Die bekanntesten Novellen, Dramen und Erzählungen von Anton Pawlowitsch Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow
alles . . .«
Das Gesicht Nikolaschkas drückte Verwunderung aus. Die Allwissenheit des Untersuchungsrichters machte ihn staunen. Aber bald ging der Ausdruck des Erstaunens in äußerste Betrübtheit über. Er begann zu schluchzen und bat um Erlaubnis, sich waschen und beruhigen zu dürfen. Er wurde abgeführt.
»Psekow soll vorgeführt werden!« befahl der Untersuchungsrichter.
Psekow trat ein. Der junge Mann hatte sich in den letzten Tagen im Gesicht stark verändert. Er war mager und bleich geworden und die Wangen waren eingefallen. Aus seinen Augen sprach Apathie.
»Setzen Sie sich, Psekow«, sagte Tschubikow. »Ich hoffe, daß Sie heute vernünftig sein und nicht lügen werden, wie die letzten Male. An allen jenen Tagen leugneten Sie Ihre Beteiligung an der Ermordung Kljausows, trotz der Menge von Beweisen, die gegen Sie sprachen. Das ist unvernünftig. Das Geständnis mindert die Schuld. Heute rede ich mit Ihnen zum letzten Mal. Wenn Sie heute nicht gestehen, so wird es morgen schon zu spät sein. Nun, erzählen Sie uns . . .«
»Ich weiß nichts . . . Und kenne auch Ihre Beweise nicht«, flüsterte Psekow.
»Schade! Nun, dann gestatten Sie, daß ich es Ihnen erzähle, wie die Sache war. Am Sonnabend Abend saßen Sie im Schlafzimmer Kljausows und tranken mit ihm Schnaps und Bier.« Djukowski durchbohrte Psekow mit seinem Blick, den er von ihm im Verlaufe des ganzen Monologs nicht wandte. »Nikolai bediente Sie. Bald nach zwölf Uhr äußerte Mark Iwanowitsch den Wunsch, zu Bette zu gehen. Um diese Zeit pflegte er immer schlafen zu gehen. Während er sich die Stiefel auszog und Ihnen dabei Instruktionen bezüglich der Wirtschaft erteilte, ergriffen Sie und Nikolai auf ein gegebenes Zeichen Ihren halbbetrunkenen Herrn und warfen ihn auf das Bett. Einer von Ihnen setzte sich ihm auf die Füße, der andere auf den Kopf. In diesem Augenblick trat von dem Flur aus eine Ihnen bekannte Frau im schwarzen Kleide ein, die sich mit Ihnen vorher bezüglich ihrer Teilnahme an dieser verbrecherischen That verabredet hatte. Sie ergriff ein Kissen und begann ihn damit zu drosseln. Während des Kampfes verlöschte das Licht. Die Frau nahm aus der Tasche eine Schachtel schwedischer Zündhölzer und zündete das Licht wieder an. Nicht wahr? Ich sehe es Ihnen am Gesicht an, daß ich die Wahrheit erzähle. Aber weiter . . . Als er erstickt war, und Sie sich überzeugt hatten, daß er nicht mehr atme, schleppten Sie und Nikolai ihn zum Fenster hinaus und legten ihn bei dem Distelstrauch nieder. In der Furcht, daß er nicht etwa wieder auflebe, versetzten Sie ihm einen Schlag mit irgend einem scharfen Gegenstand. Dann trugen Sie ihn weiter und legten ihn für eine Zeit unter den Fliederbusch. Nachdem Sie sich ausgeruht und überlegt hatten, nahmen Sie ihn wieder auf . . . Sie schleppten ihn über den Zaun hinüber . . . Dann gingen Sie den Weg entlang . . . Darauf kam der Damm. Bei dem Damm erschreckte sie ein Bauer. Aber was ist mit Ihnen?«
Psekow, bleich wie die Leinwand, stand auf und schwankte.
»Mir ist so schwül!« sagte er. »Gut . . . meinetwegen . . . Aber ich will hinaus . . . bitte.«
Psekow wurde hinausgeführt.
»Endlich hat er gestanden!« sagte Tschubikow, sich süß streckend. »Hat sich verraten! Habe ich's nicht geschickt angefangen? Einfach konfus gemacht . . .«
»Und auch die Frau in Schwarz leugnet er nicht«, lachte Djukowski. »Aber . . . mich quält übrigens furchtbar das schwedische Zündholz! Ich kann es nicht länger aushalten. Adieu! Ich fahre.«
Djukowski setzte sich die Mütze auf und fuhr weg.
Tschubikow begann die Akuljka zu vernehmen.
Akuljka erklärte, daß sie überhaupt von nichts wisse . . .
»Ich habe nur mit Ihnen gelebt und sonst mit niemand!« sagte sie, mit ihren buttrigen Augen schelmisch lachend.
Gegen sechs Uhr abends kehrte Djukowski zurück. Er war aufgeregt, wie noch nie. Seine Hände zitterten so stark, daß er nicht im stande war, seinen Paletot aufzuknöpfen. Seine Wangen glühten. Man sah, daß er nicht ohne eine Neuigkeit zurückgekehrt war.
» Veni, vidi, vici!
« sagte er, in Tschubikows Zimmer stürzend und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß ich anfange, an meine Genialität zu glauben! Hören Sie zu, daß Sie der Teufel hole! Hören Sie zu und staunen Sie, alter Herr! Komisch und traurig! In Ihren Händen befinden sich schon drei . . . nicht wahr? Ich habe den vierten gefunden oder richtiger die vierte, denn es ist eine Frau! Und was für eine Frau! Zehn Jahre meines Lebens würde ich hingeben, um nur ihre Schultern berühren zu können! Aber . . . Hören Sie! Ich fuhr nach Kljausowka und begann um das Gut eine Spirale zu beschreiben! Unterwegs besuchte ich alle Kramläden und Dorfschänken und fragte überall noch schwedischen Zündhölzchen. Nirgends gab es welche. Ich fuhr und fuhr. Zwanzigmal verlor ich die Hoffnung und ebenso oft gewann ich sie wieder. Den ganzen Tag trieb ich mich herum und erst vor einer Stunde fand ich das Gesuchte. Drei Werst von hier. Man reicht mir ein Päckchen von zehn Schachteln. Die zehnte Schachtel aber fehlt und ist nicht zu finden . . . Ich frage gleich: ›Wer hat diese Schachtel gekauft?‹ Die und die . . . ›Sie gefielen ihr . . . das Zischen‹. Mein Herzchen! Nikolai Jermolaitsch! Was zuweilen ein Mensch, der aus dem Seminar gejagt worden ist und sich mit Kriminallitteratur vollgesogen hat, machen kann, ist kaum zu fassen! Von heute an beginne ich mich zu achten! . . . Ufff . . . Nun, fahren wir!«
»Wohin denn das?«
»Zu ihr, zu der vierten . . . Wir müssen eilen, sonst . . . sonst vergehe ich vor Ungeduld! Wissen Sie, wer es ist? Die junge Frau unseres Amtshauptmanns, des alten Jewgraf Kusjmitsch, Olga Petrowna ist es! Sie hat die Schachtel gekauft!«
»Sie . . . Du . . . Sie . . . verrückt?«
»Sehr einfach! Erstens raucht sie. Zweitens ist sie bis über die Ohren in Kljausow verliebt. Er hat ihre Liebe wegen irgend einer Akuljka zurückgewiesen. Rache! Jetzt erinnere ich mich, wie ich sie einmal beide in der Küche hinter der Scheidewand angetroffen habe. Sie überschüttete ihn mit Schwüren, während er rauchte und ihr den Rauch ins Gesicht paffte. Aber . . . fahren wir schnell, sonst wird es dunkel . . . Fahren wir!«
»Ich bin noch nicht so verrückt, um irgend einem grünen Jungen zu Liebe in der Nacht eine anständige Dame aus der Gesellschaft zu beunruhigen!«
»Anständig, Dame . . . Ein Lappen sind Sie also und kein Untersuchungsrichter! Noch nie habe ich mich unterstanden, Sie zu beleidigen, aber jetzt zwingen Sie mich dazu! Lappen, Schlafmütze! Nun, mein Herzchen! Nikolai Jermolaitsch! Ich bitte Sie!«
Der Untersuchungsrichter machte mit der Hand eine Geste und spuckte aus.
»Ich bitte Sie! Ich bitte Sie nicht um meinetwegen, sondern im Interesse der Rechtsprechung! Ich flehe Sie an! Erweisen Sie mir doch einmal im Leben einen Gefallen!«
Djukowski sank auf die Knie.
»Nikolai Jermolaitsch! Nun, seien Sie so gut! Nennen Sie mich einen Schuft, einen gemeinen Kerl, wenn ich mich in Bezug auf diese Frau irre! Denken Sie doch, was das für eine Sache ist! Was für eine Sache! Der reine Roman! Durch ganz Rußland wird Ihr Ruhm gehen! Man wird Sie zum Untersuchungsrichter für besonders wichtige Angelegenheiten ernennen! Verstehen Sie es doch, Sie unvernünftiger Alter!«
Der Untersuchungsrichter machte ein finsteres Gesicht und streckte unschlüssig die Hand nach dem Hut aus.
»Na, daß Dich der Teufel!« sagte er. »Fahren wir.«
Es war schon spät, als der Charabancs des Untersuchungsrichters vor der Thür des Amtshauptmanns hielt.
»Was sind wir doch für Schweine!« sagte Tschubikow, die Glocke ziehend. »Beunruhigen nur die Leute!«
»Schad't nichts! schad't nichts . . . Haben Sie nur keine Angst . . . Wir können ja sagen, daß uns eine Sprungfeder am Wagen gebrochen ist.«
Tschubikow und Djukowski wurden auf der Schwelle von einer großen, stattlichen Frau von etwa dreiundzwanzig Jahren, mit pechschwarzen Augenbrauen und fetten roten Lippen empfangen. Es war Olga Petrowna selbst.
»Ah . . . sehr angenehm!« sagte sie über das ganze Gesicht lächelnd. »Sie kommen gerade zum Abendessen. Mein Jewgraf Kusjmitsch