Goodbye, Bukarest. Astrid Seeberger

Goodbye, Bukarest - Astrid Seeberger


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die Jahre verboten war. Vielleicht hatte ja auch Bruno »Stille Nacht« vor sich hin gesummt, während er auf einem Bahnsteig der U-Bahn auf den Zug wartete.

      »Du gibst nicht auf«, sagte Lech.

      »Nein«, sagte ich. »Ich will Bruno finden, auch wenn ich nicht weiß, wie.«

      »Du hast keine Spur«, sagte er.

      »Falls Monsieur Bartier Jeannots Annonce nicht eine Spur ist«, erwiderte ich.

      »Vielleicht hat sie deine Mutter auf die Idee gebracht, selber zu annoncieren«, meinte Lech.

      Ich sah ihn an. Er war gerade im Begriff, dem Ei mit dem Messer die Spitze abzuschlagen. Ich kannte niemand anderen, der das so elegant machte wie er. Und es waren auch nur wenige, die so scharf dachten.

      »Du kannst recht haben«, sagte ich.

      Er erwiderte, das sei jedenfalls eine einleuchtende Hypothese.

       Auf der Insel, 1. Januar 2015

      Lech schlief noch, als ich aufwachte, auch als ich seinen Fuß mit meinem berührte. Aus der Küche waren Geräusche zu hören. Das musste Anselm sein, unser alter Freund, der mit uns Silvester gefeiert hatte. Er wird gewöhnlich früh wach, selbst wenn er spät ins Bett gegangen ist.

      Ich dachte an das, was Anselm gestern erzählt hatte. Nach dem Essen hatten wir auf den Sofas Platz genommen, Lech und ich auf dem mit dem Wolfspelz und Anselm auf dem anderen. Lech sagte, jeder Jahreswechsel mache ihm zu schaffen, sie hätten etwas von Memento mori an sich. Während ich sagte, jedes Jahr könne ein Annus mirabilis werden, ein Jahr der Wunder. Da hatte Anselm uns von einem Wunder erzählt.

      Eigentlich jedoch sei es die Geschichte einer Besessenheit, sagte er. Arnold Schultze, 1875 in Köln geboren, war Offizier geworden, vielleicht in erster Linie, um in die Kolonien zu gelangen. Denn in den Kolonien gab es das, wovon er besessen war, Pflanzen und Schmetterlinge, die noch niemand beschrieben hatte. Er nahm an der deutsch-englischen Grenzexpedition im nördlichen Kamerun teil, bei der er jede freie Minute darauf verwandte, Schmetterlinge zu sammeln. Dann aber wurde er krank, so krank, dass er das Militär verlassen musste. Das war das Beste, was ihm hatte passieren können. Denn jetzt konnte er sich seiner Besessenheit hundertprozentig widmen. Vielleicht war es ja sogar so, dass ihn diese Besessenheit wieder gesunden ließ.

      Er nahm an Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburgs zweiter deutscher Expedition nach Zentralafrika teil. Fuhr nach Kolumbien, wo er sich in den 1920er-Jahren acht Jahre lang aufhielt und eine Arbeit nach der anderen über seine Schmetterlingsfunde verfasste. Und über die Zerstörung des Regenwaldes, vor der er bereits damals warnte. Später dann, nach Abstechern in den Kongo und auf die Balearen, war er zu einer neuen großen Expedition bereit. Und brach mit Hertha, seiner zweiten Frau, nach Ecuador auf. Dort wollte er die Schmetterlinge und Pflanzen erfassen, insbesondere die des Regenwaldes. All das, was dort emporrankte und flatterte, war von so überwältigender Schönheit. Und am wundervollsten war es, all das zusammen mit Hertha zu sehen.

      Sie verbrachten fünf Jahre in Ecuador. Fünf Jahre im Paradies, mit einem erstaunlichen Fund nach dem anderen. Dann fuhren Hertha und er heim, zusammen mit einer phänomenalen Sammlung seltener Pflanzen und Schmetterlinge. Am 25. August 1939 gingen sie an Bord des deutschen Handelsschiffes Inn, das nach Hamburg zurückkehren sollte, beladen mit Holz, zweihundertfünfzig Tonnen Gummi und fünfhundert Tierhäuten. Und mit Schultzes Sammlung, die ihn berühmt machen sollte.

      Doch hatten sie nicht mit der Weltgeschichte gerechnet. Am 3. September 1939 erklärten Großbritannien und Frankreich Nazideutschland den Krieg. Und die Alliierten verhängten eine Blockade über den Atlantik. Am 5. September wurde die Inn von einem britischen Kriegsschiff gestoppt. Alle an Bord durften das Schiff verlassen, bevor die Briten zwölf Kanonenschüsse auf die Inn abgaben. Und Schultze und seine Frau sahen, wie das Schiff unwiderruflich sank, mit der Sammlung und allem, was sie besaßen.

      Nach kurzem Aufenthalt in einem Internierungslager in Dakar – auf Intervention eines französischen Anthropologen ließ man sie frei – landeten sie in Funchal auf Madeira, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachten. Ein besessener Mensch aber gibt nicht auf. Wenn Schultze seine Funde schon nicht vorzeigen konnte, musste er über sie schreiben und sie malen. Denn an das, was einen begeistert hat, erinnert man sich in allen Details. Er setzte sich an die Arbeit, mit der gleichen Besessenheit wie immer. Und starb mitten in seiner Besessenheit, mitten im Schreiben und Malen, nicht älter als dreiundsiebzig Jahre.

      Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, sagte Anselm. Dann aber gab es den Autor Hannes Zischler und die Illustratorin Hanna Zeckau, die planten, ein Buch über eine Kongo-Expedition zu schreiben. Als sie im Berliner Museum für Naturkunde den Fundus durchgingen, stießen sie auf einen alten verstaubten Koffer – das Objekt 1939-08-12/1 –, von dem niemand etwas wusste. Als sie ihn öffneten, verschlug es ihnen die Sprache.

      Der Koffer war bis zum Rand mit Zigarrenkästen gefüllt. Und in den Zigarrenkästen lagen kleine, adrette Päckchen: alles in allem achtzehntausend Regenwaldschmetterlinge, eingeschlagen in Zeitungsausschnitte, Hotelrechnungen, herausgerissene Buchseiten und zerschnittene Briefe. Es war einer von Schultzes Koffern, der, wie sich herausstellte, mit einem anderen Schiff verschickt worden war. Ein Teil der Sammlung war auf wunderbare Weise gerettet worden. Und Arnold Schultze, den man vergessen hatte, gelangte ins Rampenlicht. Denn Zischler und Zeckau ließen das Buch über die Kongo-Expedition sausen. Und schrieben stattdessen über den großen Schmetterlingsforscher.

      Ich spürte plötzlich eine Hand, die meine Hüfte streichelte. Lech war aufgewacht. Als ich mich ihm zuwandte, sagte er, ihm sei gerade ein Gedanke gekommen. Wenn man seine Frau nur Tag für Tag und Nacht für Nacht streicheln kann, dann werde jedes Jahr ein Annus mirabilis.

       Auf der Insel, 12. Januar 2015

      Ich fühle mich guter Dinge. Ein rumänischer Forscherkollege hat mir geholfen, eine Annonce in einer der großen Tageszeitungen seines Landes zu schalten:

      »Suche nach meinem Onkel Bruno Seeberger, geboren in Ostpreußen, der nach dem Zweiten Weltkrieg, als er um die dreißig Jahre alt war, nach Bukarest gekommen war. Dem Vernehmen nach hat er als Pilot gearbeitet. Informationen bitte an …«

      »Vielleicht lebt ja Bruno noch«, sagte ich zu Lech. »Vielleicht sitzt er im Rollstuhl, fast hundert Jahre alt, und liest die Zeitung mit einer Lupe.«

      »Und dann rollt er ans Telefon und ruft dich an«, erwiderte Lech.

      Wir lachten. Vor allem, weil das Leben so schön war. Und weil es uns gab.

       Auf der Insel, 2. Februar 2015

      Es hat die ganze Nacht geschneit. Die Schneehauben wachsen, Büsche und Bäume biegen sich unter der Fülle, der See ist zum großen weißen Flachland geworden. Wie leben die Fische jetzt ihr Leben? Stehen sie unterm Eis reglos in der Dunkelheit? Oder schwimmen sie umher, als gäbe es kein Eis?

      Und ich? Ich gleiche einem Faultier, das sich im Baum festgehakt hat. Ich habe mich an Bruno festgehakt. Und kann meinen Griff nicht lockern, nicht einmal jetzt. Obgleich sich die Annonce als verlorene Liebesmüh erwiesen hat. Nicht eine einzige Antwort war gekommen. Lech fragte mich heute, warum es mir so schwerfiel aufzugeben.

      Ich fragte ihn, ob er sich an Elisabeth Costello, den Roman von J. M. Coetzee, erinnerte. Am Ende des Buches will die gealterte Autorin die Grenze zur anderen Seite passieren. Um das tun zu können, muss sie jedoch eine Erklärung abgeben. Und sie schreibt, dass sie Sekretärin des Unsichtbaren sei, eine von vielen Sekretären im Laufe der Jahrhunderte. Sie schreibe nur auf, was sie höre, so genau sie es vermöge. Das sei ihr Beruf: Texte nach Diktat zu schreiben.

      Und ich höre Bruno, sage ich. Schon als ich noch ein Kind war und daran dachte, wie er tot im Schnee von Stalingrad lag, redete er zu mir. Und als ich erfuhr, dass er nicht tot war, redete er noch mehr. Er ist jedoch zu weit weg, als dass ich seine Worte vernehmen


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