Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht. Marie Brennan

Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht - Marie  Brennan


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ist ein Schlag ins Gesicht, dass er sie mit der Arbeit anfangen lässt, bevor ich auch nur ankomme! Und warum hat er gestern Abend nichts davon zu mir gesagt? Wahrscheinlich weil er wusste, wie ich reagieren würde, und als der Feigling, der er ist, ist er dem Problem ausgewichen, indem er mich über diesen Eindringling stolpern ließ, während er noch in seinem warmen Bett war.

      Sie hielt einen Stapel aus Büchern und Notizzetteln an ihre Brust gedrückt. Jetzt sah ich den Raum in einem neuen Licht: den Tisch mit seinem schützenden Tuch und der Reihe aus Tafeln. Lord Gleinleigh hatte sie nicht ausgelegt. Dieses Mädchen hatte das getan. Und sie hatte auf genau dem Stuhl gesessen, den ich gewählt hatte, und begonnen, die Geheimnisse dieses Horts zu entschlüsseln, was meine Verantwortung und mein Privileg sein sollte.

      Ich weiß, dass es schrecklich von mir ist, es so zu schreiben. Wenn Großmama hören würde, dass ich ein solch gieriger kleiner Draken bin, würde sie mich für eine Woche ohne Bücher in mein Zimmer sperren. Außer dass sie auch weiß, wie wütend es einen macht, wenn einem der angemessene Respekt verweigert wird – und wenn es nicht dieses unbeholfene Mädchen gewesen wäre, das mir den Rang abgelaufen hatte, denke ich, dass ich vielleicht völlig die Beherrschung verloren hätte. (Wenn es Lord Gleinleigh gewesen wäre … Tja, dann hätte ich ihn wohl mit Gelächter aus dem Raum vertrieben, weil ich weiß, dass er kein Fünkchen Talent für diese Aufgabe besitzt. Aber irgendein anderer Mann wie er? Ich wäre rasend vor Wut gewesen.)

      Jedenfalls kann ich nicht behaupten, dass ich sehr höflich war. »Dann lassen Sie mich sie sehen«, sagte ich und streckte eine Hand aus.

      »Was sehen?« Aber der Art nach zu urteilen, wie sie ihren Stapel fester hielt, wusste ich, dass sie verstanden hatte, was ich meinte.

      »Die Übersetzung«, sagte ich. »Ich nehme an, Sie sind die Assistentin, die Lord Gleinleigh mir gegenüber erwähnt hat«, wobei ich das Wort »Assistentin« betonte. Unter keinerlei Umständen hatte ich vor, mich in eine untergeordnete Stellung zwingen zu lassen. »Weil Sie so freundlich waren, bereits mit der Arbeit anzufangen, werde ich sie mir ansehen.«

      Ihr Kinn verspannte sich zu einer sturen Linie, aber sie stellte ihren Stapel ab und holte einige Blätter aus einer Mappe. Ich war erleichtert, als ich sah, dass es so wenige waren: Ich hatte halb Angst, dass sie bereits alles durchgegangen war, obwohl ich wusste, dass das nicht möglich war. Ich setzte mich ganz betont auf den Stuhl, den sie für sich beansprucht hatte, und begann zu lesen.

      Die Seiten waren ein völliges Chaos, mit durchgestrichenen Zeilen gefüllt, wo sie es sich ständig anders überlegte, also brauchte ich einige Momente, um mir überhaupt meinen Weg durch das Gewirr zu suchen und festzustellen, was sie geschrieben hatte – und dann noch einige weitere Momente, um die Absurdität dessen zu verdauen, was ich gerade gelesen hatte. Es war ein solch unglaubliches Desaster, dass ein Teil von mir in Gelächter ausbrechen wollte. Aber weil es so kurz nach meiner Schmach kam, war es schwierig für diesen Impuls, sich durchzusetzen, und im Ergebnis saß ich nur da und starrte die Seiten noch lange an, nachdem ich zu lesen aufgehört hatte, während ich darüber nachdachte, was ich sagen sollte.

      Natürlich konnte ich nicht ewig dort sitzen. Schließlich blickte ich auf – immer noch ohne die geringste Idee, was ich sagen würde – und stellte fest, dass sie wartete, ihr Körper steif in jenem schlichten grauen Kleid.

      Niemand, der intelligent genug war, selbst diesen Murks aus einem drakoneischen Text zu produzieren, konnte ansatzweise dumm genug sein, um sich nicht bewusst zu sein, wie schlecht dieser war. Ich sah in der Haltung ihres Kinns eine Art Herausforderung, als würde sie darauf warten, zu sehen, was ich sagen würde. Würde ich Höflichkeitsfloskeln nutzen, als würde sich ihr Werk nicht lesen, als sei es von einer Fünfjährigen geschrieben? Oder würde ich auf sie losgehen, weil sie so furchtbare Arbeit geleistet hatte?

      Ich stellte fest, dass ich nichts davon tun konnte. Die Sanftheit meiner eigenen Stimme überraschte mich, als ich sagte: »Haben Sie je zuvor antikes Drakoneisch übersetzt? Oder die moderne Sprache?«

      Die Antwort kam als angespanntes kleines Kopfschütteln. Dann fügte sie hinzu, während ich wieder nach Worten suchte: »Onkel hat gesagt: Du liest gerne und du magst Rätsel. Du solltest das hier versuchen.«

      Als würde eine Vorliebe für Rätsel einen dafür qualifizieren, mit einer toten Sprache zu arbeiten! Aber es klang genau wie etwas, das Lord Gleinleigh sagen würde. »Haben Sie überhaupt schon viel übersetzt?«

      »Ich spreche Thiessois und Eiversch«, sagte sie.

      Wenn sie nur annähernd wie andere junge Damen ist, spricht sie sie nur gut genug, um einige Lieder zu singen. »Aber keine Übersetzung? Ich meine lange Passagen.« Als sie wieder den Kopf schüttelte, sagte ich: »Es ist eine ziemliche Herausforderung, und obwohl es manchmal ein wenig wie ein Rätsel ist, ist es auch ganz anders. Sie … haben hier einen guten Anfang gemacht.«

      Sie biss wieder die Zähne zusammen. Dann sagte sie offen: »Es ist furchtbar.«

      Angesichts einer derartigen Aussage konnte das Taktgefühl meine natürliche Ehrlichkeit nicht länger niederringen. »Es ist furchtbar«, stimmte ich zu. »Aber sogar es so weit zu schaffen, ist eine Leistung.«

      Sie starrte auf ihre Schuhe. Ein Lächeln begann, an meinem Mundwinkel zu zupfen – ich konnte es nicht unterdrücken. Dann fing sie an zu lachen, und das überrumpelte mich, und die Anspannung in mir löste sich.

      Als wir endlich aufhörten zu lachen, stand ich auf, um ihr einen Stuhl zu holen. Nur dass sie, als ich mich wieder umdrehte, meinen Stuhl eingenommen hatte – ihren Stuhl, meine ich, denn ich habe das Gefühl, dass ich, wenn es darum geht, gegen den Wind segle. Mir schien es nicht mehr wert, darüber zu diskutieren, also setzte ich mich auf den, den ich herangezogen hatte.

      »Ich bin Cora«, sagte sie.

      »Und ich bin Audrey Camherst.«

      »Ich weiß«, sagte sie. »Ich meine, das habe ich mir gedacht. Onkel hat gesagt, dass du kommen würdest. Aber du siehst nicht aus wie eine Scirländerin.«

      Die meisten Leute sagen es mir nicht so ins Gesicht, obwohl ich weiß, dass sie das denken. »Das bin ich zur Hälfte«, sagte sie. »Meine Mutter ist eine Utalu. Aus Eriga.«

      Den letzten Teil fügte ich an, weil die meisten Scirländer dazu neigen, Eriga als undifferenzierte Masse zu betrachten, einen ganzen Kontinent, der unter einem Namen zusammengefasst wird, und die Talu-Union nicht auf einer Karte finden könnten, wenn man ihnen damit drohte, sie für ihr Scheitern kielzuholen. Aber Cora nickte, ehe ich es überhaupt ganz klargestellt hatte. »Du bist die Enkelin von Lady Trent. Und dein Großvater, dein Stiefgroßvater meine ich, ist derjenige, der Drakoneisch entschlüsselt hat.«

      »Na ja, er und ein Haufen anderer Leute. Es ist nicht so, dass er es einfach eines Tages angesehen und gerufen hat: Ha! Ich hab’s! Aber ja, er ist derjenige, der den Kataraktstein übersetzt und die Theorie aufgestellt hat, dass die Sprache mit Lashon und Akhisch verwandt ist. Und dann hat Großmama bewiesen, dass er recht hatte.«

      »Hast du irgendwelche Drakoneer getroffen?«

      »Oh ja, ganz viele. Ich war sogar schon im Refugium.« Ich erschauderte bei der Erinnerung. »Die Leute sind liebenswert, aber was sie dort ›Sommer‹ nennen, würde hier kaum als kühler Frühlingstag durchgehen.«

      Cora sagte: »Ich war noch nie außerhalb von Scirland. Ich glaube nicht, dass es mir sehr gefallen würde, aber Onkel verreist andauernd. Meistens nach Thiessin und Chiavora – Akhien hat ihm nicht gefallen.«

      Alle möglichen unhöflichen Antworten schossen mir dabei durch den Kopf, aber ich schluckte sie hinunter.

      »Wenn du nicht willst, dass ich dir helfe«, fuhr Cora fort, »dann sag es mir. Onkel hat gesagt, dass ich tun soll, was auch immer du sagst.«

      Als sei sie irgendeine Bedienstete! Oder noch schlimmer, eine Sklavin. »Ich möchte deine Hilfe«, sagte ich. »Aber nur, wenn du helfen willst.«

      Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie ich das kann. Du hast gesehen, was passiert ist, als ich es versucht


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