Monkey Mind. Ralph De La Rosa
es mir immer schwerer fiel, mich anständig zu verhalten.
Klingt übertrieben dramatisch? Das war es. Später wurde mir klar, dass mein Körper und Geist sich so verhielten, als würde ich angegriffen. Alle körperlichen Anzeichen dafür waren vorhanden. Ein Energieschub schoss in Arme und Beine, der sich in geballten Fäusten und wippenden Füßen entlud. Diese automatische körperliche Reaktion ist dann hilfreich, wenn ich vor etwas weglaufen oder mich mit Fäusten oder einer Waffe verteidigen muss. Meine Gedanken waren ganz im Opferprogramm, Kampf oder Flucht – ausgelöst von meinem limbischen System. Weil es aber niemanden gab, gegen den ich kämpfen oder vor dem ich hätte fliehen müssen, wandten sich meine Gedanken der Frage zu, ob ich verflucht war oder ob die Sterne irgendwas damit zu tun haben könnten. Wahrscheinlich arbeitete da gerade meine Inselrinde, eine Region der Großhirnrinde, die unklaren Situationen Sinn zu geben versucht.18 Auf der körperlichen Ebene waren selbst Wut und Empörung ein Resultat der legendären Kampf- oder Fluchtreaktion, die sich über Jahrtausende hinweg entwickelt hat und unseren Körper in Gefahrsituationen mobilisiert.
Mein Problem lag in der Wahrnehmung. Es gab ja keine reale Bedrohung; das aber war meinem Gehirn in dem Moment egal. Es stimmt schon, dass meine Lebensgrundlage (und logisch weitergedacht damit auch mein Überleben) gefährdet war, aber die einzigen konkreten Bedrohungen, die während dieses Telefonats vorlagen, waren vergeudete Zeit, banale Ärgernisse und das unangenehme Gefühl, wie ein unwichtiger Kunde behandelt zu werden (und nicht als Person). Ich erlebte eine emotionale Reaktion, die nicht im Verhältnis zur eigentlichen Situation stand und die wahrscheinlich noch verschärft wurde durch die Tatsache, dass ich es als traumatisierter Mensch hasse, von anderen eingeschränkt zu werden. Vielleicht empfindest du lange Telefonate mit dem Kundenservice als nicht so sadistisch und beengend wie ich, aber ich garantiere dir, dass auch du eine eigene Wahrnehmung dieser Situation hast. Ohne dich persönlich zu kennen, bin ich sicher, dass du schon hyperdynamische Geisteszustände erlebt hast, in denen es für dich ums blanke Überleben ging, was aber in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Realität stand, mit der du konfrontiert warst.
Ärger beim Autofahren ist da ein typisches Beispiel oder unsere Reaktion, wenn unser Partner oder unsere Partnerin etwas tut oder nicht tut, über das wir, verdammt noch mal, schon dreimal gesprochen haben. Ich bin mir sicher, dass dieser emotionale Zustand dazu führt, dass wir Sachen sagen und tun, von denen wir eigentlich genau wissen, dass sie unangebracht sind. Es ist etwa so, als würde dich ein Teil in dir kontrollieren, während ein anderer Teil gezwungen ist, hilflos zuzusehen.
Ich weiß, dass es auch dir passiert, weil es uns allen passiert. Egal, wie viel wir an uns gearbeitet haben, wie oft wir meditieren oder ob wir versuchen, »nur positive Gedanken« in unser Gehirn einzutätowieren, irgendwann erleben wir alle unseren inneren Wirbelsturm. Dafür gibt es einen Grund – und es ist nicht unsere Schuld.
Evolution der Schildkröte, Evolution des Hasen
UNSER WISSEN ÜBER DIE EVOLUTION unserer Spezies hilft uns auch, solche unverhältnismäßigen Reaktionen besser zu verstehen. Denken wir an die immense Kluft zwischen unserer biologischen und sozialen Entwicklung. Die biologische Evolution ist ein unglaublich langsamer, schrittweiser Prozess. Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass es zwischen fünf und acht Millionen Jahre gedauert hat, bis wir uns von den Affen (mit denen wir gemeinsame Vorfahren haben, von denen wir aber nicht direkt abstammen; Anm. des Verlags) zu den unglaublich komplexen Wesen entwickelt haben, die wir heute sind. Fünf bis acht Millionen Jahre. Ein Grund dafür ist, dass es Generationen dauert, bis ein Gen als Reaktion auf das Umfeld des Organismus mutiert. Es dauerte beispielsweise etwa 364.000 Jahre, bis sich Augen wie unsere sich von lichtempfindlichen Flecken zu den einer Kamera ähnlichen Organen entwickelten, die sie heute sind.19
Die soziale Evolution des Menschen ist eine ganz andere Geschichte. Die menschliche Spezies gibt es bereits seit 100.000 bis 200.000 Jahren (also ungefähr halb so lang wie die Entwicklung der Augen). Unsere frühesten Gemeinschaften wurden gegründet von Nomaden, Jägern und Sammlern, bis sich vor etwa 12.000 Jahren die Landwirtschaft entwickelte. Rechnen wir nach: Es dauerte allein 188.000 Jahre, um herauszufinden, wie man Getreide anbaut und Vieh züchtet. Machen wir jetzt einen Zeitsprung von 11.800 Jahren, vom Beginn der Landwirtschaft bis zur industriellen Revolution. Damals haben wir plötzlich die Fähigkeit entwickelt, Produkte in kürzerer Zeit zu produzieren und zu transportieren. Auf dem Zeitstrahl der technischen Evolution dauerte dies kaum länger als ein Wimpernschlag und die menschliche Spezies vernetzte sich weltweit. Unser soziales Umfeld begann, sich unglaublich rasch weiterzuentwickeln. Weniger als 200 Jahre nach der industriellen Revolution verfügen wir über Mobiltelefone, also etwa ab dem Moment, als BARACK OBAMA seinen Sitz im Weißen Haus eingenommen und KATY PERRYS I kissed a girl den ersten Platz der Charts erobert hat. Von da an veränderten sich unsere Interaktionen und die Herangehensweise an das Leben wiederum drastisch.
Die soziale Evolution hat sich so sehr beschleunigt, dass radikale Neuorientierungen wie diese innerhalb weniger Jahre stattfinden. Auf der anderen Seite ist unsere Biologie dazu verdammt, im Schildkrötentempo zu kriechen, etwa so, als ob du Instagram auf einem Klapphandy installieren wolltest. Unsere veraltete Hardware passt nicht gut zu unserer sozialen Software und zu ihren ständig wachsenden, komplexen Entwicklungen. Das Gehirn, das Nervensystem und die Sinne sind darauf eingestellt, mit weit existenzielleren und gefährlicheren Situationen umzugehen als den Lebensumständen vieler Menschen in hochentwickelten Ländern. Das gilt besonders für diejenigen unter uns, die sich aufgrund ihrer hellen Hautfarbe, ihrer dominierenden Geschlechtermerkmale, ihres kräftigen Körpers, ihrer heterosexuellen Orientierung und ausreichend finanzieller Ressourcen im Vorteil befinden.
Vor diesem Hintergrund ist es hoffentlich nicht mehr so schockierend für dich, dass ich (»Oh Gott! Ein Meditationslehrer!«) mich im Kampf-oder-Flucht-Modus befand, als ich in meiner geschützten Wohnung saß und telefonierte. Immer wieder müssen wir erleben, wie unser Nervensystem viel härter arbeitet, als es eigentlich müsste, und uns dadurch in unangenehme Situationen bringt. Es liegt ganz einfach an den Umständen, in die wir hineingeboren wurden; und deren Auswirkungen gehen über unseren persönlichen Rahmen hinaus. Unsere veraltete und ruhelose biologische Hardware spielt eine wesentliche Rolle bei Kriegserklärungen, Umweltverschmutzung, Gier und Gewalt. Wir spüren instinktiv, dass wir in einer Welt leben, in der es um »fressen oder gefressen werden«, »nur die Harten kommen in den Garten« und »das Überleben des Stärkeren« geht.
Diese Mentalität ist überholt, sie ist ein Produkt einer Biologie, die für das Überleben in vergangenen Zeiten gemacht war. Heute löst sie großes Chaos bei uns aus. Auch wenn wir nicht tatsächlich in einer »Jeder-gegen-jeden«-Gesellschaft leben, lassen uns unsere übersteigerten Verteidigungsstrukturen doch glauben, dass es so sei. Diese Vorstellung hat in der Entwicklung von auf Armut und Unterdrückung basierenden Systemen eine große Rolle gespielt, durch die Menschen ausgegrenzt und zu oft in tatsächlich lebensbedrohliche Situationen gestürzt werden. Es wird zwar noch etwas dauern, aber es ist durchaus möglich, dass wir einmal unsere Evolution selbst steuern und diese unpassende Biologie neu ausrichten können. Und auch wenn eine solche Entwicklungsarbeit auf individueller und persönlicher Ebene geleistet werden muss, glaube ich fest daran, dass es auch auf globaler Ebene gelingen kann. Die Ansätze sehen wir heute schon.
Wir Mensch gewordenen Tiere sind immer noch Teil der Natur, und alles in der Natur hat seinen Platz und seine Bestimmung (natürlich gibt es auch Ausnahmen für diese Regel). Wenn die Blätter eines Baumes sterben und auf den Boden fallen, kompostieren sie und werden zu Nährstoffen für die Erde. Winde verteilen den Samen verschiedener Pflanzen an Orte, wo sie eine größere Chance haben, Wurzeln zu bilden. Wenn Raubtiere jagen, regulieren sie unbewusst die Population ihrer Beute, was die Ressourcen im Kreislauf der Natur im Gleichgewicht hält. So ziemlich jeder Aspekt eines jeden Organismus in der Natur hat sich so entwickelt, dass alles systematisch ineinandergreift. Unser Gehirn und unsere Gedanken sind da nicht anders. Unsere primitive biologische Hardware passt definitiv nicht zu unserer aktuellen Situation, aber trotzdem glaube ich, dass alles einen Grund und einen Zweck hat. Doch solange wir damit beschäftigt sind, uns selbst zu verteufeln, oder sicher sind, dass es »nun einfach mal so ist«, ohne