Die Mauer. Jürgen Petschull

Die Mauer - Jürgen Petschull


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mit oder ohne Nato und Warschauer Pakt. Helmut Kohls von den Sozialdemokraten unterstützter sogenannter „Zehn-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung“ hat ein großes Deutschland mit sogenannten „föderativen Strukturen“ als Ziel. Die DDR wäre darin nicht Partner und schon gar nicht Alternativ-Modell, sondern letzten Endes ein eingemeindeter Bundesstaat.

      Der Nestor der DDR-Reformbewegung, Stefan Heym, sieht in Kohls Plan „die Ouvertüre zur Vereinnahmung der DDR“. Er und seine Kampfgefährten fürchten „nach der Bevormundung durch die SED eine neue Bevormundung durch das große Geld“. Wen wundert es nach den Erfahrungen in diesem Jahrhundert, daß von deutschem Boden aus ein Gespenst um die Welt geht: die Furcht vor einem von Amerikanern, Engländern und Israelis bereits sogenannten „Vierten Deutschen Reich“. Von den historisch wohlbegründeten Ängsten in Polen und in der Sowjetunion nicht zu reden.

      Während im Osten Europas Entspannung nach innen und außen praktiziert wird, ist bei uns noch nicht einmal die geplante Wehrpflichtverlängerung vom Tisch. Tiefflieger terrorisieren weiter die eigene Bevölkerung und üben „Gegenangriffe“ gegen einen weit und breit nicht mehr auszumachenden potentiellen Angreifer. Noch immer sollen Milliarden für den „Jäger 90“ verpulvert werden, noch immer ist nicht dementiert, daß neue US-Kurzstreckenraketen mit noch tödlicheren Nuklear-Sprengköpfen auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes in Schußposition gebracht werden sollen.

      Nie war der „Wahnsinn Rüstung“ wahnsinniger als heute: Zielrichtung all dieser Vernichtungswaffen wären auch Schwerin, Dresden und Leipzig, Orte, in denen „unsere Brüder und Schwestern“ noch immer den Ruf auf den Lippen haben, der schon Geschichte gemacht hat. „Wir sind das Volk ...!“

      Jürgen Petschull

      Dezember 1989

      *

      Dieses Buch will Ursachen und Folgen der Ereignisse um den 13. August 1961 aufzeigen. Und es schildert die Freude der Menschen und die politischen Ereignisse, als 28 Jahre später die Mauer als Symbol des kalten Krieges zusammenbrach, als die Grenzen von Deutschland-Ost nach Deutschland-West geöffnet wurden. Bei den Arbeiten zu diesem Buch standen mir Dokumente (vor allem aus Washingtoner Regierungsarchiven) zur Verfügung, die bisher geheim waren, und Gesprächspartner, die bisher geschwiegen hatten. Für Informationen, Hinweise und Anregungen bedanke ich mich bei Zeugen und Mitwirkenden der Zeitgeschichte; besonders bei Willy Brandt und Egon Bahr, bei Professor Arthur Schlesinger jr. (Anfang der sechziger Jahre Berater Präsident Kennedys), Foy D. Kohler (damals stellvertretender US-Außenminister) und Allan Lightner (früher amerikanischer Gesandter in Berlin).

      1. Kapitel

      10. August 1961

      „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten”

      (DDR-Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht)

      Für Donnerstag, den 10. August 1961, hat das Meteorologische Institut der Freien Universität Berlin eine durch das Hochdruckgebiet ‚Petroklus’ verursachte Fortdauer des sommerlich warmen Wetters vorhergesagt. Die Berliner packen die Badehosen ein. Am Wannsee ist heute auch der letzte Strandkorb besetzt. Aus den Kofferradios scheppern die neuesten Schlager. Gerhard Wendland singt „Tanze mit mir in den Morgen”, Bill Ramsey schwärmt von der „Zuckerpuppe aus der Bauchtanzgruppe”, das Orchester Bert Kaempfert spielt „Wonderland by Night”.

      Teenager spazieren abends mit wippenden Petticoat-Röcken und Pferdeschwanz-Frisuren über die neonbeleuchteten Straßen. Junge Männer – Halbstarke genannt – tragen amerikanische Nietenhosen und kämmen sich die Locken wie ihr Rock’n’Roll-Idol Elvis Presley. Im Theater am Kurfürstendamm spielt Hildegard Knef die Hauptrolle in dem Stück „Nicht von gestern”. In den Kinos ist „Das Spukschloß im Spessart” mit Liselotte Pulver und Wolfgang Neuss der Lacherfolg der Saison.

      Für die bevorstehende Berliner Funkausstellung wird eine technische Neuerung angekündigt: zum erstenmal soll ein „stereophonisches Rundfunkkonzert” direkt ausgestrahlt werden; zum Empfang, so heißt es, brauche man „zwei auf verschiedene Frequenzen eingestellte UKW-Geräte, von denen das eine den linken Kanal wiedergibt, während das andere den rechten überträgt”.

      Sportfreunde reden über den bevorstehenden Kampf des beliebten Mittelgewichtsboxers Bubi Scholz gegen einen farbigen Südamerikaner. Uwe Seeler wurde „Fußballer des Jahres”. Heinrich Lübke ist Bundespräsident. In sechs Wochen, am 17. September, wird in der Bundesrepublik gewählt; doch der Wahlkampf schleppt sich bisher spannungslos dahin, denn der 85 Jahre alte amtierende Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) gilt als haushoher Favorit gegen den erst 48jährigen SPD-Kandidaten Willy Brandt, den Regierenden Bürgermeister von Berlin.

      Politisch interessierte Bürger Westberlins, die für den Bonner Bundestag ohnehin nicht wählen dürfen, haben in diesen Augusttagen andere Sorgen. Denn am sommerlich-friedlichen Himmel über der früheren Reichshauptstadt zieht gefährliches Unwetter auf: Droht ein Krieg um Berlin?

      Die Zeitung „Der Tagesspiegel” berichtet heute über zwei militärische Ereignisse:

      Das eine erfreut in Berlin-Dahlem beim deutsch-amerikanischen Volksfest 20 000 Zuschauer. Dort wirbeln GIs bei einem schmissigen Schauexerzieren zum Boogie-Woogie-Rhythmus ihre Gewehre durch die Luft.

      Das Zweite eignet sich nicht zur Volksbelustigung. Unter der Schlagzeile „US-Luftlandeübung für 4000 Fallschirmjäger” berichtet die Zeitung von einem Manöver im US-Bundesstaat Carolina. Codewort: „Schneller Schlag”. Annahme der Übung: Ein befreundetes kleines Land wird vom Feind umzingelt und dann besetzt. Aufgabe: Fallschirmjäger, Infanterie- und Luftwaffen-Einheiten sollen erst die Feinde vertreiben und dann die eingeschlossenen Freunde über eine große Luftbrücke mit Lebensmitteln versorgen.

      Eine Militärübung, die den Berlinern aus der Blockadezeit 1948/49 nur allzu bekannt vorkommt.

      Damals wollte die Regierung der Sowjetunion mit einem Federstrich das Potsdamer Viermächte-Abkommen über Berlin aufkündigen. Ganz Berlin sollte ihrer Besatzungszone einverleibt werden. Die Westalliierten – Amerikaner, Briten und Franzosen – widersetzten sich. Daraufhin blockierten die Sowjets die Zufahrtswege, die alle durch ihre Besatzungszone in die frühere deutsche Hauptstadt führen. Die Amerikaner richteten zur Versorgung der eingeschlossenen Bevölkerung eine Luftbrücke ein. Mit Lebensmitteln beladene Transportmaschinen – von den Berlinern „Rosinenbomber” genannt – landeten Stunde um Stunde auf dem Flugplatz Tempelhof. Ein Jahr lang. Bis die erfolglos gewordene Blockade Westberlins aufgegeben wurde.

      Jetzt, zwölf Jahre später, drohen die Sowjets wieder. Aber diesmal ist Berlin besser auf eine Blockade vorbereitet. Seit Monaten schon rollen – unbemerkt von der Bevölkerung – Tausende von Kühlwagen und Kohlewaggons über Straßen und Schienen aus Westdeutschland in den Westsektor der geteilten Stadt. In neuerrichteten Lagerhäusern stapeln sich steifgefrorene Schweinehäften und Rinderteile bis unter die Decken. Butter und Margarine, Zucker und Mehl, Kaffee und Trockenkartoffeln lagern versteckt und gegen Diebstahl gesichert in stillgelegten alten Fabrikhallen. Jeder der 2,2 Millionen Westberliner – so hat der Senat in einer Studie errechnet – könnte ein Jahr lang mit täglich 2900 Kalorien ausreichend ernährt werden. Die Kohlehalden reichen aus, um die Stadt mit Heizmaterial, Gas und Strom zu versorgen. Medikamente im Wert von mehreren Millionen Mark liegen bereit. Es ist so viel Zement gehortet, daß Berlins Bauarbeiter zehn Monate lang arbeiten könnten. Sogar eine Million Paar Schuhe wurde mit Steuergeldern eingekauft, damit die Berliner im Ernstfall keine kalten Füße bekommen.

      Der Ernstfall droht den Berlinern seit drei Jahren – aber noch nie war die Gefahr so groß wie in diesem August. „Der Geruch von Blut und Eisen hängt wieder über Europa”, schreibt das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel”: „Krieg um Berlin scheint möglich.”

      Seit dem 27. November 1958 treibt die politische Entwicklung um Berlin scheinbar unaufhaltsam auf einen militärischen Konflikt der beiden Supermächte Sowjetunion und USA zu, seit der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow den drei Westmächten ein Berlin-Ultimatum gestellt hat. Anders als 1948 will die Sowjetunion die drei Westsektoren der Stadt nicht unter eigene Kontrolle bringen. Diesmal droht Chruschtschow damit,


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