Die Mauer. Jürgen Petschull
Millionen Mann verstärkt werden. – 2. Der Präsident fordert vom Kongreß eine Erhöhung des Militärbudgets um 3,2 Milliarden Dollar. – 3. Die Stützpunkte der USA in Übersee, vor allem in Europa, sollen mit neuen konventionellen Waffen und mit mehr Munition im Wert von einer Milliarde Dollar zusätzlich versorgt werden. – 4. Die Lufttransport-Kapazität wird um 25 Prozent erhöht. – 5. Zwanzig bereits stillgelegte Truppen-Transportschiffe sollen sofort wieder flottgemacht werden.
In einer Fernsehrede an die Nation begründet John F. Kennedy am 26. Juli 1961 die Dringlichkeit dieser Mobilmachung. Es gehe nicht nur um Berlin, es gehe um die Verteidigung der westlichen Welt. Mit fester Stimme sagt er: „Wir wollen keinen Kampf – aber wir haben schon früher gekämpft. – Wir können und werden den Kommunisten nicht gestatten, uns allmählich oder mit Gewalt aus Berlin zu vertreiben. – Westberlin ist ein Symbol, eine Insel der Freiheit im kommunistischen Meer.” Die Stadt müsse als Schaufenster des freien Westens und als Schlupfloch für Menschen, die vor dem kommunistischen Regime in Ostdeutschland flüchten, erhalten bleiben. Kennedy bietet in seiner Rede der Sowjetunion Verhandlungen an, aber er sagt auch: „Über die Freiheit Berlins gibt es nichts zu verhandeln!” Seine Rede wird im Westen bejubelt. Konrad Adenauer und Willy Brandt, die beiden deutschen Wahlkämpfer, schicken Glückwunschtelegramme. Der Westen, so der Tenor, habe endlich wieder eine feste Führung.
Kennedy, der junge Mann, der als intelligenter Sonnyboy und strahlender Wahlsieger mit seiner hübschen Frau Jacqueline ins Weiße Haus eingezogen ist, scheint in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit um Jahre gealtert. Er wirkt ernst und verschlossen. Mit finsterer Miene, so berichten seine Berater, eilt der Präsident in diesen Tagen, Ende Juli 1961, von einer Berlin-Konferenz zur nächsten. „Kennedy hatte keine Zeit mehr, sich mit amerikanischer Innenpolitik oder mit anderen Fragen zu beschäftigen”, sagt sein Berater Arthur M. Schlesinger, „er war ein Gefangener Berlins.”
Der amerikanische Präsident hat in diesen Tagen stets eine schwarze Aktentasche bei sich. Darin liegt ein Ringordner mit zwei Dutzend „Aktionsplänen” für Berlin, die im State Department und im Pentagon ausgearbeitet worden sind. Foy Kohler, damals stellvertretender Außenminister und Chef der „Berlin Task Force” (der „Berlin Einsatzgruppe”) des State Departments erinnert sich: „Wir hatten für den Präsidenten alle Zwischenfälle, Störmanöver und Aggressionen vorhergesehen und durchgespielt, die wir uns nur vorstellen konnten. Wir haben Behinderungen des Luftverkehrs und der freien Zufahrt auf der Autobahn, bewaffnete Zwischenfälle an der Grenze, militärische Konflikte und deren Folgen ausgearbeitet, Gegenmaßnahmen und alternative Gegenmaßnahmen vorgeschlagen und Reaktionen bei Feind und Freund einkalkuliert.” In Kennedys Mappe steckt auch ein Report des früheren US-Außenministers und jetzigen Präsidentenberaters Dean Acheson, der Chruschtschows Berlin-Ziele so analysiert: Die enorme Flüchtlingswelle soll gestoppt und dadurch das angeschlagene Regime in Ostdeutschland stabilisiert werden. – Westberlin soll erst politisch und militärisch neutralisiert und später von der DDR übernommen werden. – Die Grenzen der DDR sollen legalisiert und international anerkannt werden. – Die Nato-Allianz soll durch einen Konflikt um Berlin aufgeweicht und möglichst zerbrochen werden.
Außer den jeweils aktuellen CIA-Geheimdienstberichten enthält die Berlin-Akte Kennedys auch vertrauliche Mitteilungen. So schildert ihm der Vorsitzende des Washingtoner Wirtschaftsrates Walter W. Heller nach seiner Rückkehr von einer Deutschlandreise auch Gespräche „mit dem eindrucksvollen deutschen Verleger Axel Springer”. Heller an Kennedy über Springers Einschätzung der politischen Lage: „Wenn ein separater Friedensvertrag der Sowjetunion mit Ostdeutschland zustande kommt, glaubt Springer, daß Westberlin von Ostdeutschland durch Stacheldraht und Barrikaden abgesperrt werden wird.” Laut Springer müsse man im Fall einer Berlin-Blockade mit einem Volksaufstand in Ostdeutschland rechnen. Heller an Kennedy: „Springer drückte die dringende Hoffnung aus, daß die Politik der Vereinigten Staaten auf eine solche Entwicklung vorbereitet ist – sonst werde es ein zweites Ungarn geben.”
Für seine Berlin-Unterlagen läßt sich John F. Kennedy von Generalstabschef Lemnitzer einen schriftlichen Bericht über Einsatzbereitschaft und Versorgung der in Berlin stationierten 6000 US-Soldaten geben. Lemnitzer antwortet auf Kennedys Anfrage: „Die Munition reicht für 18 Tage. Ersatzteile für 30 Tage. Lebensmittel für 180 Tage. Flugzeugtreibstoff ebenfalls für 180 Tage und Benzin für 300 Tage.”
In Washington, so scheint es, ist der amerikanische Präsident bis ins Detail über Berlin informiert und auf alles Denkbare vorbereitet – nur nicht auf das, was wirklich geschehen wird.
In Moskau treffen sich vom 3. bis zum 5. August 1961 die Ersten Sekretäre der „Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien der Mitgliedsländer des Warschauer Paktes” und ihre Berater. Erst Jahre später werden im Westen Einzelheiten bekannt. Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende der DDR, ist bei dieser Zusammenkunft Angeschuldigter und Ankläger zugleich. Angeschuldigt, weil er es nicht geschafft hat, die Lebensverhältnisse in der DDR und die Umerziehung der Menschen zum Kommunismus so voranzubringen, daß sie nicht massenweise in den Westen fliehen. Seit Chruschtschows Berlin-Ultimatum vom November 58 sind in den vergangenen 20 Monaten weitere 430 000 DDR-Bewohner in die Bundesrepublik abgewandert – die meisten von ihnen wieder über Westberlin. Ulbricht seinerseits beklagt sich gegenüber Chruschtschow und den anderen im Kreml versammelten Partei-Chefs über mangelnde Solidarität. Sie hätten ihn und die DDR im Stich gelassen und die Lösung des Berlin-Problems immer weiter hinausgezögert – zum Schaden der DDR-Volkswirtschaft und zum Schaden des gesamten Kommunismus. Ulbricht fordert entschiedene Maßnahmen gegen das „Agenten- und Spionagenest Westberlin, in dem Menschenhändler und Kopfjäger labile Elemente aus der DDR abwerben”.
Einer der Konferenzteilnehmer, der Parteisekretär im Verteidigungsministerium der Tschechoslowakei, Jan Sejna, ist Jahre später in den Westen geflüchtet. Er hat gegenüber westlichen Geheimdiensten ausgepackt. Seine Aussagen sind nicht unumstritten. Der Überläufer berichtet vom Moskauer Geheimtreffen der Warschauer-Pakt-Staaten Anfang August 1961: „Ulbricht hat damals eine Übernahme von ganz Westberlin und die Kontrolle über die Luftkorridore gefordert.” Das sei abgelehnt worden, und man habe eine weniger radikale Lösung zur Unterbindung des Flüchtlingsstromes beschlossen. Sejna erzählt: „Ulbricht sagte schließlich: ‚Danke, Genosse Chruschtsschow, ohne Ihre Hilfe können wir dieses schreckliche Problem nicht lösen.’” Und Chruschtschow habe den DDR-Staatsratsvorsitzenden noch einmal in seine Grenzen verwiesen: „Ja, ich bin einverstanden – aber keinen Millimeter weiter ...!” An den Tagen nach dem Geheimtreffen der kommunistischen Regierungschefs geschehen zwischen Moskau und Ostberlin und in den beiden Teilen Deutschlands Dinge, die sich später wie Teile eines politischen Puzzles zusammenfügen lassen.
In Moskau wird die geglückte Landung des zweiten bemannten Raumschiffes „Wostok II” gefeiert. Bei einem Empfang des Kosmonauten German Titow prahlt Chruschtschow mit der technologischen Überlegenheit der Sowjetunion – er berichtet von einer neuen einsatzfähigen Superbombe mit der Sprengkraft von 900 Tonnen TNT. Am nächsten Tag beginnen gemeinsame Manöver sowjetischer und ostdeutscher Truppen in der Nähe von Berlin. Die Nationale Volksarmee wird aufgerufen, die Ausbildung „gefechtsnah zu gestalten und die Schießergebnisse zu verbessern”. Die Devise lautet: „Soldaten entscheiden durch Taten im Kampf gegen den Imperialismus.”
Am 7. August trifft Marschall Iwan S. Konjew in Ostberlin ein. Der glatzköpfige, vierschrötige Konjew ist ein gefeierter Held des Zweiten Weltkrieges und Spezialist für Städtekampf. Man nennt ihn den „Eroberer von Prag und Dresden. Er übernimmt im Auftrage von Chruschtschow den Oberbefehl der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen. Er wird sogleich von Walter Ulbricht empfangen.
Das „Neue Deutschland”, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), berichtet, daß in „zahlreichen Betrieben Komitees gegen den aus Westberlin betriebenen Menschenhandel und Kopfjägerei” gebildet worden sind. Die 53 000 Grenzgänger müssen sich registrieren lassen und sich verpflichten, ab Mitte September Arbeitsplätze in der DDR zu suchen. Walter Ulbricht sagt: „Wenn gewisse Leute befürchten, daß ihnen das Hintertürchen verschlossen wird, durch das sie bisher ihre Konterbande – Spionage, Sabotage und Menschenhandel – in die Deutsche Demokratische Republik einschmuggeln konnten, dann besteht diese Furcht zu recht.”
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