik unten im Bleimfeldnerhaus, Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Illustrierte und Spezialmagazine, Motorsport, Fußball. Und da vor allem das Auswendiglernen der Namen der österreichischen Fußballnationalmannschaft, die neuerdings eine deutschösterreichische ist. Platzer, Schmaus, Sesta, Skoumal, Mock, Wagner, Pesser, Binder, Sindelar, Stroh, Hahnemann. Ersatzleute Zöhrer, Marischka, Laudon, Neumer.
Schieb deinen Arsch herein, Seppl, und die Stimme jetzt ist die bestimmteste, der Seppl weiß, er hat zu spuren, wenn der Herr Bürgermeister ruft. Er schleicht, so schnell er kann, hinterm Gemeindeamt herum, steckt seine Schnapsflasche seitlich an der alten Mauer ins Gebüsch, sein geheimes Depot, tritt in einer rasch vorgespielten Adrettheit auf die Ortsstraße raus, wo schon allerhand Leut sich versammelt haben, alle den Sonntagsanzug angelegt, das fesche Kleid, die Haare hübsch gemacht, während die Kirchglocken läuten. Heil Hitler, grüßt ihn der Förster in einer übermäßigen Lautstärke und einer Aufmachung, als würd der Kaiser heut erscheinen wollen. Der Seppl duckt sich, als hätt er’s nicht gehört, denkt nur, der Förster, der doch die Wälder vom Kloster betreut, sollt lieber bei der Mess sein, grad heut, ist doch ein Palmsonntag, stattdessen will er als ein Vorzeigenazi gelten, da schallt’s erneut, hörst Seppl, heil Hitler hab ich g’sagt, und der Seppl spielt sein dümmliches Lachen vor, damit man’s ihm durchgehen lässt, dem Verrückten, grüß Gott, lieber Förster, grüß Gott.
Überm Gemeindeamt hängt eine Aufschrift, der Seppl schiebt seinen Kopf drunter durch, da steht’s, weswegen hier alle heut erscheinen werden: Wir stimmen für Deutschland. Drinnen im Amt hat sich die Runde versammelt, denn noch ehe das Volk hereindrängt, in die kleine Stube, haben die Bediensteten selbst ihre Stimme abzugeben, weil, so sagt’s jetzt der Herr Bürgermeister, die Gemeinde geht geschlossen voran. Stolz schaut da jetzt aus den Augen, vom Gemeindesekretär Krumm, vom Beirat Nagl, vom Beirat Edelbauer, oder ist’s was anderes? Der Seppl hat gelernt, nicht immer jedem Anschein sogleich zu glauben, oft