Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen
Der Kampf beginnt
Über den Autor Christoph Driessen
Zehn Fragen an … Christoph Driessen
Widmung
Für Barbara
Schreck in der Morgenstunde
Der Tag, der das Leben von Eva Ment für immer veränderte, begann damit, dass sie morgens eine tote Maus in ihrem Bett fand. Die Maus war sehr klein und hatte eine spitze Nase. Sie lag auf dem Rücken mitten auf dem schneeweißen Laken und hatte alle viere von sich gestreckt. Da das Maul ein wenig offen stand, konnte Eva zwei winzig kleine vorstehende Zähne erkennen.
„Jasper?“ Eva sah sich im Zimmer um. Aber der Kater hatte seine Gabe wohl nur abgelegt und war wieder verschwunden. Sie ließ sich aus dem Bett gleiten, schlüpfte in ihren Unterrock und tappte über den knarrenden Dielenboden. Im Haus war es still. Die Tür des Nachbarzimmers quietschte, als sie sie öffnete. Sie spähte hinein. Es war dunkel, weil die Läden noch geschlossen waren, nur durch einen Spalt fiel etwas Licht von draußen herein.
Sie tastete sich bis zur gegenüberliegenden Wand vor, wo ein Schrankbett stand, und zog die Vorhänge zurück. Auf dem Kopfkissen zeichnete sich eine wilde Haarmähne ab. „Gerrit!“, rief sie und fasste ihn an der Schulter. „Gerrit!“ Sie rüttelte an ihm. „In meinem Bett liegt eine tote Maus. Hast du gehört? Jasper hat mir eine tote Maus ins Bett gelegt. Aufwachen!“
„Lass mich in Ruhe!“, tönte es dumpf aus dem Kissen zurück. Eva ließ sich nicht beeindrucken: „Warst du gestern doch wieder mit den Jungs unterwegs? Gerrit, antworte!“
„Hör auf damit! Du hast mir gar nichts zu sagen!“
„Natürlich habe ich das, ich bin deine ältere Schwester.“ Diesen Satz hatte sie schon hundert-, nein tausendmal gesagt, und jedes Mal schoss ihr dabei durch den Kopf, dass sie ihm auch die Mutter ersetzen musste. Die Mutter, die drei Tage nach seiner Geburt im Wochenbett gestorben war. Auch Eva selbst hatte keine Erinnerung mehr an sie, denn sie war erst ein Jahr alt gewesen, als es passiert war. Allerdings war ihr ihre Mutter schon mehrmals im Traum erschienen. Ihre Züge waren immer klar umrissen, sie hatte große Ähnlichkeit mit Gerrit. Denn ihre Verwandten wurden nicht müde zu betonen, dass Gerrit seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten sei.
Gerrit war siebzehn Jahre alt und bildhübsch. Dabei sah er ganz und gar nicht so aus wie ein typischer holländischer Junge. Immer wieder wurde er mit dem dummen Scherz aufgezogen, sein Vater sei wohl ein spanischer Soldat gewesen. Gerrit hatte einen schwarzen Lockenschopf, große dunkelbraune Augen, mit denen er mal herausfordernd, mal melancholisch dreinblicken konnte, eine lustige geschwungene Nase und einen sinnlichen Mund. Aber am meisten liebte Eva die Grübchen in seinen Mundwinkeln, die sich immer dann bildeten, wenn er etwas Herausforderndes, Freches oder Spöttisches gesagt hatte. Nur dann waren sie zu sehen – und nicht etwa, wenn er einfach nur freundlich lächelte.
Dass Eva seine Schwester sein sollte, konnte man eigentlich nicht glauben. Eva hatte eine Haut, die fast so weiß war wie das Laken, auf dem jetzt die tote Maus lag, und vor allem hatte sie lange rote Haare. Rot mit einem Stich Orange. So wie die Schärpe, die ihr Vater jedes Jahr zum Festessen seiner Schützengilde anlegte. Oder wie der Hummer auf dem Stillleben, das bei Onkel Pieter an der Wand hing und über das Eva als kleines Mädchen immer mit den Fingern gestrichen hatte, um zu sehen, ob der Hummer nicht doch lebte. Eva kannte niemanden in Amsterdam, der so rote Haare hatte wie sie. Ihr Vater, ja, der hatte zwar auch welche, aber sie waren lange nicht so kräftig rot, sie erinnerten Eva eher an das Rotbraun des Ziegelsteins, in dem die prächtige Fassade des Bartolotti-Hauses an der Herengracht gemauert war.
In ihrer Kindheit, als sie die Haare noch offen hatte tragen dürfen, war sie eine Attraktion auf der Straße gewesen. Die Leute waren stehen geblieben und hatten sie angegafft. Mehrmals hatten Fremde ihr ungefragt hindurchgestrichen; einer hatte sich sogar zuvor mal erkundigt, ob die abfärben könnten. Von anderen Kindern war sie oft gehänselt worden. „Hexe, Hexe!“, hatten sie gerufen. Jetzt war in der Öffentlichkeit immer nur der Haaransatz über der Stirn zu sehen, alles andere verschwand unter einer strengen weißen Haube. Eva fand das schade. Sie mochte ihre Haare. Sie machten sie zu etwas Besonderem. Nicht in dem Sinne, dass sie sich als etwas Besseres gefühlt hätte. Aber die Haare sicherten ihr von vornherein eine gewisse Eigenständigkeit. Sie war nicht irgendein beliebiges Mädchen, sie war Eva Ment, Tochter des Bierbrauers Claes Corneliszoon Ment, Schwester des angehenden Bierbrauers Gerrit Ment, Besitzerin eines schwarz-grau getigerten Katers namens Jasper, wohnhaft in dem Haus Der Weiße Adler am Oudezijds Voorburgwal, gleich gegenüber der Alten Kirche, die exakt in der Mitte von Amsterdam stand.
Der Name Der Weiße Adler stammte von einem Giebelstein über der Haustür, auf dem ein Vogel zu sehen war. Gerrit behauptete immer, es sei bestenfalls eine Möwe, aber alle anderen sprachen von einem Adler.
Außer den roten Haaren hatte Eva nach eigener Überzeugung nichts Besonderes an sich. Sie war weder schön noch hässlich, weder schlau noch dumm, weder gut noch schlecht. Ihr Französischlehrer – ein Katholik aus Wallonien – hatte ihr einmal gesagt, das sei ganz normal; ihre Persönlichkeit müsse sich im Laufe ihres Lebens erst noch herausbilden. Dagegen war ihr Vater überzeugt, dass der Charakter eines jeden Menschen seit Anbeginn der Welt unabänderlich feststand, da in Gottes großem Plan schon alles vorgezeichnet sei. Zum Beweis dafür verwies er darauf, dass Gerrit von Geburt an ein Tunichtgut und Eva ein Trotzkopf gewesen sei. Er fand, dass sie zu oft Widerworte gab. Im Übrigen war sie ihm zu dünn. In regelmäßigen Abständen pflegte er sie daran zu erinnern, dass Männer füllige Frauen bevorzugten, was ohne Zweifel stimmte.
„Du kommst jetzt und räumst die Maus für mich weg!“, befahl Eva und begann, ihren Bruder aus dem Bett zu ziehen. Er lag vollständig bekleidet darin, nur die Stiefel hatte er ausgezogen.
„Kannst du das nicht selber machen?“, stöhnte er, ließ sich dann aber doch aus seiner Betthöhle auf den Boden gleiten, raffte sich auf und schlurfte mit hängenden Schultern und blinzelnden Augen in ihr Zimmer. Vor dem Bett angekommen, hob er die Maus mit zwei Fingern am Schwanz hoch, riss das Fenster auf und warf sie in hohem Bogen in den Kanal vor ihrem Haus. Dahinter ragte der Turm der Alten Kirche auf; die goldenen Zeiger der Uhr standen auf Viertel nach sieben. „Und jetzt lässt du mich in Ruhe!“
„Habt ihr wieder durchgezecht?“, fragte Eva. „Du hattest doch fest versprochen, dich gestern mal zurückzuhalten, weil heute die Kirmes anfängt.“
Wortlos verließ er das Zimmer, im nächsten Moment hörte sie ihn seine Tür zuschlagen.
Der Junge trank zu viel. Einen über den anderen Abend zog er mit seinen Freunden los und kam jedes Mal erst spät in der Nacht wieder heim. Wenn sie nicht