Goodbye, Bukarest. Astrid Seeberger

Goodbye, Bukarest - Astrid Seeberger


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nicht weiß, wie.

      Lech fragte, warum gerade Brunos Stimme so zwingend war. Vielleicht geht es um ein Wiedererkennen, sagte ich, so wie man sich von gewissen Menschen angezogen fühlt, auch von gewissen Büchern, gewissen Bildern und gewisser Musik. Man erkennt etwas aus der eigenen tiefsten Tiefe wieder, etwas, was den Boden für all das bildet, was man ist.

      Lech sagte, er glaube zu verstehen. Dann erzählte er eine Geschichte, an die er sich ausgerechnet jetzt erinnerte, aus einem Grund, den er nicht begriff. Bevor wir uns begegnet waren, hatte er eine Zeit lang in Österlen gewohnt. Dort hatte er einen langen Spaziergang unternommen, als er an einer umzäunten Wiese vorbeigekommen war, auf der es überall Maulwurfshügel gab. Ein Mann mit Sportmütze war gerade beim Reparieren des Zauns. Als Lech mit ihm sprach, erzählte der Mann, dass er neugeborene Maulwurfjunge in der Hand gehalten hatte. Dass sie nackt und blind waren und nicht größer als eine Puffbohne, hatte ihm nichts ausgemacht. Aber, dass sie zitterten. Auch als er sie weggelegt hatte, war das Zittern in seiner Hand verblieben.

       Auf der Insel, 11. März 2015

      Ich packte Mutters Sachen in einen Karton. Auch ihr Adressbuch. Ich wusste, was auf der Seite neun (bei den Buchstaben I und J) stand, in ihrer kindlichen Handschrift geschrieben, etwas, was ich nicht sehen wollte:

      Hingeschüttet bin ich wie Wasser,

      gelöst haben sich alle meine Glieder,

      mein Herz ist geworden wie Wachs,

      in meinen Eingeweiden zerflossen.

      Warum blätterte ich die Seiten wieder durch? Nur um mir erneut bewusst zu machen, wie wenig Menschen Mutter verblieben waren? Die meisten Adressen und Telefonnummern betrafen Ärzte, Handwerker und Ämter. Dann gab es da meine Nummer, ich, die in ein anderes Land geflohen war. Und die Nummer ihres Friseurs, der ihr die grauen Haare schnitt, dass sie einem Helm aus Stahl glichen. Und die Nummer von Vaters Verwandten in der Schweiz, die sie seit Vaters Tod nicht mehr getroffen hatte. Und die eines Pflegeheims in Güstrow, wo der Einzige von Mutters Geschwistern, der noch am Leben war, sich an nichts erinnerte. Und die von Alois, der das erfahren durfte, was Mutter mir nie erzählt hatte. Und die von Hannes Grünhoff in Berlin, ein Name, den ich noch nie gehört hatte.

      Auf der Suche nach Bruno

       Wannsee, im April 2015

      Dass ein Garten so üppig blühen konnte – überall Tulpen und Osterglocken und ein großer alter Kirschbaum, dessen Äste vor lauter Blüten kaum zu sehen waren. Und dann die Wärme! Mit einem Mal gingen die Berliner Frauen in dünnen flatternden Kleidern umher, mit nackten Armen und Beinen.

      Ich stand am Gartentor mit dem eisernen Türgriff in der Hand, der von der Sonne erwärmt war. Der Schotterweg, der zum Haus führte, war frisch geharkt, ein weiß gekalktes Haus, die Wände mit wildem Wein bewachsen. Einen Moment lang hielt ich inne. Es war, als würde der Kirschbaum klingen, als säße dort jemand und ließe den Bogen über ein Cello gleiten, nur ganz leicht über eine der Saiten. Wie wenn es auf unserer Insel die Bienen zu den Kirschbäumen zieht und Lech sagt: Jetzt singen unsere Bäume.

      Ich öffnete das Tor und ging zum Haus hinauf. Die Tür war blau gestrichen, als hätte sie die Farbe vom Himmel entliehen. Ich drückte auf die Klingel. Es ertönte ein Dreiklang, ein Klang in Dur hätte Vater gesagt, der das absolute Gehör besaß. Eine kleine, rundliche Frau öffnete, gekleidet in ein taubengraues Leinenkleid. Auch ihr Haar war grau, langes, geflochtenes graues Haar, das sie als Kranz um den Kopf gelegt hatte. Ihr Gesicht wirkte glatt. Erst als das Licht darauf fiel, wurde ein Netz feiner Falten sichtbar. Sie lächelte, als ich meinen Namen sagte, und wir gaben uns die Hand. Ihre Hand war warm, hatte einen festen, freundlichen Griff. Und sie sagte ihren Namen mit klingender Stimme: Sabine Grünhoff.

      Sie würde Hannes holen, sagte sie. Er befände sich in der Werkstatt, obwohl Sonntag war. Er konnte nicht anders. Ob ich einen Moment auf der Terrasse Platz nehmen wollte? Ich fragte, ob ich sie nicht begleiten könnte. Werkstätten fand ich immer verlockend. Und so gingen wir zusammen hin.

      Es war eine große, helle Werkstatt, nach Malerfarbe und Holz duftend. An der Arbeitsbank stand Hannes D. M. Grünhoff, der einst Dmitri H. Michailowitsch Fjodorow hieß: ein großer, breiter Mann im langen weißen Kittel wie ein Doktor. Seine Unterschenkel waren nackt und bleich, um die Knöchel ein Netz blau schimmernder Venen. Die Füße steckten in schwarzen Holzpantoffeln. Das Gesicht war rund und rosig, das Haar weiß gelockt. Doch was den Blick an ihm am meisten anzog, waren seine braunen Augen: Sie strahlten hinter der Brille wie die eines glücklich Verliebten.

      Er war dabei, die Teile für einen Stuhl zu schleifen. Denn Stühle seien seine Spezialität, sagte er, selbst wenn er auch Tische und Schränke gemacht habe. Doch Stühle zu bauen wäre das Schönste überhaupt. Und zugleich das Schwierigste: einen Stuhl anzufertigen, der den Menschen trägt, sodass er seinen Körper vergisst und sich dem widmen kann, was ihn vom Tier unterscheidet, dem Denken. Fantasie – wenn sie frei sein soll – erfordert einen guten Stuhl. Und es ist in der Tat eine Kunst, einen solchen zu bauen. Es hatte ihn viele Jahre gekostet, das zu erlernen. Und jetzt konnte er es einfach nicht lassen, obwohl er schon dreiundachtzig und seit Langem in Rente war.

      Er zeigte mir die Werkstatt, die unterschiedlichen Holzsorten, die Leinölfarben und Werkzeuge. Das Holz sei das Wichtigste, sagte er, Holz zu finden, das sich formen lässt und das nicht müde wird, die Schwere des Menschen zu tragen, auch nicht nach Jahrhunderten. Bei Stradivaris Geigen hatte er gelesen, dass sie aus Ahornholz gebaut waren, mit einer Dichte, die alles übertraf. Und dass es dieses Ahornholz in den Bergen des Balkans gab. Die dortigen Winter mit ihren eisigen Stürmen und die Sommer mit ihrer brennenden Hitze bewirkten, dass die Bäume nur langsam wuchsen, mit ungewöhnlich starkem Holz. Holz, das auch für seine Stühle passen könnte. Denn war es nicht schließlich so, dass Geigen und Stühle zusammengehörten? Beide befreiten den Menschen von seiner Schwere.

      Wir nahmen auf der Terrasse auf Ahornstühlen Platz, gestrichen mit hellgrüner Leinölfarbe, es war genau die Farbe, sagte Grünhoff, die das Ahornlaub der Karpaten im Frühjahr zeigte. Er saß mir gegenüber, in weißem Leinenhemd und beigefarbenen Shorts, zwischen uns ein Tisch, gestrichen in derselben hellgrünen Farbe. Neben ihm saß seine Frau. Sie wollte seine Geschichte gern hören, sagte sie, obgleich sie sie schon früher vernommen hatte. Wie zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter vor einer Reihe von Jahren zu ihnen gekommen war.

      Mutter hatte erwähnt, dass sie Witwe war. Vater war im Dezember 2002 gestorben, Mutter im November 2007. Also musste sie irgendwann in diesen fünf Jahren hier gewesen sein. Es regnete, als sie kam, sagte Grünhoff, ein gewaltiger Regen, als wollte eine Sintflut Berlin ertränken. Als Mutter vor seiner Tür stand, dachte er, sie sähe aus wie jemand, der in Noahs Arche keinen Platz bekommen hatte. Also sah er sich gezwungen, ihr Tee mit Rum anzubieten. Und seinen schönsten Sitzplatz, einen Stuhl aus transsylvanischem Ahorn.

      Ich fragte, ob Mutter mich erwähnt hatte. Grünhoff sah das vor ihm stehende Glas an, eins der drei Gläser, die seine Frau auf den Tisch gestellt hatte, gefüllt mit Berliner Weiße, einem hellen kalten Bier, gewürzt mit Waldmeister, der es grün schimmern ließ. Nein, sagte er nach einer Weile, sie sprach nur von Bruno. Er erinnerte sich genau, dass sie gesagt hatte, er wäre der letzte Mensch, den sie, falls er also am Leben war, noch hatte.

      »Wir sollten das Bier jetzt trinken«, sagte Grünhoffs Frau. Und Grünhoff hob sein Glas und rief: »Prost!« Ich nahm einen Schluck. Es schmeckte gut. Ich dachte an Mutter, die als Kind in Ostpreußens Wäldern Waldmeister gepflückt hatte, große Büschel blühenden Waldmeisters, aus denen Großmutter Sirup kochte. Sirup, der der Bowle Duft und Geschmack verlieh, die auf den samstäglichen Abendgesellschaften in Mutters Elternhaus serviert wurde, einem großen weißen alten Gutshaus ein Stück vor Pieniȩżno, das damals Mehlsack hieß. Die Bowle kam auf den Tisch, wenn der Tanz begann, eine grün schimmernde Bowle, mit der sich Großvater erfrischte, nachdem er die schönsten Frauen Mehlsacks in seinen Armen herumgewirbelt hatte, so lange, bis sie seine Ansicht teilten: dass die Menschen füreinander geschaffen waren, ganz besonders


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