Die Mauer. Jürgen Petschull
werden schon ihre Gründe haben. Es verläßt ja schließlich keiner seine Heimat, wenn er nicht schwerwiegende Gründe dafür hat.” – „Was hast du denn für Gründe gehabt, Kollege Wismach, den Staatsratsvorsitzenden auf so lümmelhafte Weise zu unterbrechen und ihn sogar zu duzen?” Die Frau mit dem Notizblock sagt: „Der Genosse Walter Ulbricht ist schließlich schon 68 Jahre alt. Er hätte eine Herzattacke bekommen können.” – Kurt Wismach antwortet: „Zwischenrufe muß ein Politiker doch wohl noch vertragen können!” Da schreit ihn der Kleine an: „Man sollte dir eins auf deine freche Schnauze hauen!” Kurt Wismach steht von seinem Stuhl auf, baut seine muskulöse, 1,85 Meter große Figur, vor dem Tisch seiner Verhörer auf und fragt: „Meinst du das persönlich, Genosse?” – „Der Kleine”, so erinnert sich Kurt Wismach, „ist richtig in seinen Stuhl zusammengesunken, und dann hat er gesagt: ‚Nein, das habe ich nur symbolisch gemeint.’”
Die immer hitziger werdende Auseinandersetzung dauert länger als zwei Stunden. Dann tuscheln die vier vom Zentralkomitee miteinander, so daß Kurt Wismach nicht verstehen kann, was sie reden. Der Wortführer kommt zur Sache: „Kollege Wismach, du kannst dir denken, daß wir dein Verhalten nicht durchgehen lassen können! Du hast den hohen Lebensstandard, den wir dir als Facharbeiter hier bieten, vorerst verspielt! Du wirst für mindestens ein halbes Jahr von der Lohngruppe 7 in Lohngruppe 5 zurückgestuft.”
Kurt Wismach erzählt heute: „Das hätte bedeutet, daß ich statt 1000 Mark nur noch etwa 600 Mark verdient hätte. Außerdem sollte ich für meine Bemerkung gegen das Nationale Aufbauwerk 500 ‚freiwillige Aufbaustunden’ leisten. Und drittens sollte ich in einer Woche bei einer Betriebsversammlung erklären, daß meine Forderung nach freien Wahlen ‚völliger Unsinn’ sei, da sogenannte freie Wahlen von den Monopolkapitalisten und Militaristen doch nur in ihrem Sinne manipuliert werden.”
Kurt Wismach sagt zum Schluß des Verhörs, er werde sich das überlegen. Sie sagen ihm, er habe eine Woche Zeit.
„Ich habe die Fäuste in der Tasche geballt. Ich hätte vor Wut auf den Tisch hauen können!” erinnert sich Kurt Wismach. „Als ich schon auf dem Flur war, rief mir einer hinterher, ich solle mir nur nicht einbilden, daß ich mit der nächsten S-Bahn in den Westen abhauen könnte. ‚Die Genossen vom Staatssicherheitsdienst werden eine Weile auf dich aufpassen, Kollege Wismach!’”
Kurt Wismach geht an diesem Tag zu seiner Brigade zurück und arbeitet seine Schicht zu Ende. Als er am Abend das Werkstor passiert und wieder zur Haltestelle der Straßenbahn geht, sind die Aufpasser vom Staatssicherheitsdienst wieder hinter ihm her. Wieder beziehen sie vor seiner Haustür Posten.
An diesem Abend spricht Kurt Wismach zum erstenmal mit seiner Verlobten Helga über Flucht. Sie beschließen, in den Westen zu gehen. Kurt Wismach weiß, daß er fast alles zurücklassen muß, was er sich in seinem Leben erarbeitet hat. Nur ein paar kleine Wertsachen wird er mitnehmen können. – Während unten vor seinem Haus der Staatssicherheitsdienst Wache steht, sortiert der Kabelwerker die besten Stücke aus seiner Briefmarkensammlung aus, tütet sie in zwei Umschläge ein und steckt sie in die Handtasche seiner Verlobten. „Dann haben wir auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht gewartet ...”
Das Verhör des Arbeiters Kurt Wismach ist eine harmlose Sache, verglichen mit dem, was vier Angeklagte an diesem 11. August vor dem Obersten Gericht der Deutschen Demokratischen Republik durchzustehen haben. Vor mehr als hundert geladenen Zuschauern aus Partei und Betrieben beginnt an diesem Freitag gegen die Ostberliner Dr. Werner Herde und Manfred Wegener, gegen die Westberlinerin Margarete Pauels und gegen die aus Jüterbog/DDR stammende Helene Vogt ein politischer Schauprozeß. DDR-Generalstaatsanwalt Funk bezichtigt die vier Angeklagten, „fortgesetzt gegen die politischen und ökonomischen Grundlagen der DDR” gearbeitet zu haben. Sie sollen „Menschenhandel und Kopfjägerei” betrieben haben. Auf gut deutsch: Die vier Angeklagten sollen Einwohner der DDR dazu überredet haben, in die Bundesrepublik zu gehen, und ihnen im Auftrag von westdeutschen Firmen Stellenangebote gemacht zu haben.
Die Juristen der DDR wollen in diesem sogenannten „Menschenhändler-Prozeß” offenbar noch Beweise für die dringende Notwendigkeit der „Sicherung der Staatsgrenze” zuliefern. Gleich zu Prozeßbeginn macht Generalstaatsanwalt Funk klar, worum es geht: „Das System des Menschenhandels ist ein wesentliches Element des Kalten Krieges und ein Bestandteil der unmittelbaren Vorbereitung eines Welt-Atomkrieges, der nach der aggressiven Planung der Bonner Hitler-Generale in Deutschland seinen Anfang nehmen soll!” Alle Menschen, die die DDR verlassen haben, seien entweder „unreife, labile Elemente” oder „Verräter” oder „Opfer von kriminellen Machenschaften kapitalistischer Seelenaufkäufer”. Als Nachweis dazu reicht dem Staatsanwalt bereits die Lektüre von Westzeitungen oder das Hören und Sehen von westlichen Rundfunk- und Fernsehsendungen. Und als Beweis für „Menschenhandel” gilt schon, wenn jemand DDR-Bürger auf gut bezahlte offene Stellen in der westdeutschen Wirtschaft aufmerksam macht.
Anfang der 60er Jahre herrscht im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Hochkonjunktur. Überall werden Fachkräfte gesucht, in der Industrie, im Baugewerbe, im Handwerk ebenso wie in Universitäten, Schulen und Krankenhäusern. Die „Brüder und Schwestern aus der Zone” – wie westdeutsche Politiker die Deutschen in der DDR nennen – sind überall herzlich willkommen, besonders Ingenieure, Techniker und Facharbeiter. Und es kommen immer mehr, von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, von Tag zu Tag.
An diesem 11. August 1961 werden im Aufnahmelager Berlin-Marienfelde 1532 neue Flüchtlinge aufgenommen. Die meisten von ihnen sind junge Männer und Frauen im Alter zwischen 20 und 40; aber auch Rentner und Kinder drängen sich in langen Schlangen vor den Registrierungsstellen. Einer von ihnen ist der 150 000. Flüchtling in den knapp siebeneinhalb Monaten dieses Jahres. „Der freiwillige Massenauszug”, schreibt die Westberliner Boulevardzeitung „BZ”, „kennt kein Beispiel in der Geschichte. 150 000 gaben ihre Heimat auf und flüchteten vor der kommunistischen Diktatur in die Freiheit.”
Derselbe Vorgang wird von der in Ostberlin erscheinenden Zeitung „Neues Deutschland” so gesehen: „Westberlin ist zum Zentrum des internationalen Menschenhandels geworden!” Eine Kampagne gegen den sogenannten Menschenhandel wird seit Tagen in den Städten, Dörfern und Betrieben der DDR von der Sozialistischen Einheitspartei und von der Freien Deutschen Jugend (FDJ) organisiert. Danach fordern Ärzte des Bezirks Frankfurt/Oder ihre Landsleute auf, „im Interesse des Friedens und ihrer eigenen Sicherheit weder Reisen nach Westdeutschland noch Besuche in Westberlin zu melden”. – Die Besatzung des Baggers 617 „des Muldenheimer Braunkohlenwerkes Einheit” meldet: „Wir sehen der verbrecherischen Bonner Politik ebenfalls nicht tatenlos zu, auf unsere Forderung hin wurde im Tagebau ein Komitee zur Verhinderung des Menschenhandels gebildet!” – Die Brigade „Junge Garde” aus dem Dorf Lübbenau verspricht sogar, Hand anzulegen: „Sollte es noch mal ein Kopfjäger wagen, in unsere Reihen einzudringen, so werden wir ihn beim Kanthaken nehmen und mit dem Hintern in die Kalkgrube setzen.” Den vier Angeklagten vor dem obersten DDR-Gericht droht beim „Menschenhändler-Prozeß” Schlimmeres – auf „Anstiftung zur Republikflucht” stehen hohe Freiheitsstrafen, in besonders schweren Fällen sogar „Lebenslänglich”.
Doch wie sich bald herausstellt, stehen die Angeklagten nicht im Mittelpunkt des Prozeßgeschehens, sondern ein Mann, den der Generalstaatsanwalt als „Zeugen besonderer Art” ankündigt. Vor dem obersten DDR-Gericht tritt auf, der DDR-Bürger Günter Maske. Er gehört, so der Anklagevertreter, „zu jenen Menschen, die im Dienst des Friedens und mit Zustimmung des Ministeriums für Staatssicherheit auf eigenen Wunsch beim amerikanischen Geheimdienst mitgearbeitet haben und die durch ihre patriotische Haltung helfen, die verbrecherischen Methoden der amerikanischen Agentenorganisation vor aller Welt zu entlarven”. Der Agent Maske sagt aus, er sei bei einem Besuch in Westberlin vom amerikanischen Geheimdienst CIA angeworben worden. Er habe unter dem Decknamen „Pulvermüller” fünf Jahre lang zum Schein für den CIA gearbeitet. Er sei „innerhalb einer Spezialabteilung tätig gewesen, die sich mit organisiertem Menschenhandel befaßt”. (Protokollvermerk: „Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal.”)
Maske alias Pulvermüller packt aus: Sein amerikanischer Chefagent, ein Mister Ledermann, habe ihm Briefe an Wissenschaftler, Techniker, Ärzte und Facharbeiter zur Weiterleitung übergeben. Das seien sogenannte Lockbriefe