Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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Tante schrie, Onkel Pieter sprang auf, nur Coen blieb ungerührt sitzen. Danach herrschte Stille. Entgeistert sah Tante Aechtje an sich hinab.

      „Verzeihung“, murmelte Gerrit. „Ich glaube, ich habe gestern Abend ein bisschen viel getrunken.“

      In der folgenden Nacht wachte Eva auf, und mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie mit Coen würde schlafen müssen. Die Vorstellung schockierte sie. Zwar war ihr die männliche Anatomie durchaus vertraut, zum Beispiel hatte sie im Sommer des Öfteren nackten Männern beim Schwimmen in den Entwässerungskanälen vor der Stadt zugesehen. Und natürlich kannte sie Gerrit. Sie war mit ihm aufgewachsen, und noch immer schliefen sie ganz selbstverständlich in einem Bett, wenn eines ihrer Zimmer für Besuch benötigt wurde. Sie hatte verfolgt, wie Gerrit Haare an Stellen wuchsen, an denen zuvor keine gewesen waren, und auch, wie er sie sich wieder abrasiert hatte, weil es seit einiger Zeit Mode war, einen unbehaarten Körper zu haben. Sie hatte sogar schon mehrmals erlebt, dass sich sein Geschlecht morgens beim Aufstehen auf das Doppelte seiner normalen Größe aufgebläht hatte und nicht mehr zur Erde zeigte, sondern gen Himmel. Beim ersten Mal war ihr der Anblick gänzlich unwahrscheinlich vorgekommen. Gerrit hatte sich hastig der gegenüberliegenden Wand zugedreht und die Spargelstange in seiner weiten Pluderhose verschwinden lassen.

      Es war also nicht so, dass sie scheu gewesen wäre. Das Verlangen, einen Mann körperlich zu lieben, brannte seit Langem in ihr. Judith, die sehr bibelfest gewesen war, hatte ihr gesagt, dass es sogar in der Heiligen Schrift Stellen gab, die davon erzählten. Doch, sie wollte diesen Rausch erleben, aber nicht mit Jan Pieterszoon Coen. Er war zu alt und zu groß. Er war ihr unendlich fremd. Ihre Fantasie reichte nicht aus, um sich vorzustellen, wie er sie berühren, umarmen und küssen wollte. Er machte nicht den Eindruck, als würde er sich auf diese Dinge verstehen. Vermutlich hatte er seine Triebe bisher in Bordellen ausgelebt. Natürlich kannte sie ihn erst sehr flüchtig, aber sie wusste bereits, wie er sprach, sich bewegte, ein wenig auch, wie er dachte. Und all das erschien ihr nicht sehr ermutigend.

      In den nächsten drei Tagen gab sie sich der Hoffnung hin, die Verbindung würde vielleicht doch nicht zustande kommen. Ihr Vater sprach nicht mehr von Coen – er sprach überhaupt nicht mehr. Gerrit war von ihm an jenem Sonntag zum ersten Mal seit Jahren geohrfeigt worden – natürlich erst, nachdem die Gäste gegangen waren. Mit seinen Freunden durfte er sich vorerst nicht mehr treffen. Eva hütete sich, noch einmal auf Coen zu sprechen zu kommen.

      Doch am darauffolgenden Donnerstag sagte ihr Vater beim Mittagessen zu ihr: „Herr Coen wird uns am Sonntag wieder beehren. Du wirst dann auch Gelegenheit erhalten, mit ihm unter vier Augen zu sprechen.“

      Der Bissen blieb ihr im Halse stecken. „Vater“, sagte sie, „ich bin überhaupt noch nicht im richtigen Alter. Kaum jemand heiratet vor Mitte zwanzig.“

      „Kaum jemand? Das erscheint mir ein wenig übertrieben“, wandte ihr Vater ein. „Und selbst wenn: Du hast eben schon früh das große Los gezogen. Endlich ein Hauptgewinn für uns!“ Es war wohl witzig gemeint, denn er grinste. Tatsächlich hatten sie in der Lotterie trotz reger Beteiligung nie mehr gewonnen als einmal eine Garnitur von Damenunterröcken, die Eva zu groß gewesen waren. Das silberne Tafelservice, die Goldketten, die Tapisserien und alle weiteren wertvollen Preise waren immer an andere gegangen.

      „Ich betrachte ihn keineswegs als das große Los. Er ist viel zu alt für mich. Ein so großer Altersunterschied ist immer schlecht.“

      „Das kann man so allgemein nicht sagen. Und ich frage mich wirklich, was es hier noch zu meckern gibt! Du kannst einen Mann heiraten, der reich ist, der einen Namen hat, der – wie du gehört hast – mit den Mächtigen umgeht. Da solltest du nicht noch auf sein Alter schauen. Wer alles will, geht leer aus.“

      „Wenn er so eine tolle Partie ist, dann frage ich mich, was er ausgerechnet von mir will.“

      „Das muss ich dir ja wohl nicht erst sagen. Unsere Familie mag geschäftlich schon bessere Zeiten erlebt haben, aber wir stammen immer noch aus einem alten Amsterdamer Patriziergeschlecht. Onkel Pieter dürfte demnächst Bürgermeister werden. Über dich erhält Jan Pieterszoon Coen Zutritt zu diesen Kreisen.“

      „Aha. Dann bin ich also ein Vehikel für seine Karriere, ein Mittel zum Zweck. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, ob ich irgendetwas für ihn empfinde? Nein, das interessiert Euch erst gar nicht. Aber ich sage es Euch trotzdem: Nein, ich empfinde nichts für ihn. Höchstens Abscheu.“

      „Liebe kann wachsen …“

      „Vater, es ist nicht mehr wie früher! Die Zeiten haben sich geändert, wir leben im 17. Jahrhundert!“

      Da schlug Ment mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „Jetzt reicht es! Du bist undankbar und verzogen! Weißt du was? Wir werden jetzt einen Spaziergang machen. Zieh deinen Umhang über!“

      „Wo sollen wir denn hingehen?“

      „Das wirst du schon sehen!“

      Wortlos tat Eva, was ihr Vater verlangte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht denken, was er vorhatte.

      Draußen spürte sie zum ersten Mal, dass es Herbst geworden war. Die Backsteinfassaden glänzten von einem kurz zuvor niedergegangenen Regenschauer, das Gewölk des Himmels ließ gerade wieder etwas Halbsonne durch. Am Kanal streuten die Linden ihr goldgelbes Laub in das Wasser.

      Evas Vater strebte über die Brücke. Trotz seiner Leibesfülle war er noch verblüffend gut zu Fuß. Es ging an der Alten Kirche vorbei und quer über die Warmoesstraat mit ihren verlockenden Geschäften. Dann führte der Weg sie weiter über den Dam-Platz, auf dem immer noch die Kirmeszelte standen. Dahinter begann die Neustadt mit ihren von Bäumen gesäumten Wasseravenuen, den vor zehn Jahren angelegten Hauptkanälen Herengracht, Keizersgracht und Prinsengracht. Die erste, die Herengracht, war die feinste Adresse der Stadt. Eva hatte sich immer gewundert, dass in Amsterdam die Herren vor den Kaisern kamen, aber ihr Vater hatte ihr erklärt, dass sie nun einmal in einer Republik lebten, ohne König oder Kaiser.

      Claes Corneliszoon Ment lief unbeirrt weiter, bis sie eine andere Gegend der Stadt erreichten. „Weißt du, wo wir hier sind?“ Eva schüttelte den Kopf: „Weiter als bis zur Prinsengracht bin ich nie gewesen.“

      Ihr Vater nickte. „Dies ist der Jordaan. Hier wohnen diejenigen, die in ihrem Leben weit weniger vom Glück begünstigt sind als du. Ich möchte, dass du dir jetzt alles ganz genau anschaust!“

      Es begann eine Wanderung, wie Eva sie noch niemals erlebt hatte. Sie blickte in Gerberhöfe, in denen bleichgesichtige Gestalten Häute entfleischten, wässerten und in ätzenden Laugen enthaarten. Sie sah Färbereien, von denen ihr Vater erzählte, dass dort Knechte giftige Farbbrühen mischten. Sie atmete den Gestank der Zuckerraffinerien und Seifensiedereien. Sie kam durch Gassen und Stiegen, die so schmal waren, dass sie, wenn sie die Arme ausstreckte, die Hauswände an beiden Seiten berühren konnte. Sie wich den Blicken der Kinder aus, die sie aus großen glasigen Augen anstarrten und sich wohl ein Almosen erhofften. An einer Stelle, wo sich zwei der schlauchartigen Straßen kreuzten, hielt ihr Vater an, um zu verschnaufen. „Schau dich nur um“, sagte er.

      Dicht gedrängt standen die Menschenpackhäuser, vier, fünf Stockwerke hoch, unterwandert und durchkreuzt von einem Geflecht aus Gassen, Treppen, Hinterhöfen und Durchgängen. Farblose Häuser in fahlem Licht. Ab und an ertönte ein Warnschrei, und dann ergoss sich von oben der Inhalt eines Nachttopfs auf den ungepflasterten Weg. Eva sah auf ihre Schuhe: Sie schienen bereits ruiniert, denn der Straßenbelag bestand aus nichts anderem als platt getretenem Dreck. Beim nächsten Regenguss würde sich alles in Schlamm verwandeln; und dann würde man sich nicht nur die Schuhe, sondern auch die Kleider verderben. „Es geht weiter“, keuchte ihr Vater.

      Immer wieder musste Eva frei herumlaufenden Hunden und Schweinen ausweichen, die im Straßendreck nach etwas Essbarem wühlten. Kanäle gab es zwar auch in diesem Teil Amsterdams, doch anders als in den besseren Vierteln konnte man hier auf den ersten Blick erkennen, was sie eigentlich waren: das Gedärm des Stadtkörpers. Von den Häusern und Werkstätten aus lief das Abwasser durch Rinnsteine direkt in die


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