Gottes Angebote. Manfred Engeli
der Seele und des Geistes(Jes 53,2–5; 57,18–19)
Vielen Menschen fällt es schwer, dies zu glauben und Gottes Gnade auch anzunehmen. Dies zeigt das folgende Beispiel (Beispiel 1):
Die vom Leben enttäuschte, übergewichtige Frau war in einer Klosterschule erzogen worden. Sie litt unendlich unter der Schuld einer Abtreibung, die sie klar als Mord erkannt hatte. Als ich zu ihr von Gottes Angebot der Vergebung sprach, fuhr sie mich an: „Das ist zu billig! Dafür muss ich büßen und leiden!“ Trotz allem, was sie in ihrer Jugendzeit gehört hatte, konnte sie es nicht annehmen, dass Jesus die Strafe stellvertretend für sie getragen und einen unvorstellbar hohen Preis dafür bezahlt hatte. Ihre Antwort machte mich hilflos – es gab keine andere Hilfe für sie.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass hinter allen göttlichen Angeboten und Lösungen das Werk der Erlösung steht, das Jesus durch seine Menschwerdung und seinen Tod am Kreuz vollbracht hat. Gott hat sich entschieden, die zerstörerischen Auswirkungen des Sündenfalls19 nicht durch kleine „Reparaturen“ zu beheben, sondern schöpferisch zu überwinden: durch eine neue Schöpfung des Menschen in Jesus Christus. Dies ist das Grundangebot Gottes für jeden Menschen.20 Durch die klare Hinwendung zu Jesus Christus als Erlöser und Herrn, die im Neuen Testament als Umkehr oder Bekehrung umschrieben wird, eröffnet sich für jeden Menschen der Weg in die Gotteskindschaft und in die in Jesus für ihn vorbereitete Neuschöpfung:
Wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung;
das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.21
Wir sind sein Gebilde, in Christus Jesus geschaffen zu guten Werken,
die Gott vorher bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen.22
Gott will uns einen neuen Start ermöglichen, es uns einfach und leicht machen. Dafür hat er alles, bis hin zu den einzelnen Werken, die wir tun sollen, liebevoll für uns vorbereitet. 23 Die Angebote Gottes sind wie einzelne Facetten des Erlösungswerkes Christi; sie ermöglichen es uns, portionenweise in unsere individuelle Neuschöpfung einzutreten. Wenn wir ein göttliches Angebot annehmen, tragen wir zum wachstümlichen Umgestaltungsprozess bei, den das Neue Testament „Heiligung“ nennt.
In der Finalen Seelsorge kommt Gottes Angeboten eine solche Schlüsselstellung zu, dass ich einige Hinweise geben möchte, wie sie im seelsorgerlichen Gespräch eingeführt und angenommen werden können. Der Beitrag des Helfers besteht je in drei Dingen:
Beim Versuch zu erkennen, welches für den Klienten der nächste Schritt in die Neuschöpfung sein könnte, wird dem Helfer auch oft klar, welches Angebot Gott ihm machen möchte.
Er teilt dem Klienten seine Gedanken mit und macht ihm Gottes Angebot verständlich. Dabei ist es wichtig, dass der Klient Gottes Hilfestellung als Entlastung versteht und sie nicht zu einer „frommen Pflicht“ macht. Gottes Angebote sollten nicht in bitterem Gehorsam angenommen werden.
Nun lässt er den Klienten frei entscheiden, ob er Gottes Angebot annehmen möchte oder nicht. Falls ja, wird besprochen, wie dies im Gebet geschehen kann.
Im Umgang mit Gottes Angeboten sind viel Sorgfalt und Behutsamkeit nötig, um keinen Druck auszuüben oder den Klienten zu manipulieren. Diese liebevoll freilassende Gesprächsführung gehört zu unserem Auftrag, „die Seele des Klienten einen Weg zu führen“. An drei göttlichen Angeboten – Vergebung, Reinigung der Erblinie und Sorgenfreiheit – möchte ich nun exemplarisch aufzeigen, wie der Weg aussehen kann, den wir die Seele des Klienten führen wollen, damit Gottes Angebot zum Ziel kommt; sein Ziel ist immer Friede.24
1.3.2. Vergeben
Dieser biblische Auftrag25 ist eigentlich ein göttliches Angebot. Dass wir vergeben, ist für uns selber so unverzichtbar wichtig, dass Gott daraus ein Gebot gemacht hat. Wenn Gott uns einen Auftrag gibt, gilt immer: „Dieu donne ce qu‘il ordonne.“26 Er will uns also helfen, diesen Schritt, wie schwierig er auch sein mag, tun zu können.
Weil er die zerstörerischen Folgen des Unversöhntseins kennt, verlangt Gott aus Liebe zu uns, dass wir vergeben sollen. Das Unvergebene zerfrisst den Menschen wie eine Säure; Unversöhntheit macht lebensunfähig. Wer nicht vergibt, hält seinen Schmerz fest, und seine Seele kann nicht gesunden; Vergebung ist der Schlüssel zur inneren Heilung. Wer Menschen nicht aus ihrer Schuld entlässt, lebt in seinem Lebenshaus unaufhörlich mit ihnen zusammen. Deshalb schafft Vergebung eine große Befreiung: Wer andere Menschen entlässt27, kann in seinem Lebenshaus wieder Ruhe und Frieden finden.
Juristisch gesehen, ist Vergebung ein einfacher Willensakt. „Ich vergebe meinem Vater alles, was er mir Ungutes getan hat“, würde genügen; diese Vergebung hat Gültigkeit. Aber Gott geht es um mehr. Der Schritt der Vergebung soll in unserer Person Frieden schaffen. Dafür genügt der Willensakt nicht. Um ans Ziel zu gelangen, muss unsere Seele einen Weg gehen können. Als Seelsorger müssen wir diesen Weg kennen und die Seele des Klienten führen können. Wir sollten aber auch verstehen, worum es beim Vergeben eigentlich geht: Es geht dabei nicht um die Frage der Wahrheit und der Gerechtigkeit – die ist allein Gottes Sache –, sondern um das Ausräumen der Vorwürfe. Überall, wo eine innere Anklage ist – sie möge gerechtfertigt sein oder nicht28 –, braucht es Vergebung. Übersicht 4 zeigt die wichtigsten Etappen auf dem Weg des Vergebens auf (gegebenenfalls sind nicht alle nötig; es gilt, sich von Gott leiten zu lassen).
Übersicht 4 |
Vergeben – die Seele einen Weg führen: |
Das Herz ausschütten; Schmerz, Wut, Scham usw. aussprechen und zu Gott hin abfließen lassen (vgl. Ps 62,9). |
Sich der inneren Vorwürfe bewusst werden, die Anklage formulieren; der Helfer fragt nach und ermutigt, bis alles klar beim Namen genannt auf dem Tisch liegt. |
Eintreten in Jesu Vergebungsbereitschaft. |
Im lauten Gebet Punkt um Punkt im Namen Jesu vergeben; der Helfer kann nachfragen und gewisse wichtige Vergebungsschritte im Gebet bestätigen. |
Ist die Bereitschaft zur „2. Meile“ (vgl. unten) vorhanden? Dazu ermutigen. |
Wenn Beziehungen noch weiter bestehen: Annahme des anderen in seinem So-Sein; in die vergebende Grundhaltung gemäß Römer 15,7 eintreten. |
Bitte um innere Heilung, Wiederherstellung, Wiederaufrichtung der Würde usw.; falls nötig auch um Löschung quälender Erinnerungen. |
Von nun an gilt über dem Vergebenen Römer 8,28: alles muss denen, die Gott lieben, zum Guten mitwirken – es gibt keine Ausnahmen. Diese Verheißung im Glauben anzunehmen und an der gewährten Vergebung festzuhalten, bewahrt das Herz im Frieden. |
Gewisse Etappen des Weges, den unsere Seele gehen muss, um zu Gottes Ziel zu kommen, fallen uns manchmal schwer. Zu diesen gehört die Notwendigkeit, uns die inneren Anklagen ehrlich einzugestehen. Hierzu ein Beispiel (Beispiel 2):
Als die Diakonisse bei der Bearbeitung ihrer Mutterbeziehung zum Ausdruck brachte, sie möchte ihrer Mutter vergeben, erklärte ich ihr, welchen Weg wir miteinander gehen würden. Da rief sie aus: „Sie anklagen, das werde ich nie tun; das darf man doch nicht!“ Ich erklärte ihr, dass es ja nur darum gehe, die Anklagen, die sie seit Langem in ihrem Herzen trage, klar zu formulieren. Sie blieb bei ihrer Weigerung; und ich beharrte darauf, die Anklage müsse formuliert werden.
Erst im übernächsten Gespräch war sie dazu bereit. Als sie ihre Vorwürfe dann laut auszudrücken begann, verstand ich, weshalb sie sich geweigert hatte: „Mutter, ich hätte dich umbringen können!“, brach es aus ihr heraus. Sie erschrak selber über die Tiefe ihrer Wut. Ich half ihr, so gut ich konnte, formulierte gewisse Anklagen klarer, fragte nach, bis alles ausgeräumt war: „Gibt es nicht noch mehr? Ist das alles? Ist der Sack ganz leer?“ Mitten in der Anklage wurden ihr ihre eigenen Fehler so stark bewusst, dass sie gleich auch ihre eigene Schuld vor Gott bringen wollte. Sie war dann aber einverstanden, den Weg des Vergebens zuerst