Die Mauer. Jürgen Petschull
– „Die ganze Zone ist von Unruhe erfüllt!”
Die Frage in diesen Tagen ist: „Wird ganz Berlin dichtgemacht?” („BZ”). DDR-Bewohner, die bisher nur mit dem Gedanken gespielt haben, vielleicht irgendwann einmal in den Westen zu gehen, packen nun hastig und unauffällig ihre sieben Sachen und fliehen durch immer stärker werdende Kontrollen aus der DDR zunächst nach Ostberlin und dann weiter mit der S-Bahn oder zu Fuß in den Westteil der Stadt. Tag für Tag werden neue Flüchtlingsrekorde gemeldet. 4. August: 1155 Flüchtlinge. – 5. August: 1283 Flüchtlinge. – Wochenende vom 7. zum 8. August: 3628 Flüchtlinge.
Am 9. August fliehen 1926 Menschen aus der DDR in den Westen. An diesem Tag trifft sich das oberste Führungsgremium der Deutschen Demokratischen Republik, das SED-Politbüro, zu einer Notstandssitzung auf dem von der Außenwelt völlig abgeschirmten Landsitz das Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. Das Haus in der Schorfheide, 60 Kilometer nordöstlich von Berlin, wird von einem tiefgestaffelten Sicherheitskordon von Polizei und Armee gesichert. Die schwarzen Wolga-Limousinen mit den Ministern der DDR-Regierung passieren die Kontrollen. Der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke ist dabei; Justizministerin Hilde Benjamin; der Innenminister Karl Maron und Erich Honecker, der frühere FDJ-Führer und von Ulbricht ernannte Sekretär für Nationale Sicherheitsfragen. Das einzige Thema der DDR-Machthaber: Wie kann der für die DDR zur Existenzgefährdung gewordene Strom der Republikflüchtlinge gestoppt werden. Gastgeber Walter Ulbricht informiert die Spitzengenossen von den Beschlüssen der Warschauer-Pakt-Staaten in Moskau zur „Regelung der Grenzfragen in Berlin”.
Trotz aller vergangenen Querelen und Diadochenkämpfe ist Walter Ulbricht, jetzt 68 Jahre alt, nach wie vor unumstritten der mächtigste Mann der Deutschen Demokratischen Republik. Er ist gleichzeitig Vorsitzender des Staatsrates und Parteichef der SED. Ulbricht, Sohn eines sächsischen Schneidermeisters und gelernter Tischler, begann seinen politischen Aufstieg 1919 als Mitbegründer der „Kommunistischen Partei Deutschlands” (KPD) in Leipzig. Er wird Mitglied des sächsischen Landtages und 1928 Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Westfalen-Süd. Von den Nazis verfolgt, leitete er nach 1933 im Untergrund die Arbeit der verbotenen KPD. Dann flüchtet er nach Brüssel, nach Paris und nach Madrid. Von 1938 bis zum Kriegsende lebt er in der Sowjetunion. Hier gründet Ulbricht das „Nationalkomitee Freies Deutschland”. Im April 1945 kam er als prominenter moskautreuer Kommunist und als Leiter der sogenannten „Gruppe Ulbricht” nach Berlin zurück. Zusammen mit Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl gründet er aus Teilen der SPD und der Kommunistischen Partei die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Von den Sowjets gefördert, wird Ulbricht 1950 Generalsekretär der Partei und 1953 Erster Sekretär des Zentralkomitees. Mit Hartnäckigkeit, Arbeitseifer und Überzeugungskraft, aber auch durch geschicktes Intrigenspiel gewinnt Ulbricht mehr Einfluß auf die DDR-Politik als der damalige Staatsratsvorsitzende Wilhelm Pieck.
Ulbricht wird zum eigentlichen Gegenspieler des westdeutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Wie Adenauer die Bundesrepublik Deutschland mit den Vereinigten Staaten verbündet und in die westliche Verteidigungsallianz Nato integriert, so bindet Ulbricht die DDR eng an die Sowjetunion und gliedert sie in das Militärbündnis der Warschauer-Pakt-Staaten ein. Ulbricht erreicht jedoch in der DDR nie die Volkstümlichkeit, die Konrad Adenauer in der Bundesrepublik genießt. Adenauers großväterlichem Charme und seinem rheinischen Witz und seiner Verschlagenheit hat Ulbricht wenig entgegenzusetzen. Klein und gedrungen von Statur, mit Spitzbart und hoher, sächsischer Fistelstimme wird er im Westen zur Lieblingsfigur von Karikaturisten und Kabarettisten.
In der Bundesrepublik wird Walter Ulbricht als „Statthalter Moskaus”, als „Menschenfeind” und als „Unterdrücker des Volkes” dämonisiert und verhöhnt: „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht Volkes Wille.” – „Es hat alles keinen Zweck, der Spitzbart, der muß weg.”
In der DDR dagegen wird derselbe Mann von linientreuen Dichtern zur Übergröße hochstilisiert. Ein Max Zinnering schreibt: „Die Klasse gibt uns Kraft und Mut und Richtung die Partei – mit Walter Ulbricht kämpft sich’s gut – voran, die Straße frei!” Und ein Horst Solomon sieht weit voraus: „Ein Tag wird kommen, Genosse Ulbricht, da wirst du in Hamburg auf unserem Parteitag sprechen; der Sozialismus marschiert in der Howaldtswerft, in Bayern und in den Bochumer Zechen ...”
Doch in diesem August 1961 kämpft Ulbricht dagegen, daß nicht noch mehr DDR-Werktätige zu den Hamburger Howaldtswerken, nach Bayern und in die Bochumer Zechen flüchten. Und dabei ist ihm kein politischer Trick zu schade. Noch am 15. Juni 1961 kommt es bei einer internationalen Pressekonferenz in Ostberlin zu einem denkwürdigen Dialog zwischen der Korrespondentin der „Frankfurter Rundschau”, Annamarie Doherr, und dem DDR-Staatsratsvorsitzenden. Annamarie Doherr fragt: „Würde die Bildung einer freien Stadt Berlin bedeuten, daß die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird?” Walter Ulbricht antwortet: „Ich verstehe Ihre Frage so, daß es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, daß wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, daß eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. – Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!”
Genau das jedoch wird am Ende der geheimen Politbüro-Sitzung am Abend des 9. August auf dem Landsitz von Walter Ulbricht in der Schorfheide außerhalb von Berlin beschlossen. Schon in der Nacht zum 10. August beginnen die Vorbereitungen. Kasernierte Bereitschaftseinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit riegeln gegen ein Uhr morgens das SSD-Ministerium in der Ostberliner Normannenstraße hermetisch ab. Von hier aus überwachen in den nächsten Tagen Mitglieder des Politbüros die „Maßnahmen zur Grenzsicherung”.
Im Ostberliner Stadtzentrum im Polizeipräsidium unweit vom Alexanderplatz, wird der eigentliche Einsatzstab der Operation Grenzsicherung einquartiert. Die Leitung der Operation übernimmt ein gewisser Erich Honecker.
Funk- und Telefonverbindungen werden zu allen Büros des Staatssicherheitsdienstes in allen Teilen der DDR geschaltet, ebenso zu den Kasernen der Nationalen Volksarmee. Zum Hauptquartier des Chefs der Sowjettruppen, Marschall Konjew, wird eine abhörsichere Direktleitung gelegt. Generale und Vertrauensleute der Nationalen Volksarmee, der Grenztruppen der DDR und der Betriebskampfgruppen werden angewiesen, sich einsatzbereit zu halten.
Während die Westberliner bei schönem Sommerwetter im Wannsee baden, bereiten sich Politiker und Militärs im Westen auf ein ruhiges Wochenende vor, das ihnen Wetterdienste und Geheimdienste vorhergesagt haben.
Während der Bonner Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, in einer Fernsehrede den „Brüdern und Schwestern in der Zone” versichert, daß „der freie Zugang von Ost- nach Westberlin erhalten bleibt”, schreibt das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland”: „Das Maß ist voll. Die Regierung und die Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik werden sich gegen westliche Agenten, Menschenhändler und Provokateure zu schützen wissen.”
Während der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, bei einer Wahlkampfveranstaltung in Kiel vor 7000 Zuhörern „als Gegenmaßnahmen gegen die erpresserische Berlin-Politik der Sowjetunion und der Sowjetzone Wirtschaftssanktionen” ankündigt, macht der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, einen groß angekündigten Besuch im Ostberliner Kabelwerk Oberspree. Der Anlaß: Eine Abteilung des Kabelwerkes – mit 5000 Werktätigen eines der größten Industrieunternehmen der DDR – hat einen Brief an den Staatsratsvorsitzenden geschrieben. Darin fordert die „Brigade Otto Krahmann” alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik auf, „genau wie wir selber besondere Anstrengungen für den Frieden zu machen, die westdeutschen Militaristen mit Taten in der sozialistischen Produktion zu schlagen und den aus Westberlin gesteuerten Menschenhandel wirksam zu unterbinden”. Der Appell wird in allen DDR-Zeitungen nachgedruckt. Walter Ulbricht lobt öffentlich den „kämpferischen Elan und die Einsatzbereitschaft” der Kabelwerker. Nun will er sich mit einer großen Rede bedanken.
An diesem Donnerstag, dem 10. August, um 14.00 Uhr, fällt die stattlich gebaute Genossin Margarethe Giersch im Kabelwerk Oberspree dem Staatsratsvorsitzenden um den Hals, drückt ihm erst einen schmatzenden Kuß auf die Wange und dann einen Blumenstrauß in die Hand und sagt: