Ernst Happel - Genie und Grantler. Klaus Dermutz

Ernst Happel - Genie und Grantler - Klaus Dermutz


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Tage sein Training beobachtet hätten. Am nächsten Tag kam Happel nach dem Training auf mich zu, schenkte mir einen HSV-Schlüsselanhänger. Ich fragte ihn, ob ich auch ein Trikot bekommen könnte. Er brachte mir eines mit der Nummer sechs. Beides habe ich heute noch.

      Bevor der HSV im vorletzten Spiel der Hinrunde Ende November 1986 zum Spiel gegen Blau-Weiß Berlin fuhr, rief ich kurz vor neun Uhr am Trainingsgelände an, sagte Happel, ich würde ihn gern wiedersehen. Er meinte, es gehe nicht, er treffe am Freitagabend Freunde, am Samstag habe er das Spiel. Der Samstag war sein 61. Geburtstag. Happel hatte zu den Spielern gesagt, sie mögen ihm einen Sieg zum Geburtstag schenken, was sie auch taten. Der HSV gewann vor 22.000 Zuschauern mit 3:1. Ich war ins Olympiastadion gegangen, hatte die meiste Zeit nur Happel beobachtet, konnte aus der Ferne aber nicht viel erkennen. Als das Spiel zu Ende war, ging Happel in Richtung Marathontor, hob kurz die Hand, grüßte die Fans.

      Da ich gelesen hatte, Happel gehe gern ins Casino, schickte ich ihm zum Geburtstag Fjodor M. Dostojewskis Roman Der Spieler. Ich weiß nicht, ob er ihn gelesen hat.

      Bevor ich im Oktober 1991 nach Innsbruck zum zweiten Interview fuhr, unterhielt ich mich mit einem Freund über Happels Gesundheitszustand. Ich fragte den Freund, einen Mediziner, was Happel für eine Krankheit habe, er spreche immer von einem Virus, der seine Leber befallen habe. Der Freund meinte, er habe Krebs, Happel gingen die Haare aus, die Chemotherapie greife vor allem die schnell wachsenden Haarzellen an.

      Als Happel beim Interview vom Virus sprach, sagte ich im Stillen zu mir, die Wahrheit müsse nicht ausgesprochen werden, erwiderte nur, ich hätte Angst gehabt, es könne Krebs sein. Das Interview fand im ersten Stock einer Tankstelle statt – an einem Ort für passagere Emotionen. Happel hat sich dort wohlgefühlt, war gut gelaunt gewesen.

      26 Jahre nach der ersten Idee habe ich das Happel-Buch geschrieben, ihm den Titel Genie und Grantler gegeben.

      Vom Soziologen Georg Simmel habe ich die Überlegung aufgenommen, das Genie eines Menschen nicht als die Leistung eines Einzelnen zu sehen. Es ist vielmehr so, dass die »Summierung physisch verdichteter Erfahrungen ganz besonders entschieden nach einer Richtung hin und in einer solchen Lagerung der Elemente erfolgt ist, dass schon der leisesten Anregung ein fruchtbares Spiel bedeutsamer und zweckmäßiger Funktionen antwortet. Dass das Genie so viel weniger zu lernen braucht wie der gewöhnliche Mensch zu der gleichartigen Leistung, dass es Dinge weiß, die es nicht erfahren hat – dieses Wunder scheint auf eine ausnahmsweise reiche und leicht ansprechende Koordination vererbter Energien hinzuweisen.«

      Bei Happel sind es die Energien jener technisch brillanten und fantasievollen Fußballer gewesen, deren Eltern als tschechische Saisonarbeiter am Beginn des 20. Jahrhunderts nach Wien gekommen waren, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Von ihnen wird im ersten Kapitel der vorliegenden Biographie berichtet; unter ihnen war auch der Mittelstürmer Matthias Sindelar, Happels Lieblingsspieler. 20 Fotos hatte Happel als Kind von dem exzellenten Techniker gesammelt.

      Für Sigmund Freud liegt der Mensch, der seine Wünsche nicht nach dem Lustprinzip erfüllen kann, »mit der ganzen Welt im Hader«. Mit der Welt des Fußballs lag Happel oft im Hader, und sein Granteln war der Ausdruck des Unbehagens, wenn nicht lustvoller Angriffsfußball gespielt wurde.

      Das Granteln ist für Happel jedoch kein Selbstzweck gewesen, sondern Movens und Motor für neue Entwicklungen und Erfolge. Für »grantig« wird im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm u. a. auch die Bedeutung »gierig«, »spitz, scharf sein« angegeben. Als Grantler war Happel gierig und scharf auf schöne Spiele und die aus ihnen resultierenden Siege. Nur sie haben den Hunger dieses Genies gestillt.

      Die vorliegende Publikation ist der Versuch, Happels Genialität als Spieler und Trainer in den Kontext der Zeitgeschichte und der Professionalisierung des Fußballs zu sehen, um ein Verständnis dafür zu erlangen, von welchem Ausgangspunkt und in welcher Weise Happel den Fußball weiterentwickelt hat.

      Mein Vater lebt nicht mehr, Happel ist seit 20 Jahren tot. In der Vergegenwärtigung der beiden Verluste wiederhole ich mit den Lippen eines in die Jahre gekommenen Mannes das »Mantra« meiner Kindheit: »Happel, Hanappi, Ocwirk.«

       Berlin, 2. August 2012

       Klaus Dermutz

      1925 BIS 1943

       Einsame Kindheit, entbehrungsreiche Jugend

      In eine massive wirtschaftliche und politische Krisenzeit fällt der Beginn von Ernst Franz Hermann Happels Leben am 29. November 1925 in Wien. Happel hat, so würde man heute dazu sagen, einen tschechischen Migrationshintergrund; er wächst größtenteils im 15. Bezirk bei seiner aus Böhmen stammenden Großmutter auf. Die Welt, in die er hineingeboren wurde und die ihm seine Prägung gab, den meisten heutigen Lesern vermutlich fremd, soll zu Beginn dieser Biografie dargestellt werden.

       Wien am Gebirge

      Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte für die österreichische Bevölkerung einen dramatischen Verlust an Identität und Nationalstolz. Die mächtige Doppel-Monarchie Österreich-Ungarn (1867-1918) hatte einen kleinen Staat zurückgelassen, in dem die Bürgerinnen und Bürger sich mit melancholischen Empfindungen einrichteten. In einer rasant sich wandelnden Welt wurde die nationale Größe der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschworen.

      Wie tief der Schock saß, lässt sich auch daran ablesen, dass der später weltberühmte Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) noch zwei Jahre nach dem Ende des Krieges in Wien in der Uniform der k.u.k. Monarchie umherlief. Eine einflussreiche Nation hatte ihre Macht und auch ihr Selbstbewusstsein verloren.

      Für den aus einer Prager Familie stammenden Essayisten und Erzähler Anton Kuh (1890-1941) hatte Wien als Hauptstadt nach dem Ende der Monarchie die frühere Bedeutung verloren. Im Essay Wien am Gebirge rückt er aufgrund der politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen Wien sogar von der Donau weg: »Als Wien noch Reichshaupt- und Residenzstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie war, da hieß die Stadt mit ihrem vollen volksschulgeographischen Titel: Wien an der Donau. Der unendliche Strom war das Wichtige, der, Industrien schaffend, Handel bindend, von Europas Herz fast bis zu Asiens Pforte reichte und das Reich in der Mitte durchschnitt. Dieser Strom war die Zufahrtsstraße der Stadt, ihr Vorrang in der Staatsgeographie. Das Wien, das nichts als Hauptstadt ist, liegt nur noch an der Donau, wird von ihr flüchtig mitbeschenkt, aber es gebietet nicht mehr über sie. Es hat an dem Strom nicht mehr das Recht als das frühere Königreich Serbien oder irgendeines der balkanischen Unterländer, denen er noch zum Abschied den Boden stärkt. Man sagt nicht mehr ›Wien an der Donau‹, und wenn man es sagt, so hat es nicht mehr den weitgebietenden, imperialen Glanz. Wien liegt nicht mehr an der Donau – wo es streng genommen niemals lag –, sondern am Gebirge (lies für: a. G.): nicht in der weltoffenen, ausblicksreichen Ebene, sondern angepresst an gemütsumdämmerndes Bergland.«1

       Tschechische Minderheit

      In breiten Bevölkerungsschichten herrschte eine große Angst vor Immigranten, die um 1900 vor allem aus Böhmen und Mähren nach Wien kamen, um den Sprung in die feine Gesellschaft zu schaffen oder um, wie die meisten der Arbeitssuchenden, die schwerste und am schlechtesten bezahlte Arbeit zu verrichten.

      Zwischen 250.000 und 300.000 Tschechen lebten als Wanderarbeiter um die Jahrhundertwende in Wien, sie ließen sich für einige Monate in der Donaumetropole nieder, kehrten im Spätherbst in ihre Heimat zurück und brachen erneut auf, wenn es im Frühjahr in den Ziegelfabriken wieder Arbeit gab. Wien war damit die zweitgrößte tschechische Stadt.

      Der Segregation der Tschechen in den einzelnen Bezirken können nach Michael Johns und Albert Lichtblaus Studie Schmelztiegel Wien. Einst und jetzt mit folgenden Zahlen unterlegt werden: »1900 lebten etwa ein Viertel in Favoriten, 12 Prozent in Brigittenau und Leopoldstadt, 11 Prozent in Ottakring; ungefähr ein Viertel der tschechischsprachigen Bevölkerung Wiens wohnte in den inneren Bezirken, wobei die weibliche Bevölkerung die Mehrheit stellte. An dieser Verteilung wird deutlich, dass sich die tschechischen Zuwanderer an die funktionelle Differenzierung der Stadtteile angepasst haben:


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