Die Mauer. Jürgen Petschull

Die Mauer - Jürgen Petschull


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Forderung: Innerhalb von sechs Monaten, bis zum 27. Mai 1960, sollen die Westmächte aus Berlin abziehen, soll Westberlin in eine „entmilitarisierte freie Stadt” umgewandelt sein. Für den Fall, daß sich die Westmächte einer solchen Regelung widersetzen, kündigt der Moskauer Machthaber den Abschluß eines separaten Friedensvertrags mit der DDR an. Die Folge: Die DDR würde die alleinige Kontrolle aller Zugangswege nach Westberlin erhalten, zu Lande, zu Wasser und auch in der Luft. Das bedeutet zwangsläufig, daß das Recht ungehinderten Durchgangsverkehrs alliierter Truppen nach Berlin erlischt. Und das heißt auch, daß der gesamte Zivilverkehr von und nach Westberlin und zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins von der DDR überwacht wird.

      Der amerikanische Präsident Eisenhower, der französische Staatspräsident de Gaulle und der britische Premierminister Macmillan konsultieren die Bundesregierung und lehnen die Forderungen der Sowjets kategorisch ab. Die deutschen Politiker fürchten, daß Berlin ohne westlichen Militärschutz keine freie, sondern eine „vogelfreie” Stadt sein würde, die sowjetischen und deutschen Kommunisten wehrlos ausgeliefert wäre.

      Hintergrund des sowjetischen Ultimatums ist der gewaltige Exodus aus der DDR. Seit die deutsche Teilung 1949 vollzogen wurde, sind Jahr für Jahr mehr als 200 000 Menschen, insgesamt bereits 2,6 Millionen, aus dem sozialistischen Ostdeutschland in das kapitalistische Westdeutschland abgewandert. Von neun DDR-Bürgern ist einer in den Westen geflüchtet. Die meisten der Flüchtlinge nahmen den kürzesten und leichtesten Weg – über die offene Sektorengrenze von Ost- nach Westberlin.

      Dem „Ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden” laufen die Arbeiter und Bauern weg. Aber auch hochqualifizierte Fachkräfte. Aus den Chemie-Kombinaten gehen Forscher zu Hoechst oder Bayer Leverkusen. Ingenieure aus Eisenhüttenwerken und Bergbaubetrieben ziehen ins Ruhrgebiet. Ärzte und Apotheker machen im Westen Praxen und Geschäfte auf. Professoren und Lehrer flüchten vor dem kommunistischen Dogmatismus, dem sie sich unterwerfen müssen. Denn im Wirtschaftswunderland Westdeutschland wird den ehemaligen DDR-Bürgern nicht nur Wohlstand, sondern obendrein noch Demokratie geboten; ein parlamentarisches Parteiensystem, Meinungsfreiheit, die Möglichkeit zu reisen, wohin man will.

      Noch ein weiteres Problem plagt die DDR-Volkswirtschaft: Während allein in Ostberlin 45 000 Arbeitskräfte fehlen, fahren 53 000 Ostberliner Tag für Tag zur Arbeit nach Westberlin. Die sogenannten „Grenzgänger” beziehen die Hälfte ihres Lohns in harter D-Mark. Die können sie entweder zum Kurs von 1:4 gegen Ostmark eintauschen oder sich damit in Westberlin Lebensmittel und Luxusgüter kaufen, von denen DDR-Arbeiter nur träumen.

      Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre werden die Folgen des großen Exodus für die Deutsche Demokratische Republik dramatisch. Wegen fehlender Arbeitskräfte müssen Teile der Ernte auf den Feldern bleiben. Volkseigene Industriebetriebe können Liefertermine nicht mehr einhalten. Exportaufträge gehen verloren. In Landkreisen und Kleinstädten ist die medizinische Versorgung der Bevölkerung gefährdet.

      Durch die offene Grenze nach Westberlin – durch Flüchtlinge und Grenzgänger – entsteht der DDR-Volkswirtschaft Jahr für Jahr ein Schaden von 3,2 Milliarden Mark. Noch größer ist der Schaden für das Ansehen des Kommunismus in der Welt, besonders in den ideologisch noch nicht festgelegten Entwicklungsländern. Und das beunruhigt die großen Brüder der DDR im Moskauer Kreml mindestens ebensosehr wie die Wirtschaftsprobleme des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden. Deswegen stellt Chruschtschow sein Berlin-Ultimatum. Deswegen soll die DDR durch eine Kontrolle der Zufahrtswege die Möglichkeit bekommen, den Flüchtlingsstrom zu stoppen.

      Die Westalliierten wollen die sowjetische Drohung gegen die Viermächte-Stadt Berlin zunächst auf dem Verhandlungswege vom Tisch bekommen. US-Präsident Dwight D. Eisenhower lädt Nikita Chruschtschow zu Gesprächen in die Vereinigten Staaten ein. Chruschtschow nimmt an. Er beginnt seine USA-Reise mit einem aggressivem Auftritt vor den Vereinten Nationen in New York, bei dem er mit einem Schuh auf das Rednerpodium schlägt, um seine Beschimpfungen der westlichen Imperialisten und Kriegshetzer wirkungsvoll zu unterstreichen.

      Nach diesem stürmischen Auftakt jedoch verlaufen die Gespräche mit Eisenhower überraschend friedlich, ja freundschaftlich. Beim Abschluß des Staatsbesuches in Camp David präsentieren sich die beiden mächtigsten Männer der Welt der staunenden Öffentlichkeit als gütige Großväter. Sie einigen sich, daß über Berlin erst bei einem Viermächte-Gipfeltreffen im Mai 1960 in Paris verhandelt werden soll. – Doch zehn Tage vor der Konferenz wird ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug vom Typ U 2 über dem Gebiet der Sowjetunion abgeschossen. Empört über die (angebliche) Hinterlist des amerikanischen Präsidenten läßt Chruschtschow das Pariser Treffen platzen. Er verschiebt die „Lösung des Berlin-Problems” bis nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen.

      Eisenhower kandidiert 1960 nicht mehr. Sein Vizepräsident Richard M. Nixon verliert die Wahl völlig überraschend und ganz knapp gegen einen erst 43 Jahre alten katholischen, gutaussehenden Außenseiter: Am 20. Januar 1961 wird John F. Kennedy als 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Schon kurz nach seinem Amtsantritt sagt der jüngste Präsident in der Geschichte der USA: „Die Welt muß wissen, daß wir für die Freiheit Berlins kämpfen werden, denn wir kämpfen damit für die Freiheit von New York und Paris.” Doch kurz darauf erlebt der dynamische junge Mann im Weißen Haus eine schwere Niederlage. Eine von der US-Regierung unterstützte, vom Geheimdienst CIA vorbereitete und von Exilkubanern ausgeführte Invasion des von Fidel Castro regierten kommunistischen Kuba scheitert kläglich. Das „Desaster in der Schweinebucht” wird vor allem Kennedy angelastet.

      Chruschtschow glaubt, mit dem unerfahrenen jungen Mann leichtes Spiel zu haben. Er lädt Kennedy zu einem Gipfelgespräch über eine Lösung des Berlin-Problems nach Wien ein. Kennedy, der dringend einen außenpolitischen Erfolg braucht, nimmt an. Doch das Treffen der beiden ungleichen Regierungschefs endet unversöhnlich. Chruschtschow wiederholt seine alten Forderungen und droht mit Krieg. Kennedy berichtet Vertrauten, er sei „erschüttert darüber, wie leichtfertig der sowjetische Regierungschef mit dem Gedanken eines Atomkrieges umgeht”. Vom Abschlußessen, das am Abend des 16. Juni 1961 in der Botschaft der Sowjetunion in Wien stattfindet, wird folgender Dialog überliefert:

      Chruschtschow zu Kennedy: „Krieg oder Frieden, das liegt nun in Ihrer Hand. – Wenn Sie eine Division nach Berlin schicken, schicke ich zwei!” – Kennedy: „Sie wollen Veränderungen erzwingen, nicht ich.” – Chruschtschow: „Der Friedensvertrag mit der DDR mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen wird bis zum Dezember dieses Jahres unterzeichnet.” – Kennedy: „Wenn das so ist, dann wird es ein kalter Winter.”

      Von Chruschtschows Unnachgiebigkeit und von seinen Drohungen geschockt, läßt Kennedy nach seiner Rückkehr in Washington eine neue Analyse des militärischen Kräfteverhältnisses um Berlin, in beiden Teilen Deutschlands und zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion anfertigen. Das Ergebnis ist erschreckend: Unter Eisenhower hatte die Strategie der atomaren Abschreckung und damit die nukleare Aufrüstung in den USA absoluten Vorrang vor dem Ausbau der konventionellen Nachrüstung gehabt. Nun sind die USA und ihre westlichen Alliierten im Gegensatz zur Sowjetunion nicht ausreichend auf einen regional begrenzten, konventionellen Konflikt um Berlin vorbereitet.

      Nach Informationen aus dem Weißen Haus und dem Pentagon stellt das Nachrichtenmagazin „US News and World Report” eine düstere Prognose für einen möglichen Krieg: „In Ostdeutschland stehen 26 kampfbereite Divisionen (20 sowjetische, sechs ostdeutsche). In Westdeutschland sind 22 Divisionen stationiert (sechs amerikanische, sieben westdeutsche, neun britische und französische). Im Fall eines bewaffneten Konflikts können die Sowjets in kürzester Zeit 50 weitere Divisionen an die Front bringen.” Um dieser gewaltigen Übermacht standzuhalten – so rechnet das Magazin weiter – seien die US-Streitkräfte gezwungen, schon bald taktische Atomwaffen einzusetzen. Die Sowjets würden mit gleicher Waffe zurückschlagen. „Die Seite, die zu verlieren droht, muß dann zwangsläufig ‚strategische Nuklearwaffen’ einsetzen – das bedeutet, Ziele im Heimatland des Gegners mit Atomraketen zu zerstören. So würde ein zunächst konventionell geführter Waffengang um Berlin schon bald zwangsläufig als atomarer Vernichtungskrieg der Großmächte enden ...”

      Nach dieser bitteren Erkenntnis ordnet Präsident Kennedy


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