Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht. Marie Brennan

Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht - Marie  Brennan


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Möglichkeit war, ihre Bibliotheken zu sortieren. Ich meine, das hier ist eindeutig ein sehr alter Text, also hatten sie jene Techniken vielleicht noch nicht entwickelt. Aber trotzdem.«

      »Wie kannst du feststellen, dass er alt ist?« Cora nahm ihre Notizen zurück und steckte sie in eine Ledermappe weg. »Alle drakoneischen Texte sind alt. Aber du meinst, er ist noch älter, nicht wahr?«

      Mich über die Reihe an Tafeln zu beugen, hatte meinen Rücken steif gemacht. Ich streckte ihn und dankte im Geiste meiner Utalu-Mutter, weil sie nie den Sinn von anthiopischen Korsetten gesehen hatte, selbst bevor diese aus der Mode gekommen waren. »Wegen der Orthografie – der Art, wie er geschrieben ist. Frühe Texte neigen dazu, fehlerhafte Doppelkonsonanten zu haben, was bedeutet, dass der Schreiber sie nicht beide geschrieben hat. Man muss einfach herausarbeiten, ob sie doppelt oder einfach sein sollten. Deshalb hattest du übrigens in deiner Übersetzung ›geschlafen‹ statt ›bepflanzt‹. Du wusstest nicht, dass der Schreiber im Verb ein verdoppeltes M gemeint hat. Und diese Tafeln sind so archaisch, dass sie Zeichen für dreiradikalige Wurzeln verwenden, die für jedes von einem Dutzend Nomen oder Verben stehen könnten, die aus jener Wurzel gebaut werden.«

      Cora wirkte verwirrt. »Woher soll man wissen, welches es ist?«

      Ich zuckte mit den Schultern. »Man rät.«

      Ihre Verwirrung verwandelte sich zu aufrichtigem Ärger. Meine Hand zur Sonne: Ich habe nie im Leben jemanden gesehen, der von Orthografie so erzürnt wurde. »Drakoneisch ist so«, sagte ich, als könne eine weitere Erklärung sie besänftigen. »Manchmal soll man ein bestimmtes Schriftzeichen als seine wörtliche Bedeutung lesen, zum Beispiel galbu für ›Herz‹. Manchmal soll man es stattdessen für seine Silbenbedeutung lesen, lal. Und manchmal ist es ein Determinativ – was bedeutet, dass man es überhaupt nicht ausspricht. Es ist nur da, um einem etwas über den nächsten Teil zu verraten. Der Herz-Determinativ bedeutet, dass was auch immer folgt eine Person oder Personen sind, selbst wenn es nicht so aussieht. ›Drei Herzschilfer‹ sind eigentlich ›drei Völker‹ im Sinn von Rassen oder Nationalitäten.«

      Cora machte einige Male den Mund auf und zu, während sie nach Worten suchte. Schließlich fragte sie: »Wie kann irgendjemand diese Sprache lesen

      »Mit großen Schwierigkeiten«, sagte ich schulterzuckend. »Jetzt weißt du, warum ich nicht einfach diese Tafeln nehmen und sie wie eine Speisekarte in einem thiessischen Restaurant vorlesen kann.«

      »Ja, aber wie haben die sie gelesen? Die antiken Drakoneer?«

      Ich lachte. »Genauso wie wir es tun. Einer der ersten Texte, die Großpapa komplett übersetzt hat, stellte sich als Brief von einem jungen Anevrai-Schreiber an den Priester in seinem Heimatdorf heraus, in dem er sich beschwert, wie sehr er es hasst, die Determinative zu lernen, und wie gnadenlos sein Lehrer ihn drischt, wenn er beim Vorlesen einen verdoppelten Konsonanten übersieht.«

      »Das ist völlig irrational«, sagte Cora zornig. »Es muss so viele Möglichkeiten geben, die Bedeutung falsch herauszulesen.«

      »Ja, aber allgemein wird einem nach einer Weile bewusst, dass man es tatsächlich falsch verstanden hat. Wir würden weniger Fehler machen, wenn wir die Sprache fließend sprechen würden, wie die Schreiber der Antike, aber natürlich müssen wir gleichzeitig auch den Wortschatz herausarbeiten. Wir sind seit dem Kataraktstein weit gekommen, wohlgemerkt – wir können jetzt ziemlich viel lesen. Aber es geht immer noch langsam.«

      Ich glaube nicht, dass ich sie von irgendetwas überzeugt habe, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht sicher bin, ob es irgendetwas gibt, von dem ich sie überzeugen könnte. Die drakoneische Schrift ist wirklich ziemlich irrational, wenn man sie sich ansieht. Aber es war das erste Mal, dass irgendjemand irgendwo auf der Welt die Schrift erfunden hatte, und wir können ihnen nicht vorwerfen, dass sie beim ersten Versuch keine sehr gute Arbeit geleistet haben.

      Und wenn man darüber nachdenkt, haben sie ausreichend gute Arbeit geleistet, dass ihre Texte über Jahrtausende überlebt haben und wir sie heute immer noch lesen können – wenn auch mit sehr viel Mühe. Ich wäre glücklich, wenn irgendetwas, das ich tue, ein Tausendstel so lange überdauert!

      In der einleitenden Anrufung stand etwas über einen männlichen Drakoneer, der als Erster »Sprache in Ton aufzeichnete«. Falls das hier eine mythische Erzählung ist, beschreibt sie vielleicht, wie die Schrift und andere Dinge geschaffen wurden. Ich frage mich, wie sehr die Geschichten denen ähneln werden, an die man sich heute erinnert?

       Tafel II: »Die Schöpfungstafel«

       Übersetzt von Audrey Camherst

      Vor Städten, vor Feldern, vor Eisen, vor der Zeit kamen die drei zusammen, die drei namens Immer-Bewegt, Immer-Stehend und Licht der Welt, die drei namens Quelle des Windes, Ursprung von Allem und Schöpfer von Oben und Unten.

      Gemeinsam schufen sie die Welt. Gemeinsam schufen sie Himmel und Erde, den Regen und die Flüsse und alles, was fliegt oder kriecht oder im Boden gräbt. Sie machten diese Dinge, aber sie waren immer noch einsam. Sie sagten zueinander: »Wen gibt es, der fähig ist, uns zu erkennen? Wer wird unsere Namen singen und uns preisen? Wer blickt auf das, was wir erschaffen haben, und erkennt dessen Schönheit?«

      Doch die Kreatur von Immer-Bewegt hatte einen Makel. Sie schaute, aber sie erkannte nicht. Sie kannte die drei nicht. Sie sang nicht ihre Namen und pries sie nicht. Obwohl sie eine Schönheit war, fehlte ihr die Fähigkeit, Schönheit zu erkennen. Ihr fehlte ein Verstand.

      Und so sagte der Ursprung von Allem: »Ich werde etwas Besseres machen. Ich werde eine Kreatur formen, die die Fülle der Erde kennt. Vom Boden wird sie alles erfahren. Sie wird ergründen, was wir erschaffen haben, und dessen Schönheit schätzen.«

      Aber die Kreatur des Immer-Stehenden hatte einen Makel. Sie erlebte, schätzte aber nicht. Sie erkannte die drei, doch in ihrer Arroganz sang sie nicht ihre Namen, pries sie nicht. Obwohl sie Verständnis besaß, fehlte ihr die Bescheidenheit, um die drei anzuerkennen.

      Und so sagte das Licht der Welt: »Wir müssen etwas Besseres schaffen. Es muss die Schönheit des issur, den Verstand des āmu besitzen. Es muss kombinieren, was an beiden gut ist, und es muss besitzen, was jedem von ihnen fehlt. Ich kenne die Form, die es haben wird, aber um es zu schaffen, wie es sein soll, müssen wir uns alle drei am Werk beteiligen.«

      Sie nahmen den Wind, sie nahmen die Erde. Sie schufen eine Kreatur mit den Schwingen des issur, den Augen des āmu. Aus Brisen und Gestein wurde sie gemacht, aus Regen und den Wurzeln wachsender Dinge. Der issur kam und hauchte sie als Segen an. Der āmu kam und vergoss als Geschenk sein Blut auf sie. Und zuletzt setzte der Schöpfer von Oben und Unten sein Licht auf deren Schöpfung, den göttlichen Funken, sodass sie die drei erkennen und ihnen Ehre erweisen würde.

      Sie erwachte zum Leben. Sie sah sich um. Sie lief über die Erde und flog durch die Luft. Sie sah die Welt von oben und unten. Sie sang die Namen der drei und pries sie.

      All dies geschah in der Zeit, bevor die Welt verändert wurde.


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