Goodbye, Bukarest. Astrid Seeberger

Goodbye, Bukarest - Astrid Seeberger


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Beste ist, dass es dich gibt«, sagte ich.

      »Dass es uns gibt«, sagte Lech und nahm mich in seine Arme.

      Am Nachmittag unternahmen wir einen kurzen Spaziergang, ganz langsam, nur die Allee vor und zurück. Von einer der alten Linden hatte sich ein Stück Rinde gelöst und das nackte Holz war sichtbar geworden. Lech fragte, ob ich mich an die Nelly-Sachs-Ausstellung im Jüdischen Museum erinnerte. War mir das Rindenstück von einer Platane im Gedächtnis geblieben, das dort in einer Vitrine lag? Paul Celan hatte es Nelly Sachs geschickt, als sie krank wurde. Sie solle die Rinde zwischen Daumen und Zeigefinger halten, schrieb er, und gleichzeitig an etwas Schönes denken. War es aus dem Grund, weil die Platane, selbst wenn sie schutzlos ist, nicht eingeht? Sie verliert ihre Rinde im Winter, gerade dann, wenn die eisigen Winde an allem zerren und sie diese am meisten benötigt.

      Ich erwiderte, dass ich mich auch an etwas anderes erinnerte. In einer weiteren Vitrine lag ein Konvulsator der Marke Siemens, einer der Art, mit dem Nelly Sachs mehr als ein Dutzend Elektroschockbehandlungen erhielt. Bekommt man Elektroschocks, sagte ich, wird man in Narkose versetzt und erhält ein Mittel zur Muskelentspannung. Sodass man, wenn der elektrische Strom durchs Gehirn gejagt wird und man einen epileptischen Anfall erleidet, nichts in seiner Hand halten kann, nicht einmal ein kleines Stück Platanenrinde. »Hauptsache, das Rindenstück lag noch auf ihrem Nachttisch«, sagte Lech, »wenn sie von der Behandlung zurückkam.«

      Als wir zu unserem Haus zurückgingen, sagte Lech, es sei merkwürdig, dass Nelly Sachs am selben Tag starb, an dem Paul Celan in Paris beerdigt wurde. Als sei ihr kein anderer Ausweg geblieben, als es ihn nicht länger gab. Vor vielen Jahren hatte er selbst in Thiais an Celans Grab gestanden. Er hatte die kleinen Steine gesehen, die Menschen als eine Art Bitte um Schutz aufs Grab gelegt hatten. Auch er hatte einen kleinen schwarzen Stein hinzugefügt. »Vielleicht könnten wir hinfahren und nachsehen, ob er noch daliegt. Und auch ein Steinchen von unserer Insel mitnehmen. Irgendwann im Frühjahr. Wenn die Platanen in Paris ihre neue Rinde bekommen haben.«

       Auf der Insel, 22. November 2014

      Es ist Mitternacht. Lech und ich sind kurz zuvor auf die Insel heimgekehrt. Er hatte mich in Arlanda abgeholt, stand mit seinem leisen Lächeln da, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

      Ich war in Oslo gewesen und hatte auf einer Konferenz gesprochen. Auf dem Hinflug, als die Maschine gerade eine Höhe von zehntausend Metern erreichte, ging mir durch den Kopf, dass nur eine dünne Metallhülle und dünnes Fensterglas mich von der kalten, eisigen Weite dort draußen trennten. Eine Weite, deren Licht zu uns dringt, doch keine Geräusche. Nicht das Tosen der explodierenden Supernoven. Nicht die Winde, die über die Planeten rasen. Auch nicht der Gesang.

      Bevor ich losgefahren war, hatte Lech ihn mir auf dem Computer vorgespielt, den Gesang, den die Raumsonde Philea nach der Landung auf dem Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko aufgefangen hatte. Er klang wie der Trauergesang von jemandem, der nicht länger glaubt, jemals gehört zu werden. Und Lech zeigte mir die Fotos, die die Sonde aufgenommen hatte, bevor sie auf dem Kometen gelandet war: ein Steinkopf, dessen Scheitel stark leuchtete, vielleicht ja auch das Gesicht, doch ist es nicht zu sehen, nur die dunkle Rückseite des Kopfes. Wenn man aber den Kometengesang hört, weiß man, wie das Gesicht aussieht.

      Als ich meinen Vortrag gehalten hatte, ging ich durch Oslo. Es war kalt. Die Atemzüge der Menschen bildeten flüchtige Nebelwolken. Und plötzlich begriff ich, dass ein Trauergesang verschiedenartig klingen kann, dass er manchmal nur ein leises Klimpern ist. Wie bei der jungen Rumänin, die auf einem Stapel alter Zeitungen saß, eingewickelt in eine schäbige graue Decke. Im Gegensatz zu den anderen Bettlern streckte sie ihren Plastikbecher den Leuten nicht hin. Er steckte festgeklemmt zwischen ihren Knien. Als ich dicht vor ihr stand, begriff ich: Sie zitterte so sehr, dass ihre Knie die im Becher liegenden Münzen zum Klimpern brachten.

      Ich hätte sie in ein warmes Café bringen sollen. Das Einzige aber, was ich tat, war, ihr einen Schein in den Becher zu stopfen, einen der beiden, die ich noch besaß. Sie murmelte etwas, das wie danke klang. Während das Klimpern weiterging. Ich nahm ein Taxi zum Flugplatz, das erste freie, das vorüberkam, obwohl noch drei Stunden Zeit war, bis meine Maschine fliegen würde. Ich konnte einfach nicht dortbleiben. Obwohl das Klimpern kaum zu hören war, übertönte es einfach alles.

      Auf dem Flughafen fiel es mir schwer, irgendetwas zu tun. Ich hatte ein Buch eingesteckt über den Stalinismus in Rumänien. Ich lese alles, was ich über Rumänien auftreiben kann, als könnte mir das helfen, Bruno zu finden. Jetzt aber war ich nicht imstande, es zu lesen, auch anderes nicht, nicht einmal Paul Celans Gedichte, die ich ebenfalls mitgenommen hatte, er, der sich in der Seine ertränkt hat. Auch zu schreiben vermochte ich nicht, nicht die kleinste Zeile. Alles schmerzte, auch meine Sehnsucht nach Lech.

       Auf der Insel, 9. Dezember 2014

      Es war Abend. Lech saß im Sessel und las. Ich blätterte Bücher durch, die früher einmal Mutter gehört hatten, Bücher über Ostpreußen, in denen sie Unterstreichungen vorgenommen und kleine Kommentare an den Rand geschrieben hatte. Doch nichts über Bruno, nirgendwo. In einem der Bücher lag ein Ausschnitt aus der Zeitschrift Riesengebirgsheimat, Jahrgang 2004, Nummer 2, Seite 30:

      »Herr Jeannot Bartier ist auf der Suche nach Einwohnern Spindelmühles, die Kontakt zu seinem Vater hatten. Sein Vater Henri J. Bartier, geboren am 12. April 1922, gehörte einer Kolonne belgischer Kriegsgefangener an, die im Dienst der Firma Chemische Werke Brieg, Abteilung Straßenbau, eine Straße von Spindelmühle zum Spindlerpass anlegten. Herr Bartier junior wäre über jede Nachricht erfreut, so geringfügig sie auch ausfiele. Wer sich an seinen Vater erinnert, kann sich Fotos anschauen, die Herr Bartier senior aufgenommen hat: ein Foto, datiert 1941, das die belgischen Kriegsgefangenen De Bliek und Tobac zusammen mit zwei Spindelmühlerinnen zeigt, Frau Standera und Frau Bauer (gemäß der handschriftlichen Notiz auf der Rückseite). Auf dem Bild ist auch Frau Wiesners Kind im Kinderwagen zu sehen. Darüber hinaus gibt es Fotos von Herrn Bartiers belgischem Wehrpass und seinem Kriegsgefangenenpass. Er fotografierte auch seinen Entlassungsschein, ausgestellt am 8. Januar 1941 von der Kommandantur in Görlitz. Nach Herrn Bartiers Tod fand der Sohn die Fotos in dessen Schreibtisch. Der Vater hatte nie, mit keinem einzigen Wort, erwähnt, dass er in Spindelmühle gewesen war. Wer über Informationen verfügt, kann Kontakt aufnehmen zu Monsieur Bartier Jeannot, 38 Rue Chanoine Camerlijnck, B-7780 Comines, Belgien.«

      Warum hatte Mutter diesen Ausschnitt aufbewahrt? Sie hatte ihn fein säuberlich mit der Schere ausgeschnitten. Ich zeigte ihn Lech. Das muss etwas bedeuten, sagte ich.

      Er schaute ihn genau an. Das ist schwer zu verstehen, erwiderte er. Dann sagte er, dass Kafka in Spindelmühle war. Er war krank gewesen und hatte ein Jahr lang nicht schreiben können. Sein Arzt hatte ihn in diesen Kurort im Riesengebirge geschickt, damit er wieder zu Kräften kam. Als Kafka dort eintraf, hatte es heftig geschneit, als wollte der Schnee alles begraben. Noch am selben Abend begann er am Schloss zu schreiben. Und die Worte strömten.

      »Wenn ich Bruno fände«, sagte ich, »würden meine Worte strömen.«

      »Warum ist er so wichtig für dich?«, fragte Lech.

      Ich antwortete mit einem Zitat von Kafka: »Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr.«

      »Das ist keine Antwort«, sagte Lech. Er sagte es mit Wärme.

      »Ich kann es nur schwer erklären«, erwiderte ich. »Er und ich gehören irgendwie zusammen. Vielleicht, weil er vor seinem Vater geflohen ist, und ich vor meiner Mutter.«

      »Vielleicht«, sagte Lech. Er klang nicht überzeugt. Ich war es selber nicht.

       Auf der Insel, 22. Dezember 2014

      Wir saßen in der Küche beim Frühstück. Ich sagte, es sei jetzt exakt fünfundzwanzig Jahre her, dass das rumänische Volk sich gegen Ceauşescu erhoben habe. Genau am 22. Dezember war der Diktator in Panik


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