Seewölfe Paket 35. Fred McMason
blickte in eine Kammer, die etwa zehn Fuß in der Breite und Länge maß. Bis zur Decke, zweimal so hoch wie er mit ausgestrecktem Arm erreichen konnte, waren auf steinernen Regalen Totenschädel aufgereiht. Unter der Decke schienen sie schwarz und grau vom Alter und Schmutz zu sein, aber in Augenhöhe sah er eine Reihe Schädel, die noch nicht sehr lange in diesem Gemäuer lagen. Die leeren Augenhöhlen starrten ihn an. Er ging rückwärts in den Schatten hinaus und schüttelte sich.
Die Kammer wies nach Norden. Philip spürte plötzlich einen eiskalten Luftzug. Die Haare auf seinen Armen stellten sich auf. Er unterdrückte den Schrecken und sagte sich, daß die grinsenden Totenschädel vielleicht von solchen Menschen stammten, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Von Menschenopfern zu Ehren der schwarzen Göttin hatten die Seewölfe nichts erfahren, das sich nachprüfen ließ.
Vorbei an einigen Haufen aus Abfall und Steinbrocken, die ihm noch einmal bewiesen, daß sich die Bewohner von Mannar um den Kali-Tempel kümmerten, kehrte er von der anderen Seite wieder zurück zu Hasard und Clint.
„Ein ungemütlicher Platz, Freunde“, sagte er und berichtete, was er entdeckt hatte.
Sie hörten schweigend zu, und Hasard deutete auf die Gruppe, die sich um ein paar Dutzend Schritte vom Hafen entfernt hatte und wieder angehalten hatte. Die Leute gestikulierten, und einige zeigten immer wieder zum Hügel.
„Es sieht so aus, als wollten sie sich zum Tempel bewegen“, sagte Hasard junior und beugte sich vor. „Du hast nichts Trinkbares gefunden, Phil?“
Philip schüttelte den Kopf.
„Nicht mal eine Quelle. Du hast recht – die wollen hierher.“
„Mit dem Gold“, pflichtete Clint bei. „Ich kann’s nicht glauben. Wollen sie es der Kali opfern?“
„In diesem Land ist fast alles möglich“, meinte Hasard.
Sie warteten weiter und versuchten zu erraten, was die Männer wirklich vorhatten. Noch immer war die Schebecke umlagert. Die ersten Ceylonesen hatten mit ihrer Beute inzwischen das Dorf erreicht und verschwanden zwischen den Häusern.
Über die Planken, die zu den Decks der Karavelle und der Galeone führten, schleppten Crewmitglieder die schweren Kisten aus den Laderäumen der Schebecke. Zwei lange, unregelmäßige Ketten winziger Gestalten bewegten sich hin und her.
Ein paar Atemzüge später fluchte Hasard und fragte in ungläubigem Tonfall: „Ich glaube, ich sehe nicht mehr richtig. Die Dons zwingen unsere Crew, die Kisten selbst zu schleppen. Was seht, ihr?“
Sie bemühten sich, die Vorgänge an Deck und am Steg genau zu erkennen. In der Menge der Gestalten, die sich unaufhörlich hin und her schoben und vom Steg an Deck enterten und umgekehrt, sahen die Jungen zwar die größeren Körper der Seewölfe, aber erst dann, als Carberry am Ende des Steges auftauchte, eine Kiste auf der Schulter, waren sie sicher.
„Das wird unseren Profos freuen“, bemerkte Clint. „Für die Dons oder die Portus schuften.“
„Sie werden sich nicht mal anständig bedanken“, sagte Philip junior. „Seine Stimmung möchte ich nicht miterleben müssen.“
Kurz darauf hatten sie die Gewißheit. Nicht nur Carberry, sondern einige andere der Seewölfe-Crew mußten selbst mit anpacken und Teile des Goldschatzes schleppen.
„Kein guter Tag für die Seewölfe“, sagte Philip schließlich.
„Er ist noch nicht vorbei“, entgegnete der Bruder warnend. „Da kann noch viel mehr passieren.“
Zehn Minuten lang passierte aber nichts Ungewöhnliches mehr. Dann aber hatten sich die Leute geeinigt. Sie hoben die schweren Beutestücke auf, bildeten eine unregelmäßige Prozession und stapften auf dem breiten Pfad, der sich durch einige kümmerliche Felder wand, auf den Hügel zu. Die Zwillinge und Clint sahen die Männer bald so deutlich, daß sie absolut sicher waren: es handelte sich um jene Inder aus den Booten, von denen die Arwenacks als „fanatische Verrückte“ gesprochen hatten.
Die meisten waren mager, fast dürr, trugen lange und ungepflegte Bärte, hatten sich mit Asche und Farbe beschmiert, und die Lumpen, in die sie sich kleideten, waren zerschlissen, schmutzig und stanken. Mit heiseren Stimmen krächzten sie Lieder. Einige trugen klirrende Ketten aus Metall und Steinen, aber jeder von ihnen hatte an einer langen Schnur eine Holzschale um den Hals.
Diese Gruppe unterschied sich wohl noch in einem Punkt von den übrigen Begleitern der letzten Etappe. Sie betrachteten sich als wahre Gläubige, und wenn sie wirklich das Gold zum Kali-Tempel brachten, handelten sie nicht aus Habgier. Sie brachten den Schatz, so meinten sie, wieder dorthin, wo er geraubt worden war.
Die drei jungen Seewölfe dachten darüber nach, was sie sahen und was sich vor ihren Augen anbahnte. Sie gelangten gleichzeitig zu einem Ergebnis und redeten gleichzeitig los.
„Die bringen unser Gold hierher, zu uns“, sagte Jung Hasard.
Philip rief unterdrückt: „Zu Kali bringen sie’s. Wir verstecken uns …“
„… und warten, bis sie weg sind“, ergänzte der Moses. „Los, klettern wir in die Bäume.“
Hasard hob die Arme und sagte: „Da oben verraten uns die Affen. Wir müssen dort hinüber. Da gibt’s genügend gute Verstecke.“
Er zeigte zu der Seite des Hügels, über die sie zum Tempel hinaufgeklettert waren. Als hätten die umherspringenden Affen gehört, was Hasard gesagt hatte, vollführten sie plötzlich einen höllischen Lärm und verfolgten einen schwarzhaarigen Kerl kreischend ein paarmal rund um das Dach des Tempels. Ein Regen aus Blättern, Rindenstücken und angebissenen Früchten prasselte nach unten. Die Pilger, die an der Spitze der Prozession marschierten, fingen wieder mit einem ihrer leiernden Gesänge an.
„Los“, sagte Philip junior. „Wir hauen ab.“
„Denkt daran“, mahnte sein Bruder. „Sie dürfen uns auf keinen Fall sehen.“
„Schon klar“, flüsterte Clint.
Sie schlichen geduckt nach rechts, krochen zwischen den Luftwurzeln der Würgefeigen und hinter den wulstigen Stämmen zur Nordwestseite des Hügels und blickten sich wachsam um, ehe sie aus dem Halbdunkel unter dem dichten Laubdach hervortraten.
Die Ankunft der Schebecke schien alle Einwohner zur Hafenbucht gelockt zu haben, denn nicht mal die Ziegen und Schafe wurden, wie meistens von Kindern oder Halbwüchsigen, über die Wiese getrieben. Jetzt fraßen sie in den Feldern die frischen Triebe.
Sie liefen, tief geduckt, hinter den Büschen durch einen Graben, entlang kleiner Felsstücke und eines Mauerrestes, wieder durch kratzende Ranken in einem überwucherten Graben, und schließlich befanden sie sich in einer Gruppe raschelnder Maulbeerbüsche.
„Von hier ist es nur ein Sprung bis zum Strand“, murmelte Hasard und schob die Äste auseinander. „Wir werden nicht genau sehen, was die Götzendiener im Tempel treiben.“
„Wenn sie das Gold verstecken, finden wir’s bestimmt“, flüsterte der Moses.
„Sie werden es wohl vor die Füße der Göttin stapeln“, sagte Hasard junior. „Ruhe jetzt.“
Inzwischen summten und sangen alle Teilnehmer des Pilgerzuges so laut, daß sie die Gespräche der Jungen gar nicht hören konnten. Die ersten erreichten die ausgetretenen Stufen, die von Wurzeln zerbrochen im Hang steckten. Hin und wieder glaubten die drei Seewölfe, den Namen der blutigen Göttin herauszuhören. Die Sonne brannte auf ihre Köpfe, Schultern und Rücken, zahllose Mücken summten zwischen den Blättern und stachen erbarmungslos auf die Seewölfe ein. Die Jungen wagten nicht, die Quälgeister zu vertreiben oder nach ihnen zu schlagen.
Clint flüsterte scharf: „Vier Kisten. Sieht so aus, als ob es die kleinsten wären.“
„Sei still. Sehe ich selbst“, zischte Hasard.
Die Pilger verschwanden hinter den Bäumen. Kurz darauf klangen ihre heiseren Stimmen noch schauerlicher. Sie hatten