Goodbye, Bukarest. Astrid Seeberger
erzählte. Märchen auf Russisch, in denen die Guten stets siegten. So wie es auch jetzt geschehen würde.
Auch seine Mutter leistete ihren Beitrag zum Großen Vaterländischen Krieg. Sie half mit beim Bau von Panzergräben und schleppte Sandsäcke, die man vor den Schaufenstern der Läden stapelte. Und sie zeigte ihm, wenn sie durch die Stadt gingen, wie listig die Moskauer waren, genau wie Odysseus, der den Trojanern ein Schnippchen geschlagen hatte, indem er das griechische Heer in einem gigantischen Holzpferd versteckte. Die Moskauer strichen die goldenen Kuppeln der Kirchen graugrün und verbargen Teile der Moskwa unter mächtigen Holzabdeckungen, um die deutsche Luftwaffe zu täuschen. Während Dmitri Holzflugzeuge baute, eine ganze Armada, die Hitlers Wehrmacht vernichten sollten.
Die Deutschen aber rückten mit rasender Geschwindigkeit weiter voran. Bis sie Smolensk erreichten, das nur vierhundert Kilometer von Moskau entfernt lag. Erst nach wochenlangem Kampf gelang es Hitlers Streitkräften, die Stadt zu erobern, ein Kampf, bei dem zahllose Soldaten starben, nicht aber Dmitris Vater. Er überlebte und wurde für seinen Mut sogar mit einer Medaille geehrt. Er zeigte sie Dmitri, als er auf einen kurzen Fronturlaub heimkam. Es war nur merkwürdig, dass er kein bisschen stolz darauf zu sein schien.
Am nächsten Tag aber – dem 7. November 1941, dem Jahrestag der Oktoberrevolution – hatte er die Medaille angelegt, als er mit seinem Panzer in der großen Militärparade mitfuhr, auf deren Durchführung Stalin bestanden hatte, obwohl der Krieg nicht weit vor Moskau tobte. Die Welt sollte sehen, wie ungeheuer stark die Sowjetunion war. Sie sollte verstehen, dass das, was Stalin vom Dach des Lenin-Mausoleums rief, die Wahrheit war: dass die Reserven der Sowjetunion unendlich waren, während die Hitlerdeutschlands bereits dem Ende zu gingen.
Ein eiskalter Wind kam auf. Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Moskau war von Schnee bedeckt, auch die marschierenden Soldaten und die vorbeirollenden Panzer. Dmitri und seine Mutter standen unter den Zuschauern. War das da nicht der Vater, der mit seinem Panzer vorbeifuhr? Sie sahen die Köpfe der Panzerschützen, die aus der offenen Luke ragten. Doch sie konnten sich irren. Die Militärparade, die auf dem Roten Platz vorüberzog, war weit entfernt. Und die Köpfe der Schützen waren so klein. Und Stalin auf dem Dach des Mausoleums nicht größer als ein Punkt. Auch die Katjuscha oder Stalinorgel, wie die Deutschen sie nannten, war kleiner, als Dmitri gedacht hatte. Wie konnte ein Raketenwerfer, der in einer halben Minute mehr als hundert Geschosse abfeuerte, nicht viel anders aussehen als eine einfache Kanone!
Einen Tag später kehrte der Vater an die Front zurück. Bevor er ging, umarmten er und die Mutter sich lange. Dann drückte er Dmitri fest an sich und forderte ihn auf, zu einem rechtschaffenen Mann zu werden. Der Vater sagte nicht mehr »zu einem guten Bolschewiken«.
Der Winter wurde immer erbarmungsloser, die Temperaturen sanken auf minus dreißig Grad. Das Wetter, las man in den Zeitungen, war aufseiten der Roten Armee. Denn die russischen Soldaten auf ihren Skiern flogen über die schneebedeckten Weiten, in warmer schneeweißer Winterkluft, unsichtbar und unüberwindlich. Während Hitlers Soldaten, denen die Winterausrüstung fehlte, im Schnee feststeckten und bibberten. Das war der Preis der Dummheit, sagte einer von Dmitris Klassenkameraden, dessen Vater General war. Wie konnten die Deutschen so sicher sein, dass sie es schaffen würden, Moskau noch vor dem Winter einzunehmen? Jetzt erfroren sie, ihre Nase und ihr Penis würden zu Eiszapfen, die bei der geringsten Bewegung abfielen. Dmitri dachte an seinen deutschen Onkel. Hatte auch er seine Nase und seinen Penis verloren?
Hitlers Wehrmacht aber ließ sich durch die Kälte nicht stoppen, sie rückte immer näher an Moskau heran. Und der Angstgeruch in der Stadt wurde stärker und stärker. Fast beneidete man diejenigen, die einen allmächtigen Gott besaßen, zu dem sie beten konnten. Als Bolschewik hatte man nur Stalin und seine Generäle, an die man glauben konnte. Und das fiel nicht so leicht, als der Befehl erteilt wurde, Moskau zu evakuieren. Nicht einmal Lenin durfte in seinem Mausoleum bleiben, obwohl er seit vielen Jahren tot war.
Dmitri und seine Mutter landeten in Galitsch, einer Kleinstadt am Galitschsee, fünfhundert Kilometer nordöstlich von Moskau. Der See war eine Eisfläche, umgeben von dunklen Wäldern. In klaren Nächten waren die Sterne groß, mit Sternbildern, die die Menschen einst auf ihrem Weg geleitet hatten. Jetzt war nicht mal mehr ein Ausweg geblieben, sagte die Mutter einmal, was immer sie damit auch meinte. Tagsüber arbeitete sie in einer Holzfabrik, während er die Schule besuchte. Am Abend saßen sie in dem kalten Mietzimmer auf ihrer Bettkante und löffelten die lauwarme Kohlsuppe. Und sprachen ausschließlich Russisch miteinander. Vielleicht waren die Wände zu dünn. Oder das Deutsche tat zu weh.
Im Januar 1942 erhielten sie einen Brief. Wenn sie ihn wenigstens in Moskau bekommen hätten, und nicht in dieser gottvergessenen Stadt. Dmitris Vater war im Kampf um Moskau gefallen. Es half nichts, dass er als Held gestorben war. Auch nicht, dass man die Deutschen zurückgedrängt hatte. Die Mutter wurde von der Trauer mitgerissen, weg von Dmitri, weg von allem. Es half nicht einmal, dass er Mutti zu ihr sagte. Sie schaute ihn an, als wisse sie nicht mehr, wer er war, oder wer sie war.
Es begann nach dem Tod des Vaters, dass er immer wieder einen schrecklichen Traum hatte. Er fuhr mit einem Floß auf dem See. Das Wasser war still und blank. Plötzlich sah er seine Mutter mit ausgestreckten Armen am Seegrund liegen, und kleine rote Fische schwammen durch ihr Haar. Als er voller Angst aufwachte, musste er rasch aufstehen, um sich zu überzeugen, dass sie in ihrem Bett lag und atmete.
Anfang März durften sie nach Moskau zurückkehren. Die Wohnung war eiskalt, es gab kein Wasser, die Wasserleitungen des Hauses waren in der Kälte geborsten. Stalin auf seinem Gemälde starrte noch immer misstrauisch nach rechts. Während die Mutter dünn und blass vor ihm stand und auf Deutsch sagte: »Was sollen wir jetzt tun?«
Wäre wenigstens die Stadt dieselbe gewesen. Doch die Straßen waren leer, viele ihrer Einwohner waren noch nicht zurückgekehrt. Und die wenigen, die zu sehen waren, hatten Gesichter wie die Mutter: Wenn man weiß, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Lediglich die Verkäufer an den Straßenecken schienen an die Zukunft zu glauben und kassierten für jeden Zug aus einer Zigarette zwei Rubel.
Doch auch in Moskau gab es rettende Engel. Eine von Vaters Kolleginnen, eine Frau um die vierzig, die nie geheiratet hatte, Jefrossina Komarowa, war zu seiner Nachfolgerin bestimmt worden. Sie durfte die Direktorswohnung übernehmen, Dmitri und seine Mutter aber konnten bleiben. Sie wäre es gewohnt, beengt zu leben, sagte die Komarowa, hätte jahrelang mit ihrem Bruder und dessen Familie zusammengelebt.
Sie kam hereingestürmt und übernahm sofort das Kommando, eine kraftvolle Frau, trotz ihrer schmalen Gestalt, mit schwarzem kurz geschnittenem Haar, dunklen brennenden Augen und einem großen rot geschminkten Mund. Sie zog mit all ihren Büchern in Vaters Arbeitszimmer ein, während Vaters Bücher ins Wohnzimmer kamen. Sodass Stalin nun misstrauisch auf die gesammelten Werke von Hegel, Marx und Lenin starrte.
Und sie stellte ihr Radio neben das Porträt von Vater. Abend für Abend saßen sie dort beisammen, die Komarowa, Dmitri und seine Mutter, und lauschten den Frontberichten. Die Komarowa rauchte hektisch, als könnte der Rauch die Deutschen vertreiben. Während die Mutter mit einem Gesicht an ihrer Zigarette zog, als beneidete sie den Rauch, der sich auflöste und verschwand.
Manchmal blieben sie auch nach den Nachrichten am Radio sitzen. Wie an dem Abend, als einer von Moskaus bekanntesten Schauspielern ein Gedicht rezitierte, das, wie es hieß, die Offiziere der Roten Armee ihren Männern vortrugen, bevor diese in den Kampf zogen:
Dann töte einen Deutschen – töte ihn!
Töte ihn, sobald du kannst!
Jedes Mal, wenn du ihn siehst,
Töte ihn, töte ihn unbedingt!
Während der Rezitator noch sprach, mit einer Stimme, die vor Kampfeslust vibrierte, stand die Mutter auf und schloss sich in der Toilette ein. Vielleicht revoltierte ihr Magen, wie so oft nach Vaters Tod. Oder ihr war aufgegangen – woran auch Dmitri gedacht hatte –, dass sie ja Deutsche war, obwohl inzwischen Bolschewikin. Und dass er Halbdeutscher war, was er um nichts in der Welt sein wollte. Er sah die Komarowa an. Sie lauschte konzentriert, als wolle sie kein einziges Wort verpassen. Er konnte den Gedanken nicht loswerden, dass alles einfacher wäre, wenn sie seine Mutter wäre.
Es