Goodbye, Bukarest. Astrid Seeberger
er ähnele Bruno, nur sei Bruno magerer gewesen.
Hatte Grünhoff vielleicht Bilder von Bruno?
»Kein einziges«, sagte er, »auch keins von Dinu.«
»Wer war Dinu?«
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Grünhoff.
Ich sagte: »Ich habe alle Zeit der Welt.«
»Die hatte Ihre Mutter nicht«, sagte Grünhoff. »Sie wollte nur von Bruno reden hören.«
Ich sagte, ich wolle alles hören.
Er fragte: »Die ganze Geschichte meines Lebens?«
Ich antwortete: »Ja.«
Dmitri Fjodorows
alias Hannes Grünhoffs Geschichte
Teil 1
Alles begann 1928 mit dem Sechsten Weltkongress der Kommunistischen Internationale, der, wie Grünhoff sagte, die reinste Katastrophe war. Denn dort kam man zu dem Entschluss, die Sozialdemokraten als Handlanger des Kapitals zu betrachten, die somit als Feinde bekämpft werden mussten. Hätte man mit ihnen zusammengearbeitet, hätte man Hitler vielleicht stoppen können. Nun aber schaufelte man sich sein eigenes Grab, die deutschen Kommunisten jedenfalls. Und auch Grünhoffs Mutter.
Das aber hatte sie damals nicht verstanden. Während der Weltkongress stattfand, war er das Wunderbarste, was in ihrem Leben je geschehen war. Denn auf ihm gab es einen russischen Delegierten: einen jungen Lehrer, der, obwohl er Kommunist war, einem Prinzen aus Tausendundeiner Nacht glich. Er brannte für die Befreiung des Volkes vom kapitalistischen Joch und bald auch für Grünhoffs Mutter, die als junge Journalistin über den Kongress berichtete. Auch seine Mutter begann zu brennen. Es endete damit, dass sie als freie Korrespondentin zu ihrem Liebsten nach Moskau zog.
Es spielte keine Rolle, dass sie arm waren und beengt wohnten. Und dass ihr Paradies oft nach Schtschi, der russischen Kohlsuppe, roch. Sie waren glücklich und überzeugt, an der Schaffung einer besseren Welt mitzuwirken. Später sollte seine Mutter sagen: Das einzige Schöne, was sie zu schaffen vermocht hatten, sei er, Dmitri Hannes Michaijlowitsch Fjodorow, gewesen, ihr einziges Kind, das 1932, am ersten Tag des letzten glücklichen Jahres, geboren wurde.
Im Jahr danach änderte sich alles. Hitler wurde Reichskanzler. Und schon bald bestand keine Möglichkeit mehr, als links eingestellte deutsche Korrespondentin tätig zu sein. Die deutschen Zeitungen wurden gleichgeschaltet und nazifremde Komponenten – wie die Artikel der Mutter – eliminiert. Und auch in Moskau geschahen Dinge. Man sagte nicht mehr alles, was man dachte. Die es dennoch taten, wurden von der Geheimpolizei abgeholt und nie wiedergesehen. Manchmal wurde man auch abgeholt, obwohl man nichts Unerlaubtes gesagt hatte. Alle wussten, dass es zwei Bezeichnungen gab für jemanden, der flüsterte: Scheptschuschi für den, der flüstert, um nicht gehört zu werden, und Scheptun für den, der hinter deinem Rücken den Behörden ins Ohr flüstert. Und ein neuer Geruch breitete sich aus, Angstgeruch, nach dem Geruch des Todes der schlimmste von allen.
Genauso hatte seine Kindheit gerochen, sagte Grünhoff: nach Angst und Kohlsuppe. Und nach Seife und Bohnerwachs. Manchmal gingen er und seine Mutter an die Moskwa, um all den Gerüchen zu entkommen. Sie saßen am Wasser, und die Mutter erzählte von den Flüssen und Seen in Berlin: der Spree und der Havel und vom Wannsee, wo sie in einem großen weißen Haus aufgewachsen war. Wenn sie erzählte, konnte man auf die Idee kommen, dass sie sich nach einer anderen Zeit sehnte, einer Zeit, die es nicht mehr gab, nicht einmal in Berlin. Eine Zeit mit dem Duft nach Freiheit. Er meinte ihn zuweilen zu spüren. Wenn eins der kleinen Holzschiffe, die er gebaut hatte, auf der Moskwa davonfuhr. Es spielte keine Rolle, dass der Vater ihm den Weg des Holzschiffs im Atlas zeigte: dass es über die Oka und Wolga im Kaspischen Meer landete, was nicht wirklich ein Meer war, sondern ein von Land umschlossener See.
Wenn die Mutter und er allein waren, sprachen sie Deutsch. Und sie nannte ihn ihren Hannes, so wie ihr Großvater geheißen hatte. Waren der Vater und andere Menschen dabei, sprachen sie Russisch. Er hatte eine Mutter- und eine Vatersprache. Eine Sprache, in der er sich fortträumen konnte, und eine für die Wirklichkeit.
Doch er musste seiner Mutter versprechen, nie mit jemand anderem Deutsch zu sprechen. Er durfte auch nicht erzählen, dass seine Mutter aus Deutschland kam. Sie war eine passionierte Sowjetbürgerin, und damit basta. Es war ein Glück, dass sie einen Vornamen – Anna – hatte, der auch in der Sowjetunion gebräuchlich war. Und dass sie akzentfrei Russisch sprach. Obendrein stand sie mit ihrer Familie in Berlin nicht mehr im Briefwechsel. Vielleicht hatte sie gehört, dass das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten eine »Deutsche Operation« durchführte: Sowjetbürger deutscher Herkunft und deutsche Emigranten galten systematisch als Terroristen und als Spione und wurden verhaftet. Doch Mutter nicht. Hatte der Vater Beziehungen? Oder war die Quote der zu Verhaftenden erfüllt?
Sein Vater war oft wie abwesend. Er schaffte es kaum, von der Schule heimzukommen und seine Kohlsuppe zu löffeln, da war es schon wieder an der Zeit, sich der Parteiarbeit zuzuwenden. Es ist die Pflicht des Menschen, sagte er zu seinem Sohn, alles nur Mögliche für sein Land zu tun. Und dann strich er Dmitri mit seiner weichen Hand sanft übers Haar, ein wenig zerstreut, aber dennoch.
Und der Einsatz des Vaters lohnte sich. Im Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg wurde er zum Direktor einer der besten Moskauer Schulen ernannt. Sie bekamen eine Dienstwohnung mit einem großen Stalin-Gemälde im Wohnzimmer. Stalin stand hoch aufgerichtet vor der roten Sowjetfahne mit Hammer und Sichel und blickte schräg nach rechts, mit leicht zusammengekniffenen Augen, als sei er misstrauisch. Man konnte meinen, es sei das Beste, auf der linken Seite zu stehen. Freitags wurde Stalin abgestaubt, wie alles andere in der Wohnung. Manchmal sah es aus, als ob die Mutter mit dem Staubwedel nach ihm schlug, während sie einen alten Schlager trällerte, zu dem sie in Berlin getanzt hatte.
Oder sie summte Jazzsongs, die das Jazzorchester Alexander Warlamows im Zentralen Haus der Roten Armee spielte oder Moskaus erste Frauenjazzband im Zentralen Klub der Holzveredlungsindustrie. Dorthin gingen die Eltern, wenn sie eine Pause vom Klassenkampf brauchten. Oder sie gingen ins Theater, während ein kaukasisches Mädchen auf Dmitri aufpasste. Sie habe am Asowschen Meer gewohnt, erzählte sie mit einem Blick, als sehnte sie sich dorthin, obgleich auch das kein richtiges Meer war, sondern nur ein großer See.
Er war neun Jahre alt, als Hitler am 22. Juni 1941 den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion brach und die deutschen Heereskräfte ins Land eindrangen. Der Vater zögerte keinen Augenblick, um sich als Soldat zu melden und im Großen Vaterländischen Krieg zu kämpfen, wie Stalin das Schlachten nannte. Die Mutter sagte, sie sei stolz auf ihn. Trotzdem aber weinte sie. Wie einmal, als Dmitri in die Küche kam und sie wie eine Besessene die Kartoffeln schrubbte, um ihre Tränen zu verbergen. Vielleicht dachte sie nicht nur an den Vater, sondern auch an ihre Eltern und ihren Bruder in Berlin. Er getraute sich nicht zu fragen, der Angstgeruch war zu stark.
In einer der ersten Kriegswochen bekamen sie einen Brief von der Front. Er erinnerte sich nicht, was der Vater geschrieben hatte, nur an das beigefügte Foto. Darauf stand er hoch aufgerichtet vor seinem Panzer, den Blick geradeaus gerichtet, so als fürchte er nichts. Dennoch glich er vor allem einem Prinzen aus Tausendundeiner Nacht, der sich als Soldat verkleidet hatte. Das Foto kam auf dem Beistelltisch zu stehen, im Goldrahmen, direkt gegenüber dem Stalin-Bild. Manchmal nahm die Mutter das Foto in die Hand und betrachtete es. Da konnte es vorkommen, dass ihre Augen blank wurden, so als bräche sie gleich in Tränen aus. Insbesondere, wenn die Zeitungen von einer erneuten Niederlage der Roten Armee berichteten.
Der Krieg war erst einen Monat alt, als die deutsche Luftwaffe mit ihren Bombenangriffen auf Moskau begann. Die Moskauer rannten zu den Schutzkellern, wenn das Geheul der Warnsignale über der Stadt erklang. Er und die Mutter liefen zur Station Majakowskaja, einer von Moskaus neuen Metro-Stationen, die dreißig Meter unter der Erde lag. Es war, als betrete man eine andere Welt. All die glänzenden Säulen, die schimmernden Marmorböden, die goldenen Lampen! Als käme man in die Säulenhalle eines kaiserlichen Palastes. Die eines gastfreundlichen Kaisers, der seinen Gästen Schlafpritschen mit weichen Decken und weichen Kissen bot. Und