Die bekanntesten Novellen, Dramen und Erzählungen von Anton Pawlowitsch Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
Jetzt würde Grischa mit Vergnügen ein Glasstückchen aufheben, das ihm unter den Füßen liegt und in der Sonne wie das Lämpchen vor dem Heiligenbilde strahlt. Aber er fürchtet, daß man ihm wieder eins auf die Hand giebt.
»Ich habe die Ehre!« vernimmt Grischa plötzlich über seinem Ohr eine laute, tiefe Stimme und erblickt einen großen Mann mit glänzenden Knöpfen.
Zu seinem größten Vergnügen reicht dieser Mann der Wärterin die Hand, bleibt mit ihr stehen und beginnt ein Gespräch. Das Leuchten der Sonne, der Lärm der Wagen, die Pferde, die glänzenden Knöpfe, alles das ist so außerordentlich neu und so gar nicht schrecklich, daß Grischas Herz sich mit Wonne erfüllt und er zu lachen beginnt.
»Wollme gehn! Wollme gehn!« ruft er dem Mann mit den glänzenden Knöpfen zu und zupft ihn am Rock.
»Wohin denn?« fragt der Mann.
»Wollme gehn!« beharrt Grischa.
Er möchte sagen, daß es nicht schlecht wäre. auch Papa, Mama und die Katze mitzunehmen, aber seine Zunge sagt etwas ganz anderes, als was sie soll.
Nach einiger Zeit biegt die Wärterin von der Promenade ab und führt Grischa in einen großen Hof, wo noch Schnee liegt. Auch der Mann mit den glänzenden Knöpfen folgt ihnen. Sie gehen den Schneehaufen und Pfützen vorsichtig aus dem Wege, steigen dann eine schmutzige, dunkle Treppe hinauf und treten in ein Zimmer. Dort giebt es viel Rauch, es riecht nach Braten und eine Frau steht am Herd und bratet Koteletts. Die Köchin und die Wärterin küssen sich, setzen sich zusammen mit dem Mann auf die Bank und beginnen leise zu sprechen.
Grischa, der warm eingepackt ist, wird es unerträglich heiß und schwül.
»Woher kommt das?« denkt er, sich umsehend.
Er sieht eine dunkle Lage, Küchengerät und den Ofen, der wie eine große schwarze Höhle starrt . . .
»Ma–ma!« beginnt Grischa zu greinen.
»Nu, nu, nu!« schreit die Wärterin. »Kannst schon warten!«
Die Köchin stellt eine Flasche auf den Tisch, drei Gläser und einen Kuchen.
Die beiden Frauen und der Mann mit den glänzenden Knöpfen stoßen an, trinken mehrere mal, und der Mann umarmt bald die Köchin, bald die Wärterin. Dann beginnen sie alle drei leise zu singen.
Grischa streckt die Hände nach dem Kuchen und man giebt ihm ein Stückchen. Er ißt und sieht zu, wie die Wärterin trinkt . . . Er möchte auch trinken.
»Gieb! Gieb!« bittet er die Wärterin.
Die Köchin giebt ihm aus ihrem Glase zu nippen. Die Augen treten ihm heraus, er verzieht das Gesicht, hustet und wehrt sich noch lange mit den Armen, während die Köchin ihn betrachtet und lacht.
Nach Hause zurück gekehrt, beginnt Grischa der Mutter, den Wänden und dem Bett zu erzählen, wo er gewesen sei und was er gesehen habe. Er erzählt nicht so sehr mit der Zunge, als mit dem Gesicht und den Händen. Er zeigt, wie die Sonne leuchtet, wie die Pferde laufen, wie der schreckliche Ofen aussieht und wie die Köchin trinkt . . .
Am Abend kann er nicht einschlafen. Die Soldaten mit den Birkenquasten, die großen Katzen, die Pferde, das Glasstückchen, der Trog mit den Apselsinen, die glänzenden Knöpfe – alles das drängt sich zusammen und lastet ihm auf dem Gehirn. Er wälzt sich von einer Seite auf die andere, schwatzt und kann seiner Erregung nicht Herr werden, bis er endlich zu weinen anfängt.
»Du fieberst ja!« sagt die Mama, ihm die flache Hand auf die Stirn legend. »Woher kann denn das kommen?«
»Der Ofen!« weint Grischa. »Geh weg von hier. Ofen!«
»Er hat wohl zu viel gegessen . . .« meint die Mama.
Und Grischa, bewältigt von den Eindrücken des neuen Lebens, das er eben kennen gelernt, erhält von der Mama einen Löffel Ricinusöl.
Die Apothekerin
Das Städtchen B., das nur aus zwei bis drei krummen Straßen besteht, liegt in tiefen Schlummer versunken. In der regungslosen Luft vernimmt man kaum einen Laut. Nur irgendwo in der Ferne, wahrscheinlich außerhalb der Stadt, bellt mit einem dünnen, heiseren Tenor ein Hund. Bis zur Morgenröte dauert es nicht mehr lange.
Alles ruht. Nur die junge Frau des Provisors Tschornomordik, des Inhabers der B–schen Apotheke, schläft nicht. Sie hat sich schon dreimal zu Bette gelegt, aber der Schlaf flieht sie eigensinnig – Gott weiß warum. Sie sitzt am offenen Fenster im bloßen Hemde und sieht auf die Straße hinaus. Es ist ihr schwül, langweilig und ärgerlich zu Mute . . . so ärgerlich, daß sie sogar weinen möchte. Warum? Sie weiß es selbst nicht! Es liegt ihr wie ein hartes Stück auf der Brust, das immerfort zur Kehle aufsteigt . . .
Hinten, nur einige Schritte von der Apothekerin, schnarcht süß Tschornomordik selbst. Ein gieriger Floh hat sich bei ihm auf der Stirn zwischen den Augen festgesogen, aber er merkt es nicht und lächelt sogar, da er träumt, daß alle in der Stadt Husten haben und bei ihm immerfort seine Hustentropfen kaufen. Man kann ihn jetzt weder durch Stiche, noch mit Kanonen, noch mit Zärtlichkeiten wecken.
Die Apotheke liegt beinahe an der Grenze der Stadt, so daß die Apothekerin weit hinaus ins Feld blicken kann . . . Sie sieht, wie der östliche Rand des Himmels ganz allmählich erbleicht und wie er dann rot wird, wie von einer großen Feuersbrunst. Ganz unerwartet steigt hinter einem in der Ferne liegenden Gebüsch der große, breitgesichtige Mond langsam auf. Er ist rot, wie denn der Mond überhaupt, wenn er hinter einem Gebüsch hervorsteigt, aus irgend einem Grunde immer furchtbar verlegen ist.
Plötzlich ertönen in der nächtlichen Stille Schritte und Sporengeklirr. Man hört Stimmen.
›Das sind die Offiziere, die vom Polizeiinspektor nach Hause ins Biwak gehen‹, denkt die Apothekerin.
Etwas später zeigen sich zwei Gestalten in weißen Offizier-Sommerröcken; die eine groß und dick, die andere kleiner und dünner . . . Sie schreiten faul eine hinter der anderen längs des Zaunes einher und sprechen laut über irgend etwas. Als sie sich der Apotheke genähert haben, beginnen beide Gestalten immer langsamer zu gehen und sehen nach den Fenstern.
»Es riecht nach einer Apotheke . . .« sagt der Dünne. »Richtig, da ist sie ja auch! Aha, ich erinnere mich . . . In der vorigen Woche war ich hier und kaufte mir Rizinusöl. Hier wohnt ja der Apotheker mit dem sauren Gesicht und der Eselskinnlade. Das ist mal eine Kinnlade! Gerade mit so einer muß Simson die Philister verhauen haben.«
»M–ja . . .« spricht der Dicke im Baß. »Es schläft die Pharmacie! Und auch die Apothekerin schläft. Hier giebt es nämlich, Obtjossow, eine hübsche Apothekerin.«
»Ich habe sie gesehen. Sie gefiel mir sehr . . . Sagen Sie, Doktor, ist sie wirklich im stande, diese Eselskinnlade zu lieben? Unmöglich?«
»Nein, wahrscheinlich liebt sie ihn nicht«, seufzt der Doktor auf, mit einem Ausdruck, als thäte ihm der Apotheker leid. »Sie schläft jetzt hinterm Fenster, das Puppchen! Obtjossow, he? Liegt vor Hitze so hingegossen . . . das Mündchen ist halb geöffnet . . . das Füßchen hängt zum Bett heraus. Der Schafskopf von Apotheker wird von diesen Sachen kaum viel verstehen . . . Weib und Karbolflasche sind für ihn wohl ziemlich dasselbe!«
»Wissen Sie was, Doktor?« sagt der Offizier, indem er stehen bleibt. »Gehen wir mal in die Apotheke hinein und kaufen uns etwas. Vielleicht sehen wir die Apothekerin.«
»Nanu, in der Nacht!«
»Was ist denn dabei? Sie müssen ja auch in der Nacht öffnen. Mein Lieber, gehen wir!«
»Meinetwegen . . .«
Die Apothekerin, die sich hinterm Vorhang versteckt hat, hört die heisere Glocke. Sie sieht sich nach dem Manne um, der ruhig weiter schnarcht und süß lächelt, wirft sich in ein Kleid, zieht