Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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befand sich ein Holzauge mit einem schwarzen Strich in der Mitte. Eva fand, dass es so aussah wie ein Auge von Jasper.

      „Wie alt ist er?“ Eva kam ihre eigene Stimme plötzlich fremd vor.

      „Er … er dürfte so um die vierzig sein.“

      Jetzt sah Eva vom Tisch auf. „Dann ist er mehr als doppelt so alt wie ich!“

      „Nun, er sieht jünger aus, und er ist groß, enorm groß! Er war auch noch nie verheiratet, sein ganzes Leben hat er bisher der Compagnie geweiht. Morgen schon wirst du ihn kennenlernen und kannst dich dann selbst davon überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Wir werden ihn morgen vor der Kirche treffen und gemeinsam mit ihm den Gottesdienst besuchen. Anschließend kommen er und Onkel Pieter zum Mittagessen mit zu uns.“

      „Und wenn ich nicht will?“

      „Wie meinst du das, wenn du nicht willst?“

      „Wenn ich ihn nicht heiraten will.“

      „Eva, versteh doch, dies ist der Glücksfall deines Lebens, dies ist weit mehr, als du und ich je hätten erwarten können.“ Tanneke marschierte mit einer Platte herein, auf der drei entgrätete Heringe lagen. Evas Vater fasste den einen beim Schwanz, sperrte den Mund auf und biss den ganzen Fischleib ab. Den Schwanz warf er auf die Platte zurück. Anschließend wiederholte er die Prozedur noch zweimal. Dann wuchtete er seinen massigen Körper mühsam vom Stuhl hoch.

      „So, mein Liebes, und nun muss ich weg. Du darfst heute Abend mit Gerrit auf die Kirmes, das hatte ich dir ja versprochen, und ich halte mein Wort. Ich verlange aber – und das ist mir ernst – dass ihr es nicht zu doll treibt. Morgen ist ein wichtiger Tag für dich, vielleicht der wichtigste in deinem Leben. Ich möchte nicht, dass du oder auch Gerrit morgen mit dunklen Ringen unter den Augen am Mittagstisch sitzt. Beim ersten Rufen des Nachtwächters seid ihr zu Hause, hast du gehört?“

      Er setzte sich seinen Hut auf. In der Tür zum Vorderhaus blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. „Eva, nimm dich jetzt zusammen! Wenn ich zurückkomme, will ich ein fröhliches Gesicht sehen!“ Damit verschwand er.

      Eva blieb regungslos auf ihrem Stuhl sitzen, während Tanneke den Tisch abräumte. „Was ist los?“, fragte sie. „Ach, nichts“, murmelte Eva. Sie hatte keine Lust, Tanneke ins Vertrauen zu ziehen. Ja, wenn es Els gewesen wäre, ihre alte Magd und Kinderfrau, der hätte sie alles erzählt. Aber Els war vor zwei Jahren an einer Krankheit gestorben. Seitdem hatten sie Tanneke hier. Und die war eben nur eine Dienstmagd.

      Eva ging hinauf in ihr Zimmer. Das Fenster stand noch offen. Es war ein schöner Septembermorgen, und die hellen Klänge des Glockenspiels der Alten Kirche wehten zu ihr über das ruhige Wasser des Oudezijds Voorburgwal.

      Sie schaute hinaus. In dem Haus mit dem heiligen Nikolaus im Giebel gleich gegenüber wohnte ein junges Paar, Stephanus und Isabella. Eva hatte nie mit den beiden gesprochen, aber sie hatte ihnen oft von ihrem Fenster aus zugeschaut. Wenn sie das Haus verließen, trat Isabella immer als Erste hinaus, Stephanus hielt ihr von innen die Tür auf. Dann hakte sie sich bei ihm ein, sie gingen zusammen die paar Stufen von der Haustür bis zum Bürgersteig hinunter und spazierten davon. Meist waren sie in ein angeregtes Gespräch vertieft. Aber manchmal geschah es, dass Stephanus plötzlich anhielt, Isabella unvermittelt ansah und dann sanft mit der Hand ihre Wange berührte und sie mitten auf den Mund küsste. Mit Sicherheit wusste er, dass viele Leute diese öffentliche Zärtlichkeit nicht guthießen, aber das störte ihn nicht. Man ahnte das, auch wenn man die beiden nur von einem offenen Fenster auf der anderen Kanalseite aus beobachtete. Stephanus und Isabella waren ein echtes Liebespaar. Evas mittlerweile verstorbene Freundin Judith hatte gehört, dass Isabellas Eltern mit Stephanus zunächst gar nicht einverstanden gewesen waren, weil sein Vater nur ein einfacher Schreiber im Rathaus war, wohingegen es Isabellas Familie im Ostseehandel zu Wohlstand gebracht hatte. Aber die beiden hatten sich darüber hinweggesetzt. Es war eine Liebesheirat gewesen. So etwas hatte sich Eva auch immer für sich vorgestellt. Und jetzt: ein doppelt so alter Mann namens Coen. Was war das überhaupt für ein Name? Angenehm klang er nicht.

      Plötzlich spürte Eva ein vertrautes Kitzeln an ihren Unterschenkeln. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Jasper ins Zimmer gekommen und strich ihr unter ihrem nicht ganz bodenlangen Rock um die Beine. Sie bückte sich nach unten und kraulte ihn unter dem Kinn, wobei er genießerisch die Augen schloss. „Jasper, mein Kleiner“, sagte sie leise. „Du bleibst in jedem Fall bei mir.“

      „Komm jetzt endlich!“

      Den ganzen Tag über war Eva wie gelähmt gewesen. Sie hatte auf ihrem Bett gelegen, aus dem Fenster geschaut und sich geweigert, zum Essen zu erscheinen. Erst jetzt, da Gerrit im Türrahmen stand, raffte sie sich auf. Eigentlich hatte sie an diesem ersten Tag der Septemberkirmes ihre besten Ärmel mit den goldenen Stickereien anlegen wollen. Sie konnte die Ärmel ihres schwarzen Leibchens abtrennen und dann andere mit Schleifen an den im Schulterbereich eingearbeiteten Ösen befestigen. So ließen sich Stoffe und Farben variieren. Aber unter den gegenwärtigen Umständen verspürte sie keine Lust mehr dazu. „Ja, ich komme“, sagte sie und schloss das Fenster.

      Gerrits Aufzug war dergestalt, dass sie laut darüber gelacht hätte, wenn ihr nicht so elend zumute gewesen wäre. Auf den ersten Blick glich er einem Kanarienvogel, denn sowohl Wams wie Pluderhose waren von einer grellgelben Farbe. Die Unterschenkel steckten in so eng sitzenden weißen Strümpfen, dass sie Eva an zwei Würstchen erinnerten, deren Pelle gleich platzen würde. Die Schuhe hatten hohe Absätze und wurden fast vollständig von einer feuerroten Schleife bedeckt. Das Komischste aber war ein gewaltiger Schlapphut mit langen roten Federn. Die Krempe hing Gerrit so tief ins Gesicht, dass er kaum etwas sehen konnte. Auch der Degen, der martialisch im Gürtel steckte, war eindeutig überdimensioniert.

      „Das muss ja ein Vermögen gekostet haben“, meinte Eva. „Hab ich günstig auf dem Neumarkt gekauft“, entgegnete ihr Bruder. „Gebraucht. Stammt von einer Zwangsversteigerung. Schick, was?“

      „Na ja.“

      „Gut, wenn man so wie du auf Schwarze Witwe macht …“ Er musterte abfällig ihre konservativ-dunkle Aufmachung. „Du könntest die Haube abnehmen, dann hättest du wenigstens ein kleines Leuchtfeuer auf dem Kopf, aber so wie du jetzt aussiehst, schaut dir sowieso kein Mann hinterher.“

      „Das ist auch gar nicht mehr nötig“, entgegnete Eva.

      Gerrit bemerkte die Anspielung nicht, sondern wandte sich zum Gehen. Es bereitete ihm sichtlich Schwierigkeiten, auf den hochhackigen Schuhen die Treppe hinunter zu balancieren und dabei nicht über den Degen zu stolpern, der an seinem Gürtel wild umherbaumelte und ihm immer wieder zwischen die Beine geriet. „Säbel dir bloß nicht deine beiden Golfbälle ab!“, bemerkte Eva und wunderte sich darüber, dass sie noch scherzen konnte. Gerrit revanchierte sich auf der Straße, indem er den Degen aus dem Gürtel zog und mit der Spitze über den gepflasterten Gehweg kratzte – er wusste genau, dass Eva das hohe, quietschende Geräusch nicht ausstehen konnte.

      Amsterdam war märchenhaft verwandelt. In der Abenddämmerung warf das Licht der Fackeln bizarre Schatten auf Buden und Zelte. Überall gab es Verkaufsstände, dazu Puppenspieler, Zauberer und Quacksalber, die ihre Pillen und Pulver anpriesen. Ein Theater ließ Figuren aufmarschieren, die scheinbar von selbst Arme und Beine bewegten – einer der Umstehenden sagte, sie würden von einem geheimen Uhrmechanismus gesteuert. In der Mitte des Jahrmarkts stand ein fast haushoher bunt bemalter Goliath aus Holz, der den Kopf hin und her drehte und dabei mit den Augen rollte.

      Akrobaten führten Kunststücke vor. Zwei Männer tauchten ihre Hände in einen Tiegel voll geschmolzenen Bleis – es schien ihnen nichts auszumachen. Ein Engländer schluckte flüssigen Schwefel und kaute Kohlen, ein Pferd führte seine Rechenkünste vor. Bienen flogen auf Befehl ihres Besitzers in den Korb zurück. Eva und Gerrit bestaunten eine Pyramide aus Menschen, die in gefährlicher Höhe ihre Künste vorführten. Die größte Menschentraube stand vor einer Schauspielbühne. Eva sah, wie ein Mann im Gewand des Todes einen jungen Gesellen mit sich fortziehen wollte.

      Plötzlich schossen Eva


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