Die Mauer. Jürgen Petschull

Die Mauer - Jürgen Petschull


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geschützt von einem Kordon von Leibwächtern, begleitet von jubelnden Parteigenossen, in die große Werkshalle ein. Ein Rednerpodium ist aufgebaut. Spruchbänder künden vom unaufhaltsamen Fortschritt des Sozialismus:

      „Vorwärts, Seite an Seite mit unserem sowjetischen Brudervolk!” Fernsehkameras laufen. 3000 Kabelwerker sind in die Halle beordert worden. Die meisten stehen auf dem Steinboden. Ganz vorne sitzen auf zwölf aufgebauten Stuhlreihen die Funktionäre des Betriebes und Mitglieder des Zentralkomitees der Partei.

      Ganz hinten auf einer fünf Meter hohen Kabelrolle hockt Kurt Wismach, 32 Jahre alt, blond, breitschultrig, 1,85 Meter groß. Ein Klotz von einem Mann. Als Drahtzieher an der großen Walzstraße, auf der glühendheiße Metallbänder zu Eisen-, Kupfer- und Aluminiumkabel dünngezogen werden, gehört er mit 1000 Mark im Monat zu den Spitzenverdienern des Betriebes. Heute hat Kurt Wismach Mittagsschicht. Er ist zusammen mit den 25 Kollegen seiner Abteilung froh über die willkommene Arbeitsunterbrechung. Er erzählt: „Keiner von uns wußte genau, was das ganze Staats-Theater in der Werkshalle eigentlich sollte. Natürlich haben wir seit Monaten schon über die Flüchtlingswelle gesprochen. Das war das Thema Nummer eins im ganzen Betrieb. Denn jeden Tag fehlten irgendwo wieder Leute, die in den Westen abgehauen waren. Viele spürten auch, daß sich politisch irgend etwas zusammenbraute. Denn so konnte es nicht weitergehen. Immer häufiger kam es zu Produktions- und Lieferschwierigkeiten.”

      Auch Kurt Wismachs Bruder Günter ist schon in den Westen gegangen. Er schreibt jetzt Ansichtskarten aus Duisburg. „Ich war unentschlossen, ob ich ihm in den Westen folgen sollte; drüben lockten manche Freiheiten, die wir nicht hatten: Dort konnte man hinfahren, wohin man wollte, und man konnte sagen, was man dachte. Andererseits war Berlin meine Heimat. Ich war in der DDR und mit der DDR aufgewachsen. Ich verdiente gut und wollte hier meine Verlobte Helga heiraten.” Kurt Wismach sagt, daß er manchmal auch „sauer” gewesen ist auf die Flüchtlinge, die nicht nur den Staat, die Wirtschaft, sondern auch Freunde und Kollegen über Nacht im Stich gelassen hätten. „Besonders die Grenzgänger waren bei uns überall sehr unbeliebt. Die kassierten in Westberlin Westgeld, tauschten das zum Kurs von 1:4 ein und markierten bei uns im Osten den dicken Maxe. Im Westen drückten sie die Löhne, und bei uns kauften sie die Läden leer.”

      Kurt Wismach ist kein SED-Mitglied, aber er ist auch kein fanatischer Gegner des Systems. Er ist ein kritischer, manchmal auch aufsässiger junger Mann. Als 24jähriger hat er beim Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 zusammen mit zwei Freunden die rote Sowjetfahne vom Mast geholt – mitten auf dem Ostberliner Alexanderplatz. „Wir haben für mehr Demokratie demonstriert und immer wieder ‚Freie Wahlen, Freie Wahlen’ gerufen.” Nachdem damals der Aufstand von sowjetischen Panzern und DDR-Soldaten zerschlagen worden ist, mußte er sich wie andere Demonstranten zehn Tage lang vor der Polizei und dem Staatssicherheitsdienst verstecken. Erst als die Regierung eine offizielle Amnestie verkündete, kam er aus seinem Unterschlupf und arbeitete weiter.

      Walter Ulbricht hat er vorher nicht persönlich gesehen. „Ich kannte ihn aus dem Radio und vom Fernsehen. Er war mir nicht sehr sympathisch, vor allem wegen seiner piepsigen sächsischen Stimme.”

      Während Kurt Wismach von seiner hohen Warte auf der Kabeltrommel aus auf die Massenversammlung in der Werkshalle des Kabelwerks Oberspree herabblickt, spricht der Mann mit dieser Stimme ins Mikrofon. Ulbricht sagt: „Liebe Freunde, ich möchte zunächst den Werktätigen des KWO die freundschaftlichen Grüße des Zentralkomitees unserer Partei, des Staatsrates und der Regierung überbringen.” Dann lobt er die „mutige Brigade Otto Krahmann”, feiert den Raumflug des sowjetischen Kosmonauten Titow als Zeichen für die Überlegenheit des Kommunismus gegenüber dem Westen und würdigt die Erklärung des Genossen Chruschtschow zur Berlin-Frage. Dann kommt Walter Ulbricht zum Thema, auf das alle gewartet haben. Er spricht über die Republikflüchtigen, die „die Zeichen der Zeit nicht verstanden” hätten, die „labile Elemente” seien, „willige Opfer für die Verlockungen von westlichen Menschenhändlern”. Ulbricht sagt: „Niemand kann den Sozialismus aufhalten, und niemand kann ihm davonlaufen!” (Das Protokoll vermerkt hier: „Starker Beifall!”) „Auch diejenigen nicht, die unsere Republik verlassen und sich nach dem westdeutschen Staat der Militaristen und des Klerikalismus begeben haben, in der Hoffnung, dort ihr Glück zu finden. Eines Tages werden sie sich sagen: Was war ich für ein Esel, daß ich vor dem Sozialismus davongelaufen und in die Hände der Nato gerannt bin.” („Stürmischer Beifall!”)

      Kurt Wismach auf der Kabeltrommel rührt keine Hand.

      Walter Ulbricht plädiert eine Stunde lang für den Abschluß des von Chruschtschow vorgeschlagenen separaten Friedensvertrages zwischen der DDR und der Sowjetunion. Er schimpft auf „die Bonner Militaristen und Revanchisten, die wieder einen Krieg gegen die sozialistischen Länder planten”, und wettert gegen die „über Westberlin betriebene Ausplünderung der Deutschen Demokratischen Republik”. Er rechnet vor, „daß uns die offene Grenze nach Westberlin jährlich eine Milliarde Mark und der Menschenraub, der betrieben wird, jährlich 2,5 Milliarden Mark kosten”. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik müsse ihm zustimmen, daß mit diesen Zuständen endlich Schluß gemacht werden muß.

      „Bei unseren kürzlichen Beratungen in Moskau”, fährt Walter Ulbricht fort, „konnten alle Hauptfragen der Störfreimachung der Wirtschaft der DDR erfolgreich vereinbart werden.” Und später sagt er: „Deshalb werden, wenn es notwendig ist, die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber der westdeutschen Bundesrepublik militärisch geschützt werden, und zwar sowohl durch Truppen der Nationalen Volksarmee wie durch Truppen unserer sowjetischen Freunde.” Kurt Wismach findet die Ausführungen des Vorsitzenden alles in allem nicht sehr aufregend. „Das war alles die übliche Agitation. – Ich habe schon gemerkt, wie meine Füße in den Holzpantinen, die wir bei der Arbeit aus Sicherheitsgründen tragen müssen, langsam einschliefen.” Nachdem Ulbricht länger als eine Stunde geredet hat, hört Kurt Wismach plötzlich das Stichwort „Freie Wahlen”, das ihm seit dem Volksaufstand 1953 noch immer in den Ohren geblieben ist. Damals hatten es Tausende von Demonstranten auf dem Alexanderplatz gerufen. Diesmal stellt Ulbricht dazu eine rhetorisch gemeinte Frage: „Hier glauben manche Leute wohl, daß sie Patentlösungen haben? Eine Angestellte hier im Werk hat kürzlich gesagt, man solle doch in ganz Deutschland freie Wahlen machen ...”

      An dieser Stelle passiert Kurt Wismach etwas, was er viel später so beschreibt: „Ich hörte nur wieder ‚Freie Wahlen’, sah die Menschenmassen unter mir und den Ulbricht am Ende der Halle ganz klein hinter seinem Pult. Und da habe ich laut geklatscht. Ich war der einzige.”

      Ulbricht blickt verstört von seinem Manuskript hoch, Stühle rutschen über den Boden, als sich die Funktionäre zu dem Mann auf der Kabeltrommel umdrehen. Verblüfft schweigt der Redner. In der mit 3000 Menschen gefüllten Werkshalle ist es sekundenlang mäuschenstill. „Erst war ich wie versteinert”, erzählt Kurt Wismach, „dann hörte ich mich rufen: Jawohl! Freie Wahlen!’ – Und wenn ich der einzige bin!”

      Ein Raunen geht durch die Werkshalle. Walter Ulbricht räuspert sich im Mikrofon, raschelt mit seinem Manuskriptpapier und sagt endlich: „Moment mal! Warten Sie! Die Sache wollen wir hier mal klären ...” Ehe er zu seiner Erklärung ansetzte, tönte wieder die Baritonstimme von der Kabeltrommel: „Da brauchen wir nichts klären. Bei freien Wahlen werden wir schon sehen, was dabei herauskommt!” Da brüllte Walter Ulbricht über die Köpfe der 3000 zu dem Mann hinauf: „Was wollen Sie denn frei wählen? Die Frage stellt die Arbeiterklasse, und die Frage stellt das Volk!” Wieder antwortet Kurt Wismach von oben herab: „Weißt du überhaupt, wie das Volk denkt ...?”

      In der ersten Reihe springen ein paar Funktionäre und Beamte des Staatssicherheitsdienstes empört von ihren Stühlen auf. In der Menschenmenge entsteht eine Bewegung. Männer, die Kurt Wismach noch nie im Kabelwerk gesehen hat, kommen drohend auf die riesige Trommel zu. „Da erst merkte ich, was ich angerichtet hatte; was alles so spontan aus mir herausgesprudelt war. Aber ich wußte auch, daß sie mir jetzt nicht viel anhaben konnten, schließlich liefen die Fernsehkameras, und 3000 Leute wären Zeuge gewesen, wenn sie mich von der Trommel heruntergeholt hätten.”

      Als Walter Ulbricht seinen Redefaden endlich wiedergefunden hat, legt sich die Unruhe über den Zwischenrufer ein wenig. Aber Kurt Wismach


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