Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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      Eva horchte auf das Rascheln der Kleider und das Ächzen der Bänke, wenn sich wieder jemand setzte. Einige tuschelten. Sonst war es still, denn die Calvinisten hatten neuerdings durchgesetzt, dass die Orgel nicht mehr bespielt werden durfte. Sie meinten, dass die Musik vom Wort Gottes ablenke. Eva dachte daran, wie sehr sie die Orgelmusik immer geliebt hatte. In ihren Kindertagen hatte in der Alten Kirche noch der große Organist Jan Pieterszoon Sweelinck gewirkt. Er war einer der warmherzigsten Menschen, die Eva jemals getroffen hatte, und der Einzige, der mit Kindern genauso freundlich umging wie mit Erwachsenen. Einmal – sie musste ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein und Gerrit acht – hatten sie ihm einen ganzen Vormittag beim Üben zugehört. Als sie schließlich aufgestanden waren, hatte er sie wieder zurückgerufen und gebeten, noch etwas zu bleiben. Sie dürften auch aussuchen, was er spiele. Eva hatte sich daraufhin ihr Lieblingslied Der lustige Mai gewünscht. Sweelinck spielte es nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder, und jedes Mal hörte es sich anders an. Gerrit, der schon damals ein famoser Fiedler war, saß die ganze Zeit mit offenem Mund in der Kirchenbank. Eva hatte nie vergessen, was er draußen zu ihr gesagt hatte: „Gott spricht gar nicht durch den Pfarrer. Er spricht durch Herrn Sweelinck.“

      Pfarrer Sylvius predigte an diesem Sonntag passend zur Kirmes über die Verderbtheit der Jugend. Die Donnerpredigt schien wie für Gerrit bestimmt, doch der fehlte noch immer. Eigentlich sollten sie alle gehen und ihn suchen, anstatt hier in der Kirche den Moralpredigten des Pfarrers zu lauschen, dachte Eva. Aber es ging ja um Wichtigeres. Ihr graute davor, wenn sie an das gemeinsame Mittagessen dachte.

      Schließlich forderte Johannes Sylvius die Gemeinde auf, in sich zu gehen und über ihre Sünden nachzudenken. Andächtige Stille trat ein. Die Ruhe war nahezu vollständig. Bis plötzlich … ein Knarren! Eva drehte sich um und sah, dass das Hauptportal einen Spalt weit offen stand. Eine Hand, die einen sehr großen Hut festhielt, tauchte auf, dann ein Gesicht – es war Gerrit. So leise wie möglich versuchte er, die Tür wieder zu schließen, aber offenbar aus Nervosität ließ er sie nicht richtig einschnappen, sodass sie noch einmal aufging. Daraufhin warf er sie mit größerem Schwung ins Schloss, was ein dumpfes Poltern zur Folge hatte. Nun reckte etwa die Hälfte der Gemeinde den Hals. Eva winkte dem Störenfried, was ihr sofort einen leichten Ellbogenstoß ihres Vaters einbrachte. Mit gesenktem Kopf steuerte Gerrit auf ihre Bank zu. Alle rückten etwas auf, sodass er sich noch neben ihr in die Bank quetschen konnte. Er sah schlimm aus. Die Haare hingen ihm verstrubbelt und fettig in der Stirn, im Gesicht sah man noch Reste der Wachs-Mehl-Mischung, mit der ihn seine Freunde eingeschmiert hatten, und sein gelbes Kostüm war verdreckt. Sein Vater warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

      Eva flüsterte: „Schön durchgefeiert?“

      „Maul halten!“, fauchte Gerrit und starrte düster vor sich hin.

      Trotz dieser Frechheit blieb Eva auch nach dem Ende des Gottesdienstes dicht bei Gerrit. Alles war besser, als neben Coen stehen zu müssen. Als sie ihr Haus, den Weißen Adler, erreichten, hatte Claes Corneliszoon Ment kurz Gelegenheit, seinem Sohn etwas zuzuzischen: „Wir sprechen uns noch!“

      Am Tisch nahm Eva rechts von ihrem Vater Platz, Gerrit links. Ihnen gegenüber saßen Coen, Onkel Pieter und dessen Frau Aechtje. Diese begann sofort davon zu erzählen, wie sie beide vor einigen Wochen den Prinzen von Oranien – den Oberbefehlshaber der niederländischen Streitkräfte – und dessen Frau Amalie zu Solms-Braunfels in Den Haag besucht hatten. „Ich glaube, die Gräfin Amalie hat einen Narren an mir gefressen“, behauptete Aechtje. „Sie konnte sich gar nicht mehr von mir losreißen. Wir haben sogar den kleinen Prinzen gesehen – ein außerordentlich hübsches Kind.“

      Evas Vater versuchte, Coen in das Gespräch einzubeziehen: „General Coen verkehrt natürlich ständig mit hohen und höchsten Persönlichkeiten, nicht wahr?“

      „Eher weniger“, erwiderte der. „Ich war nur einmal beim Prinzen. Ich hatte ihm für seine Menagerie einen Leoparden mitgebracht.“

      „Was ist ein Leopard?“, fragte Ment.

      „Ein Löwe mit Flecken. Sehr gefährlich, ein Menschenfresser. Wir transportierten ihn in einem Käfig und mussten uns beim Füttern immer in Acht nehmen. Die lange Überfahrt ist der Bestie allerdings nicht gut bekommen, ich glaube, sie ist kurz danach verendet.“

      Tanneke war inzwischen mit der Suppe hochgekommen. „Bei Gräfin Amalie gab es eine delikate Mandelsuppe, garniert mit Hahnenkamm, Pistazien und Granatapfelkernen, wirklich köstlich!“, berichtete Tante Aechtje. „Danach ging es weiter mit einer pikanten Fleischpastete mit Früchten, da hab ich mir später sogar vom Küchenmeister das Rezept geben lassen. Wollt Ihr’s hören?“

      Ohne darauf einzugehen, richtete sich Vater Ment wieder an Coen: „Gewiss kennt Ihr aus den fernen Landen, die Ihr bereist habt, auch einige empfehlenswerte Gerichte?“

      Zum ersten Mal spielte ein Lächeln um die Lippen des Ehrengastes. „Wisst Ihr, die asiatische Küche ist völlig anders als die unsere. Zum einen ist sie natürlich sehr stark gewürzt, weil die Gewürze dort vor der Haustür wachsen und entsprechend billig zu haben sind. Grundlage der meisten Gerichte ist Reis …“

      „Davon habe ich schon einmal gehört“, sagte Eva – sie erschrak geradezu darüber, dass sie freiwillig das Wort ergriffen hatte. Coen sah sie aber sofort an und nickte ihr aufmunternd zu: „Sehr gut“, lobte er. „Die meisten Niederländer sind zu ignorant, um je davon gehört zu haben.“

      „Bei der Gräfin …“, wollte Aechtje Hasselaer ihre Schilderung fortsetzen, doch diesmal wurde sie von ihrem Mann unterbrochen: „Ist es nicht so, dass die Asiaten die kuriosesten Dinge essen?“

      „Lasst es mich so sagen: Sie bevorzugen andere Gerichte, als wir sie gewohnt sind.“ Coen nahm einen Löffel Suppe. Eva schaute zur Seite und sah, dass Gerrit seinen Teller noch nicht angerührt hatte. Er starrte mit leerem Blick auf die ihm gegenüber sitzende Tante Aechtje.

      „Ich habe mir zum Beispiel sagen lassen, dass in einigen Teilen Asiens geröstete Spinnen vertilgt werden“, erzählte Coen weiter. „Vom Geschmack her sollen sie an Hühnchen erinnern. Die Spinnen in Asien sind weit größer als bei uns, müsst Ihr wissen. Andernorts werden Tintenfische bei lebendigem Leibe verzehrt.“

      „Das ist ja widerwärtig!“, ließ sich Tante Aechtje vernehmen.

      „Am chinesischen Kaiserhof gilt Schwalbennestersuppe als die köstlichste aller Spezialitäten. Diese Nester sind nicht aus Zweigen oder dergleichen gewebt, sondern aus dem hart gewordenen Speichel der Schwalben, den sie wie eine Art Kleister einsetzen. Sammler holen diese Nester unter großer Gefahr für Leib und Leben aus Felsenhöhlen. Die Nester werden in Wasser eingeweicht, damit sie aufquellen, und anschließend mit Kalbfleisch und Brühe gegart.“

      Niemand sagte mehr etwas. Alle löffelten ihre Suppe, allerdings recht langsam.

      „Auf den Philippinen wiederum schwört man auf ausgebrütete Enten- und Hühnereier. Ich habe sie selbst einmal gekostet, ein chinesischer Kapitän hatte mich dazu eingeladen, und es wäre unhöflich gewesen, es abzulehnen. Die Eier hatten zwei Wochen in einem warmen Korb gelegen und sich dabei prächtig entwickelt. Nun wurden sie etwa eine halbe Stunde gekocht und anschließend serviert. Als ich meines öffnete, erblickte ich darin einen fast schon vollständigen Vogel: Schnabel, Federn, Augen – all das war bereits ausgebildet. Der Kapitän erklärte mir, dass ich zunächst die Flüssigkeit herausschlürfen müsse. Danach war der Körper an der Reihe. Ich erinnere mich noch, dass das schwarzbraune Fleisch von recht scharfem Geschmack war. Der Speise wird in Asien vor allem deshalb zugesprochen, weil sie der Manneskraft zugutekommen soll.“

      „Soll ich abräumen und die Muscheln auftragen?“, fragte Tanneke. Claes Corneliszoon Ment nickte nur.

      Coen schaute in die Runde. „Ja, es gibt viel zu entdecken in Ostindien.“ Gerade als er das sagte, öffnete sich die Tür zum Nachbarzimmer, und Jasper stahl sich herein. „Katze ist in weiten Teilen Chinas ein ganz normales Gericht“, fuhr Coen fort. „Auch der Magen und die Eingeweide werden gegessen. Wichtig ist, dass die Katze gut abgehangen ist.“

      In diesem Moment hörte Eva aus Gerrits


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