Ernst Happel - Genie und Grantler. Klaus Dermutz

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der weiblichen Zuwanderer lebte in den inneren Ober- und Mittelstandsbezirken, dem Arbeitsort der Dienstmädchen, böhmischen Köchinnen und tschechischen Ammen; im peripheren Nobelbezirk Döbling wohnte eine relativ kleine Gruppe Tschechen, die sich in diesem Zeitraum weder nennenswert verkleinert noch vergrößert hat.«2

      Auch die Vorfahren von Happel gehörten zur tschechischen Minderheit in Wien. Sie waren in die Donau-Metropole gekommen, um sich unter schwierigen Bedingungen einen Lebensunterhalt zu sichern.

       Kaltes Wien

      Der Kultur- und Musikwissenschaftler Viktor Velek unterscheidet zwischen zwei Gruppen von tschechischen Migranten, den »Wiener Tschechen«, einer Mittelklasse von Händlern, Kaufleuten, Beamten, zum Reichtum gekommenen Handwerkern, und den »Wiener Böhmen«, der großen Anzahl von Arbeiterinnen und Arbeitern aus Böhmen, Mähren oder der Slowakei. Die Handwerker, die Dienstmäderl, Köchinnen und Schneiderinnen fristeten in den Außenbezirken der Donaumetropole ein entbehrungsreiches Dasein. »Das 19. Jahrhundert war«, so Velek, »das Jahrhundert des Nationalismus. Nach dem Revolutionsjahr 1848 wuchs die Angst vor den Slawen und der ›Tschechisierung‹ Wiens. Z.B. musste man, um das Bürgerrecht zu erhalten, zuerst auf den ›deutschen Charakter Wiens‹ schwören.«3

      Den Tschechen wurde in Wien das Leben schwergemacht, es kam immer wieder zu gewalttätigen Konflikten: »Alle diese Dinge haben dazu geführt«, so Velek, »dass sich die Tschechen nie mit ihrer neuen Heimatstadt ausgesöhnt haben. In Liedern, tschechischen Zeitungen und in der Literatur wird Wien immer als die ›böse‹ bzw. die ›fremde Stadt‹ geschildert.«4

      Die Tschechen stellten um 1900 ein knappes Viertel der Wiener Bevölkerung. Die Einwanderer wurden häufig mit abfälligen Redewendungen und Liedern bedacht. Auch die Arbeiter-Zeitung brachte im Oktober 1918 ihre Empörung über die Zuwanderung zum Ausdruck, die für ihr politisches und nationales Verständnis ein nicht mehr tragbares Ausmaß erreicht hatte. Der Traum einer Vormachtstellung Österreichs im neu zu gestaltenden Europa war mit der Ausrufung der Ersten Republik im November 1918 ausgeträumt. Das einstmals glorreiche Habsburgerreich war zu Splittern zerbrochen. Wien wurde in der Zwischenkriegszeit zu einer Metropole für schlamperte Genies. Und das galt auch für den Fußball.

      In Mehr als ein Spiel – Zwei Studien zum Wiener Fußball der Zwischenkriegszeit legt Kulturwissenschaftler Wolfgang Maderthaner dar, dass »die Arbeitsmigration zu Beginn der zwanziger Jahre gleichsam zu einer alltäglichen Erscheinung im Fußballbetrieb« wurde: »Nun war der Fußball in Wien um diese Zeit bereits ein höchst internationales Phänomen geworden, eben weil er Ausdruck einer zutiefst urbanen Kultur, konzentriert auf die multikulturell geprägte ehemalige Habsburgerresidenz, war. Die Wiener Spitzenvereine fanden ihre wesentlichen Gegner nicht im eigenen Land, vielmehr wurde mit Prag und Budapest ein reger Spielverkehr gepflogen, die regelmäßigen Oster-, Pfingst- und Weihnachtstourneen der Großclubs fanden ein ausführliches und aufgeregtes Echo in der Sportpresse.«5

       »Aufschrei der Masse«

      In Wien stritten die Politiker verschiedenster Couleur um die Gunst der Bevölkerung und versuchten, einer schwierigen sozialen Lage Herr zu werden, die großen Zündstoff in sich trug.

      Die politische Landschaft war zerklüftet. Die Christdemokraten kämpften erbittert gegen die Sozialdemokraten. Die illegalen Nationalsozialisten nutzen die Zeit des Übergangs, um ihre Propaganda und ihre Parolen unter die Leute zu bringen. Die Spannungen zwischen der rechtsradikalen »Frontkämpfervereinigung« und den Mitgliedern des sozialdemokratischen »Schutzbundes« wurden immer größer und führten am 15. Juli 1927 zum Justizpalastbrand. Der Grund dafür war ein mildes Urteil gegen die »Frontkämpfervereinigung«, die auf Mitglieder des »Schutzbundes« geschossen hatten. Ein Kind war bei dem Schusswechsel getötet worden. Die Arbeiter ließen sich in ihrer Empörung nicht mehr stoppen und zündeten den Justizpalast an. Die darauf folgende Auseinandersetzung mit der bewaffneten Polizei, bei der 89 Menschen starben, brachte die Erste Republik an den Rand eines Bürgerkrieges.

      Der Schriftsteller Elias Canetti sah mit 22 Jahren den Justizpalast brennen. Es wurde ihm in jenen Tagen bewusst, was es für ein Individuum heißt, in der Masse zu stehen. Für den Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler war dieses Ereignis, wie er in Hamlet oder Happel ausführt, »noch nicht die wichtige Keimzelle für sein Werk Masse und Macht, nein, diese war der Sportklub Rapid.«6 Also jener Verein, dem Ernst Happel lebenslang verbunden bleiben sollte.

      Als der Justizpalast brannte, wohnte Canetti in Hietzing und arbeitete an einer Dissertation in Chemie. In Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, dem 1980 publizierten zweiten Teil seiner dreibändigen Autobiographie, schreibt er über diesen Tag: »Eine schwache Viertelstunde Weges von meinem Zimmer, auf der anderen Talseite in Hütteldorf, lag der Sportplatz Rapid, wo Fußball-Kämpfe ausgetragen wurden. An Feiertagen strömten Menschen hin, die sich ein Match dieser berühmten Mannschaft nicht leicht entgehen ließen. Ich hatte wenig darauf geachtet, da mich Fußball nicht interessierte. Aber an einem Sonntag nach dem 15. Juli, es war ein heißer Tag wie damals, ich erwartete Besuch und hatte die Fenster geöffnet, hörte ich plötzlich den Aufschrei der Masse. Ich dachte, es seien Pfuirufe, und so erfüllt war ich noch vom Erlebnis des furchtbaren Tages, dass ich mich einen Augenblick verwirrte und Ausschau hielt nach dem Feuer, von dem er erleuchtet war. Doch da war kein Feuer, in der Sonne glänzte die Kuppel der Kirche von Steinhof. Ich kam zur Besinnung und überlegte: Das mußte vom Sportplatz kommen. Als Bestätigung wiederholten sich bald die Laute, in ungeheurer Anspannung horchte ich hin, es waren keine Pfuirufe, aber es war der Aufschrei der Masse. (…) Es fällt mir schwer, die Spannung zu beschreiben, mit der ich dem unsichtbaren Match aus der Ferne folgte. Ich war nicht Partei, da ich die Parteien nicht kannte. Es waren zwei Massen, das war alles, was ich wusste, von gleicher Erregbarkeit beide und sie sprachen dieselbe Sprache. Damals (…) bekam ich ein Gefühl für das, was ich später als Doppel-Masse beschrieb und zu schildern versuchte. (…) Aber was immer es war, was ich schrieb, kein Laut vom Rapid-Platz entging mir. Ich gewöhnte mich nie daran, jeder einzelne Laut der Masse wirkte auf mich ein. In Manuskripten jener Zeit, die ich bewahrt habe, glaube ich noch heute jede Stelle eines solchen Lautes zu hören, als wäre er durch eine geheime Notenschrift bezeichnet.«7

      Für Schmidt-Dengler wäre es fair gewesen, wenn Canetti den Nobelpreis mit dem Sportklub Rapid geteilt hätte. Der Wiener Germanist legte 2002 dar, welchem Ereignis wir die bahnbrechende Studie Masse und Macht (1960) verdanken, und stellte die rhetorische Frage, welcher Fußballverein der Welt sich rühmen könne, ein mit dem Nobelpreis gekröntes Werk verursacht zu haben.

      Von den Dichtern und Intellektuellen wurden Rapid und die bei dem Verein spielenden Tschechen nicht nur einhellig verehrt und geliebt. Der Journalist und Dichter Soma Morgenstern (1890-1976) schrieb am 13. Juli 1928 voller Empörung an seinen Freund Alban Berg, dem Komponisten von Lulu und Wozzeck, einem ebenso glühenden wie ahnungslosen Rapid-Fan: »Dein Triumph mit ›Rapid‹ macht mir gar nichts. Über ›Hakoah‹ siegten die Rapidler auf eigenem Platz wie immer mit der Hilfe des Schiedsrichters. (…) Ich hasse diese Tschechen von ›Rapid‹!«8

       Pfiffe für Mussolinis Fußballer

      Für die Verbreitung der Ideologie des Faschismus sorgten inzwischen die Heimwehren, die in allen Bevölkerungsschichten präsent waren. Ab 1927 wurden von den Unternehmern gelbe Gewerkschaften organisiert. Die Aufmärsche im Oktober 1927 in Linz waren so erfolgreich, dass sie den Sozialdemokraten schwere Verluste zufügten, zumal diese lautstark verkündet hatten, solche Aufmärsche in Arbeiterstädten zu verhindern: »Im Februar 1928 marschierten die Heimwehren durch Meidling«, so Jürgen Dolls Analyse, »ohne dass jedoch dieser ›Marsch auf Wien‹ wie beim italienischen Vorbild den Auftakt zur Machtübernahme bedeutet hätte. Da es den Heimwehren nicht gelang, zu einer Massenbewegung im Stile der Schwesternorganisationen zu Deutschland und Italien zu werden, wovon ihre schwachen Resultate bei den Wahlen von 1930 zeugen, verlegten sie ihre Hoffnungen auf einen gewaltsamen Umsturz. (….) Im größten österreichischen Industrieunternehmen, der von der deutschen Großindustrie dominierten Alpinen Montangesellschaft, wurden nur mehr heimwehrorganisierte Arbeiter


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