Die Mauer. Jürgen Petschull
16 Uhr, unterzeichnete Walter Ulbricht als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR die Befehle für die Sicherungsmaßnahmen an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu Westberlin. Er übergab sie an Erich Honecker, der als Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR im Auftrage des Politbüros des Zentralkomitees der SED die politische und organisatorische Vorbereitung und Durchführung der Sicherungsmaßnahmen leitete.”
Mit dieser Befehlsübergabe von Ulbricht an Honecker beginnt erst die Abriegelung Ostberlins gegenüber Westberlin und dann der Bau der Berliner Mauer.
Der Westen ahnt von nichts. Politiker, Militärs und Geheimdienstler – von denen es laut DDR-Propaganda im „Agentennest Westberlin” nur so wimmelt – haben keine konkreten Hinweise über das, was geschehen wird. Zwar wird überall zwischen Berlin und Bonn gemunkelt, daß irgendwann irgendwas passieren wird – aber niemand weiß was und wann. Bonns Gesamtdeutscher Minister Ernst Lemmer, von der DDR stets als „der Spionage-Minister” tituliert, tappt völlig im dunkeln. Er informiert die Bundesregierung, daß „vermutlich im Spätherbst, jedenfalls nach den Bundestagswahlen, mit einer verschärften Abriegelung Ostberlins gegenüber der restlichen DDR zu rechnen ist, da das Zonenregime gezwungen sein wird, etwas gegen den Flüchtlingsstrom zu unternehmen”.
Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt hält an diesem Samstagnachmittag als SPD-Kanzlerkandidat eine Rede zum offiziellen Wahlkampfauftakt der SPD in Nürnberg. Vor mehr als 3000 Zuschauern nennt er den DDR-Volkskammerbeschluß vom Vortag „Ulbrichts Ermächtigungsgesetz”. Willy Brandt hat düstere Vorahnungen. Er sagt: „Heute abend wird der 17 000. Flüchtling dieses Monats in Berlin ankommen. Zum erstenmal werden wir 2500 Flüchtlinge im Laufe von 24 Stunden aufzunehmen haben. – Die Menschen kommen, weil sie Angst haben, daß die Mauern des Eisernen Vorhangs zementiert werden ...”
An diesem Freitagabend feiert das Westberliner Jazzlokal „Badewanne” sein zehnjähriges Bestehen mit einem Gastspiel des „Akki-Hamann-Quintetts”. Die „Zehn Triller-Girls” führen bei einer „einmaligen Ausstattungsrevue” „Striptease und Schönheitstänze” vor. In den Kinos an der Sektorengrenze, die von Besuchern aus Ost und West gleichermaßen besucht werden, flimmert Sex und Crime aus Hollywood über die Leinwände. In den Bars an der Grenze herrscht Samstagnacht-Stimmung. Im Ostberliner Friedrichstadt-Palast geht kurz nach zehn der letzte Akt des Variete-Lustspiels „Strandkorb Nummer 13” über die Bühne.
Um 22.30 Uhr gibt im Ostberliner Polizeipräsidium Erich Honecker verschlüsselte Einsatzbefehle an einige ausgewählte Truppen der Nationalen Volksarmee und der Grenzpolizei. Einheiten in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg und Brandenburg bekommen Anweisung, sofort gefechtsmäßig ausgerüstet zu angeblichen Nachtmanövern auszurücken. Anders als sonst werden jedoch keine Platzpatronen, sondern scharfe Munition ausgegeben. Anders als sonst wird den Streitkräften kein konkretes Marschziel gesagt. In Dresden, Leipzig, Magdeburg, Rostock und Ostberlin werden Militärlastwagen mit Stacheldrahtrollen beladen.
Bis auf wenige eingeweihte Spitzenfunktionäre und bis auf die Männer in Erich Honeckers Ostberliner Hauptquartier kennt zu dieser Zeit niemand das Ziel dieser Aktionen. Die Soldaten fahren buchstäblich ins Dunkel: Mit kriegsmäßig blau verdunkelten Scheinwerfern rollen Lastwagen und Panzerkolonnen durch die Deutsche Demokratische Republik. Heinz Hoffmann, der Minister für Nationale Verteidigung der DDR, erinnert sich später: „Erich Honecker rief mich nachts an, gab mir die ‚X-Zeit’ und sagte: ‚Die Aufgabe kennst du! Marschiert!’ Ich weiß noch, wie wir die Stäbe und Verbände der Volksarmee, durch bestimmte Truppenbewegungen getarnt, heranführten.”
Gleichzeitig leitet Iwan S. Konjew, der Held des Zweiten Weltkrieges der Sowjetunion – in seiner Heimat als „Eroberer von Dresden und Prag” gefeiert –, wieder eine militärische Einkesselungsaktion einer Stadt: Er läßt seine Soldaten an der 164 Kilometer langen Grenze rings um Berlin in Stellung gehen. Die Sowjetsoldaten gehören zu den in Bernau und Döberitz stationierten Schützendivisionen und zur Panzerdivision aus Krampnitz.
In der ersten Minute des Sonntag, am 13. August, um 0.01 Uhr, schrillen in allen DDR-Kasernen die Alarmsirenen. Soldaten der Volksarmee, der Grenzpolizei und Angehörige der Betriebskampfgruppen stürzen in die Waffenkammern. Gewehre und scharfe Munition werden ausgegeben. Die Truppen, die bereits auf Autobahnen und Landstraßen zum „Manöver” unterwegs sind, werden von Kradmeldern und über Funk in die neue Marschrichtung dirigiert. Das Ziel von mehr als 20 000 Soldaten: Berlin, Hauptstadt der DDR.
Der Planungschef Erich Honecker – der von den DDR-Soldaten „grenzenlose Ergebenheit in die Sache des Sozialismus” fordert – erstattet später Bericht: „Gemäß den Einsatzbefehlen rückten die Verbände der Nationalen Volksarmee und die Bereitschaften der Volkspolizei in die ihnen zugewiesenen Abschnitte. Auch die Kampfgruppen in Berlin und in den an Berlin-West grenzenden Bezirken Potsdam und Frankfurt an der Oder bezogen ihre festgelegten Einsatzpunkte. Unsere bewaffneten Kräfte erhielten von den in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräften Unterstützung.”
Georg Grosse, 21 Jahre alt, gelernter Tischler aus Gera, war in dieser Nacht wachhabender Wachtmeister einer Luftschutz-Spezialeinheit der Volksarmee, stationiert in Leipzig-Markleeberg. Er erzählt:
„Wir waren eine sogenannte bakteriologische Entaktivierungseinheit – das heißt, wir sollten die Bevölkerung im Ernstfall vor den Folgen von chemischen Waffen und auch vor radioaktiver Verseuchung schützen. Man hatte uns im politischen Unterricht ja beigebracht, daß die westdeutschen Militaristen einen Atomkrieg vorbereiten. An diesem Nachmittag noch hatte unsere ‚Entaktivierungseinheit’ ein Manöver mit Gasmasken-Gebrauch. Eine Pioniereinheit aus derselben Kaserne übte mit schwerem Gerät Brückenbau. Es wurden Kampfhandlungen mit Platzpatronen ausgetragen. Am frühen Abend mußten die Pioniere zuerst ausrücken. ‚Zum Stacheldrahtfahren’ hieß es. Wir dachten erst, das sei ein Kennwort für ein besonders schwieriges Fahr-Manöver. Wir waren alle grenzenlos überrascht, als die Lastwagen tatsächlich mit riesigen Stacheldrahtrollen beladen wurden. Auch Spanische Reiter und Betonpfähle wurden auf die Ladeflächen gehoben. Die Lkws fuhren damit aus dem Kasernengelände raus – keiner wußte genau, wohin.”
Ostberlin, um diese Zeit sonst still und dunkel wie ein großes Dorf, wird kurz nach Mitternacht aus dem Schlaf gerissen. In Tausenden von Wohnungen geht wieder das Licht an. Türen werden geschlagen. Schritte hallen über den Asphalt. Über die schwachbeleuchteten Straßen rollen Wartburgs und Trabants und ziehen Wolken von Zweitakt-Auspuffgasen hinter sich her. Funktionäre der SED, Betriebsleiter, Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, Angehörige der Betriebskampfgruppen werden zu ihren Dienststellen und zu Treffpunkten gerufen, die für den „Einsatzfall” ausgemacht worden sind.
Das „Zentralinstitut für Geschichte der DDR” schildert später den Aufbruch eines Betriebskampfgrupplers: „Sein Telefon schrillte kurz nach Mitternacht. Walter Lembke, Kommandeur des 7. Bataillons der Berliner Kampfgruppen, fuhr schlaftrunken aus dem Bett und griff zum Hörer. Von einer ihm bekannten Stimme hörte er nur einen kurzen Satz. Keinen Befehl. Keine Losung. Nur eine schlichte Aufforderung: ‚Walter, mach dich fertig!’” Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung fügte der Mann am anderen Ende der Leitung hinzu: ‚Es ist soweit!’ Walter Lembke war mit einem Schlag hellwach. Er verstand sofort, daß es um entscheidende weitreichende Aktionen ging ... Hatte der Gegner den beabsichtigten Putsch in der DDR inszenieren können? Aber nein, dann hätte der Nachsatz anders geklungen. Hatte der Westen einer friedlichen Lösung der Berlinfrage zugestimmt? Warum aber wurde dann sein Bataillon alarmiert? – Eines stand bald für ihn fest: Es wurde eine Operation durchgeführt, um den Gefahrenherd Westberlin einzudämmen. Er warf den Hörer auf die Gabel und sprang auf ...”
So oder ähnlich kommen in dieser Nacht mehr als 4000 Angehörige der Betriebskampfgruppen der DDR aus ihren Betten.
Der Unteroffizier der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee Conrad Schumann, erst 19 Jahre alt, ein junger Mann mit noch kindlich weichen Gesichtszügen, wird von seinen Kameraden wachgerüttelt. Sie liegen zu sechst in einer Stube in einer Volksarmee-Kaserne bei Zepernick, am Stadtrand von Ostberlin. Schumann hat wie seine Kameraden in voller Uniform geschlafen. Der Sohn eines Schäfers aus Sachsen, der selber Schäfer war, bevor er sich freiwillig zum Dienst bei der Grenzpolizei meldete,