Die Muskatprinzessin. Christoph Driessen

Die Muskatprinzessin - Christoph Driessen


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Kanäle hatten sich ganze Abfallberge angesammelt. Viele Häuser waren abgesackt und neigten sich bedenklich zur Seite. Auf den Dächern reckten sich Schornsteine wie schwarze Finger in den Himmel.

      Eva empfand es als eine Erlösung, als ihr Vater endlich umdrehte und sie nach einigen Brücken wieder an der Prinsengracht standen.

      „Kannst du dir vorstellen, warum ich dich hierhergeführt habe?“ Eva konnte es, aber sie sagte es nicht.

      „Hier kannst auch du einmal enden. Vielleicht nicht gerade in den dunkelsten Höhlen und Baracken, aber in dieser Gegend allemal. Das geht ganz schnell, und dann wirst du froh sein, wenn Onkel Pieter dir einen Platz in einem der öffentlichen Wohnstifte besorgt.“

      „Vater, Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass unsere Familie so tief sinken könnte“, wandte Eva ein.

      „Ich kenne durchaus vergleichbare Fälle“, entgegnete ihr Vater. „Du bist im Luxus aufgewachsen, du hast immer alles gehabt und scheinst dies als selbstverständlich hinzunehmen. Das ist es nicht. Du weißt, dass es mit uns nicht zum Besten steht. Deine Position ist gefährdet. Viel hast du nicht anzubieten, eigentlich nur den tadellosen Ruf unserer alteingesessenen Familie und unsere guten Beziehungen. Das ist das Pfund, mit dem du wuchern musst. Aber du musst es dir so vorstellen, dass viele andere junge Frauen das Gleiche oder sogar etwas Besseres offerieren. Es ist, als würde jede von euch an einem kleinen Steg stehen und auf ein großes Schiff warten, mit dem ihr in den Hafen der Ehe einlaufen könnt. Und jetzt kommt so ein Schiff, ein so großes und prächtiges, wie es noch keine von euch je gesehen hat. Und – was für ein unbeschreibliches, völlig unerwartetes Glück! – es hält auch noch genau an deinem kleinen Steg. Du kannst an Bord gehen. Zögerst du? Das Schiff hält nur ein einziges Mal bei dir, wenn du es jetzt vorbeifahren lässt, wird es nie mehr wiederkommen.“ Er machte eine Pause. „Überlege dir also gut, was du tust. Du bist verwöhnt, du bist nicht belastbar. Du würdest ohne einen Mann, der dich versorgt, nicht zurechtkommen. Und in dieser Welt hier“ – er zeigte zu der finsteren Passage, aus der sie gekommen waren – „würdest du nicht lange überleben.“

      Damit wandte er sich wortlos um und stapfte nach Hause. Eva folgte ihm in einigem Abstand.

      Coen war pünktlich auf die Minute, als er am Sonntagnachmittag zu seinem zweiten Besuch erschien. Eva erkannte es daran, dass das Glockenspiel der Alten Kirche einsetzte, als er klopfte. Drei Uhr. Tanneke öffnete ihm, führte ihn herein und bot ihm ein Glas Rheinwein an. Der Stuhl, auf dem Coen Platz nahm, war eigentlich zu niedrig für ihn – er wusste nicht recht, wo er seine Beine lassen sollte.

      Die beiden Männer unterhielten sich zunächst über den Verlauf des Krieges gegen Spanien. Dann erhob sich Ment von seinem Platz und sagte: „Ich möchte mich fürs Erste empfehlen.“ Damit verschwand er.

      Eva hatte die Augen niedergeschlagen, aber sie konnte den Blick ihres Gegenübers regelrecht spüren. Sie hatte keine Ahnung, worüber sie mit ihm reden sollte. Es war eine äußerst unangenehme Situation.

      „Woher wusstet Ihr, dass in Asien Reis gegessen wird?“, fragte Coen.

      Eva sah auf. „Das hat mir ein Kaufmann erzählt, der einmal für einige Tage bei uns gewohnt hat. Ein Bekannter von Onkel Pieter.“

      Wieder entstand eine Stille. Dann sagte Eva: „Ich bewundere alle, die den Mut haben, eine solche Reise anzutreten. Ich könnte das nie.“

      „Warum nicht? Seid Ihr nicht neugierig?“

      „Doch, schon. Ich mag es zum Beispiel, Karten anzuschauen. Onkel Pieter hat einen Globus. Er muss überaus kostbar sein.“

      „Globen gehören in der Tat zum Teuersten, was es gibt“, bestätigte Coen. „Aber sagt mir, wenn Euch ferne Länder doch offenbar anziehen, warum könnt Ihr Euch dann nicht vorstellen, selbst dort zu leben?“

      „Gerade weil alles so anders ist. Die Menschen essen seltsame Dinge, wie Ihr selbst berichtet habt. Sie tragen vermutlich andere Kleidung, sie haben Gewohnheiten, die von den unseren abweichen. Gewohnheiten, die wir vielleicht gar nicht verstehen können. Ich glaube, was am meisten auf mir lasten würde, wäre der Gedanke, dass diese Menschen einer anderen Religion angehören. Und folglich über die Welt und das Zusammenleben der Menschen völlig anders urteilen müssen als wir Christen.“

      „Das lässt sich ändern“, gab Coen zu bedenken. „Wir sind aufgerufen, die Botschaft des Herrn in die Welt zu tragen.“

      „Das ist gewiss eine ehrenwerte Aufgabe, solange es nicht mit Zwang und Gewalt geschieht, so wie es die Spanier in Westindien getan haben. Wie gesagt, ich bewundere jeden, der ans andere Ende der Welt reist. Aber ich möchte noch nicht einmal in einer anderen holländischen Stadt wohnen. Ich möchte nicht weg aus Amsterdam. Wobei es nicht etwa so ist, dass ich meinen würde, es gäbe auf der Welt keinen schöneren Ort, gewiss nicht …“

      „… Ihr müsstet Italien sehen!“, warf Coen ein.

      „Ich bezweifle nicht, dass es ein sehenswertes Land ist. Aber dies hier ist eben mein Zuhause, diese Welt ist mir vertraut, und sie zu verlassen, würde mir vorkommen, wie einen Teil meiner selbst aufzugeben.“

      Darauf erwiderte er nichts mehr. Auch Eva fiel nichts mehr ein, was sie noch hätte sagen können. Von draußen hörte man Kindergeschrei.

      Plötzlich sagte Coen: „Ich habe bei Eurem Vater um Eure Hand angehalten.“

      Der Satz kam wie ein Donnerschlag. Eva starrte ihn an.

      „Ihr seid erschrocken? Selbstverständlich hängt alles von Eurem Einverständnis ab. Nur ein Wort, und ich ziehe mich zurück.“

      Eva schwieg. Schließlich sagte sie: „Kann ich … kann ich darüber nachdenken?“

      „Selbstverständlich.“ Coen stand auf. „Eine Entscheidung von solcher Tragweite will wohlüberlegt sein. Ich muss sowieso für einige Tage nach Hoorn. Wenn ich zurück bin, werde ich mich erkundigen, wie Ihr Euch entschieden habt.

      Am nächsten Morgen erwachte Eva mit Fieber. Ihre Stirn war heiß, aber ihr selbst war so kalt, dass sie zitterte. Ihr Vater ließ sofort einen Arzt rufen. Noch vor neun Uhr morgens stand er an ihrem Bett, Jacob Janszoon de Wit, ein höflicher, schon etwas älterer Herr, der in Schweden geboren war, einem Land, das – wie er Eva erzählt hatte – völlig anders aussah als Holland, weil es nämlich ganz und gar von Wald bedeckt war. De Wit ließ sich von Tanneke Evas Nachttopf unter dem Bett hervorholen und füllte einen Teil ihres darin aufgefangenen Urins in ein Glas um, das er aus seiner großen Arzttasche hervorholte. Dieses Glas hielt er vor dem Fenster gegen das Licht und betrachtete es eingehend von allen Seiten.

      Dann wandte er sich an Claes Corneliszoon Ment und verkündete: „Ein typischer Fall von Furor uterinus.“

      „Um Gottes willen!“, rief Ment. „Was ist denn das?“

      „Wir sprechen von der wandernden Gebärmutter“, erläuterte de Wit. „Seht, die weibliche Gebärmutter vermag im Körper umherzuwandern, wobei sie je nach Position bestimmte Organe zusammenpresst und dadurch die unterschiedlichsten Krankheiten verursacht. Fast jedes ernsthafte Frauenleiden lässt sich darauf zurückführen.“

      „Es ist also ernsthaft?“, hörte Eva ihren Vater fragen.

      „Ich fürchte ja“, war die Antwort. „Das Wichtigste ist jetzt, dass Fräulein Eva aus dem Bett kommt und sich möglichst aufrecht auf einen Stuhl setzt. Dann besteht die Chance, dass die Gebärmutter von selbst wieder nach unten rutscht, auf den Platz, wo sie hingehört.“

      Ment wandte sich an Eva: „Hast du das gehört? Bitte setz dich auf den Stuhl dort.“

      „Ich fühle mich sehr schwach“, protestierte sie.

      „Du hast gehört, was der Doktor gesagt hat. Es mag beschwerlich sein, aber es ist der einzige Weg zur Gesundung und Verkürzung deines Leidens. Tanneke, kannst du den Stuhl vielleicht mit Kissen polstern? Herr de Wit, das wird doch wohl erlaubt sein oder stört das den Genesungsprozess?“


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