Die Mauer. Jürgen Petschull
seien für die Westagenten interessant gewesen. Maske nennt die Betriebe Kali-Chemie Leipzig, Chemische Werke Buna, Carl Zeiss Jena, Technische Hochschule Dresden, Kernphysikalisches Institut Miersdorf, Elektro-Apparate-Werke Treptow.
Ein zweiter „Zeuge besonderer Art”, der seinen Namen mit Gerhard Heuseler angibt, bestätigt die Aussagen des Kollegen. Nach seiner Rückkehr aus dem „Agentennest Westberlin” habe er den „zuständigen Gremien” westliche „Lockbriefe” übergeben. Generalstaatsanwalt Funk hebt anklagend ein großes Paket solcher Briefe den Zuhörern entgegen. (Das Protokoll vermerkt „Freudige Zustimmung als der amtierende Generalstaatsanwalt ein großes Paket Agentenbriefe zeigte”.) Das Zentralorgan der SED, das „Neue Deutschland”, berichtet unter einer vierspaltigen Überschrift vom Auftritt der Briefboten des Staatssicherheitsdienstes: „DDR-Patrioten enthüllen Methoden der Menschenhändler.”
Außer den „Menschenhändlern” und „Verrätern” haben die Machthaber der DDR noch einer zweiten Gruppe von „Schädlingen der Wirtschaft und des Volkes” den Kampf angesagt – den sogenannten Grenzgängern.
Die 53 000 Ostberliner, die jeden Tag über die offene Sektorengrenze zur Arbeit nach Westberlin fahren, werden in den Zeitungen als „Handlanger der Monopolkapitalisten”, als „Parasiten”, als „Kapitalisten-Huren” beschimpft und zur „ordentlichen Arbeit in Volkseigenen Betrieben” aufgefordert. Und der linientreue Bernauer Pastor Karl Fischer liest den Grenzgängern gehörig die Leviten: „Sie nutzen unsere günstigen Wohnverhältnisse aus, die billigen Mieten, die billigen Verkehrsmittel, die günstigen Preise für Gas und Strom und für die wichtigsten Lebensmittel. Und zur gleichen Zeit drängen sie in das Wirtschaftsgefüge des Westens und richten auch dort Unheil an. Sie drücken dort die Löhne und vergiften das Betriebsklima.” Schließlich fordert der sozialistische Seelsorger: „Dein Platz ist hier bei uns! Keinen Schritt mehr nach drüben!”
Anfang August wollen die DDR-Behörden nicht mehr länger zusehen, wie ihre Arbeitskräfte fremdgehen. Sie verfügen:
1 Alle Grenzgänger müssen sich in Ostberlin registrieren lassen.
2 Grenzgänger müssen rückwirkend ab 1. August Mieten, Strom, Gas und Wasser und sämtliche Gebühren wie Telefon, Müllabfuhr und auch Steuern in Westgeld bezahlen.
3 Sie müssen sich verpflichten, bis Ende September Arbeitsplätze in Ostberlin oder in der DDR anzunehmen.
Doch die Kampagne erweist sich bald als Fehlschlag – nach Verkündung dieser Zwangsmaßnahmen reihen sich von Tag zu Tag immer mehr Grenzgänger in die Flüchtlingsschlangen vor dem Westberliner Aufnahmelager Marienfelde ein.
An diesem Freitag, dem 11. August, an dem Kurt Wismach für seinen Ruf nach freien Wahlen zur Rechenschaft gezogen wird; an dem das Oberste Gericht der DDR einen Schauprozeß gegen vier angebliche Menschenhändler veranstaltet; an dem die Grenzgänger immer heftiger drangsaliert werden – an diesem Freitag tritt die Volkskammer als „Oberste Volksvertretung der DDR” zu ihrer 19. Sitzung zusammen. Noch am Vormittag beschließen die Mitglieder in Anwesenheit des sowjetischen Botschafters Perwuchin einstimmig, aber ohne Angabe von Einzelheiten: „Die Volkskammer unterstützt ohne Einschränkung die vom Ministerrat, vom Magistrat von Großberlin und von den Räten der Bezirke Potsdam und Frankfurt/Oder eingeleiteten Maßnahmen zur Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik und zur Unterbindung der von Westdeutschland und Westberlin aus organisierten Kopfjägerei und des Menschenhandels.” Und: „Die Volkskammer beauftragt den Ministerrat, alle Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen, die sich auf Grund von Festlegungen der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und dieses Beschlusses als notwendig erweisen.” Es wird darauf hingewiesen, daß „die neuen Schutzmaßnahmen gegen Menschenhändler, Abwerber und Saboteure für die Bürger gewisse Unbequemlichkeiten” mit sich bringen werden.
Die Unbequemlichkeiten beginnen noch am selben Nachmittag. Eine Hundertschaft von Volkspolizisten besetzt gegen 16 Uhr den S-Bahnhof Potsdam. Alle Reisenden, die aus der DDR nach Ostberlin wollen, werden scharf kontrolliert. Sie müssen ihre Ausweise vorzeigen und ihr Gepäck durchsuchen lassen. Von zehn S-Bahnfahrern, so berichten Betroffene, werden nur noch zwei zur Weiterfahrt in die Hauptstadt durchgelassen. Die anderen müssen ohne Angabe von Gründen in ihre Wohnorte zurück – vermutlich, weil sie als fluchtverdächtig gelten.
Auch andere Bahnhöfe und Zugangsstraßen nach Ostberlin werden immer schärfer kontrolliert. Die Truppen der Nationalen Volksarmee, der Grenzpolizei und des Staatssicherheitsdienstes werden in Alarmbereitschaft versetzt. Die Leiter und Vertrauensleute der Betriebskampfgruppen werden informiert, daß demnächst mit einem Einsatz zu rechnen ist – ob Manöver oder Ernstfall, wird nicht gesagt.
All diese Maßnahmen werden vom Ostberliner Polizeipräsidium in der Nähe vom Alexanderplatz geleitet. Das Gebäude ist unauffällig, aber wirksam bewacht. Nur wenige Uniformierte patrouillieren in der Nähe. Männer in Zivil mit versteckten Funkgeräten sichern die Umgebung.
Im zweiten Stockwerk hat der „Einsatzstab für die Aktion X” sein Hauptquartier bezogen. In den nach Bohnerwachs riechenden Zimmern und Konferenzräumen sind Dutzende von Telefonapparaten installiert worden. Fernschreiber tickern. Funkgeräte quäken. An den Wänden hängen Übersichtskarten der DDR und von Großberlin und Ausschnittkarten von den Gebieten entlang der Grenze rings um Berlin und von der 44,25 Kilometer langen Sektorengrenze zwischen Berlin-Ost und Berlin-West. Geschäftig eilen Offiziere in Uniform und Zivilisten über die Flure. Eine Konferenz nach der anderen wird abgehalten.
Immer wieder gehen prominente Persönlichkeiten im Polizeipräsidium ein und aus: Willi Stoph, der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates; Heinz Hoffmann, der Minister für Nationale Verteidigung; Karl Maron, der Minister des Inneren; Erwin Kramer, der Minister für Verkehr; Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit; Friedrich Ebert, der Oberbürgermeister von Ostberlin.
Alle hören auf das Kommando eines eher unscheinbaren Mannes mit schmächtiger Figur, blassem Teint, tiefen Geheimratsecken im braunen Haar und blaßblauen Augen hinter einer hellen Hornbrille: Erich Honecker, 49 Jahre alt, Mitglied des Politbüros der SED und Sekretär des Zentralkomitees für Nationale Sicherheit hat im Auftrag des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht mit der Leitung der „Maßnahmen zur Grenzsicherung” begonnen.
Honecker ist zu dieser Zeit ein im Westen weithin unbeachteter höherer Parteifunktionär. Von ihm sind kaum mehr als biographische Kurzdaten bekannt: am 25. August 1912 in Neunkirchen/Saar als Bergmannssohn geboren; gelernter Dachdecker; von Jugend an KPD-Mitglied; kommunistischer Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten; von Hitlers „Volksgerichtshof” zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt; nach dem Kriege – von 1946 bis 1955 – Vorsitzender der „Freien Deutschen Jugend” (FDJ) in der DDR; seit Juli 1958 Politbüro-Mitglied; Protegé von Walter Ulbricht.
Ebenso unauffällig wie der Aufstieg ist auch das Privatleben des Funktionärs Erich Honecker. Wie andere hohe Parteifunktionäre und Regierungsmitglieder wohnt er in der Prominentensiedlung des Arbeiter- und Bauernstaates, 25 Kilometer nordöstlich von Berlin am Wandlitzsee. Auf einem sieben Quadratkilometer großen Gelände stehen hier, umgeben von einer zwei Meter hohen Betonmauer, Dutzende von villenartigen Wohnhäusern; zwei Stockwerke hoch, mit westlichem Komfort ausgestattet. Großzügige Rasenflächen, kleine Seen und Parks erfreuen das Auge. Es gibt ein Schwimmbad, eine Tennisanlage, ein Hospital, Kindergarten, Friseursalon, Sporthalle und sogar einen Schießstand. Nachts werden Mauern und Wege von Scheinwerfern angestrahlt. Bewaffnete Wachtposten schützen „Bonzograd”, wie DDR-Bürger die Prominentensiedlung nennen.
Hier lebt Erich Honecker als Nachbar von Walter Ulbricht und Erich Mielke mit seiner zweiten Frau Margot und seiner Tochter Sonja. Gelegentlich spielt er mit Gästen und Nachbarn Skat oder „17 und 4”. Eine Uniform zieht der Sicherheitsbeauftragte der DDR-Regierung, dem jetzt auch die Nationale Volksarmee unterstellt ist, nur in seiner Freizeit an – das grüngraue Loden der Weidmänner. Honecker ist ein begeisterter Jäger.
In den nächsten Tagen und Wochen ist Erich Honecker selten zu Hause am Wandlitzsee. Im Ostberliner Polizeipräsidium wurde in einem Raum neben seinem Hauptquartier ein Klappbett für ihn aufgeschlagen. Hier verbringt Honecker auch die Nacht vom 11. zum 12.