David Alaba. Felix Haselsteiner
die David in München besuchen sollte, in Kombination mit Nachhilfe von Vereinsseite, war letztendlich das entscheidende Argument für den Wechsel. Neumann legte verdutzt auf, Kern setzte den Blinker und fuhr zufrieden nach Hause.
Schulbildung war Kern immer mindestens so wichtig wie die Ausbildung auf dem Platz: „Wenn ein junger Mann mit 15 Jahren schon sagt, er wird Profi und sonst nichts, ist das ein enormes Risiko.“ Dass es Kern um den Menschen ging, wenn ein Nachwuchsprofi ihm gegenübersaß, und nicht um den zukünftigen Star, ist keine leere Floskel, sondern eine Philosophie. „Die Wahrscheinlichkeit, dass du in deiner Karriere weit kommst, wenn du es in der Jugend schaffst, Schule und Fußball unter einen Hut zu bringen, ist groß“, sagt Kern. Es mag eine klassische Ansicht von Talentausbildung sein, aber Kern ist eben ein klassischer Typ. So wie er sich in den 1970er Jahren als Co-Trainer von Dettmar Cramer um ein Bayern-Talent namens Karl-Heinz Rummenigge kümmerte und ihn zum Weltstar machte, sorgte er sich im Juli 2008 um David Alaba.
Zum Beispiel, als Vater George ihn an der Wiener Handelsakademie für ein E-Learning-Programm angemeldet hatte, kurz vor dem Trainingsstart bei seinem neuen Verein. „David ist im Juli mit so vielen Unterlagen bei uns angekommen, die Lehrer meinten, der wäre komplett überfordert.“ Kern überlegte, wie er das Schlamassel lösen könnte, und griff schließlich zum Telefon, um George Alaba anzurufen. Der wiederum war überrascht: Ausgerechnet der Mann, der immer Schulbildung propagiert hatte, riet ihm jetzt, David aus der Schule zu nehmen. Der Jugendexperte hatte inzwischen erkannt, dass Alaba einer der ganz wenigen war, die von schulischen Tätigkeiten eher aufgehalten werden, und beschlossen, ihn von der Schulpflicht zu befreien. Doch Werner Kern verriet seine Prinzipien nicht, ohne seinen jungen österreichischen Schützling anderweitig abzusichern: „Weil ich mir so sicher war, dass David als Profi Erfolg haben würde, habe ich seinem Vater gesagt, er soll eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit einer Prämie von einer Million Euro abschließen.“ Gesagt, getan: Alaba musste in München nicht zur Schule gehen.
Kern bezeichnet das heute im Blick zurück als „totale Sondersituation“. Keinem anderen Talent hat er je erlaubt, die Schule abzubrechen. Gleichzeitig hatte er bei keinem anderen jemals dieses Gefühl, dass es hundertprozentig zu einer Profikarriere reichen würde. Eine der vielen Prognosen, mit denen der heute über 70-Jährige richtiglag. „Davids Vater George kann bis heute nicht du zu mir sagen. Er meint immer, er habe zu viel Respekt, weil ich ihm immer vorausgesagt habe, wie die Dinge laufen würden – und dann alles so eingetreten sei“, meint Kern und muss schmunzeln. Auch wenn er sich nie selbst als großen Entdecker herausheben würde und er dieses große österreichische Talent, das da 2008 bei der Austria spielte, vielleicht tatsächlich nicht als Erster gesehen hat: Wenige Menschen haben die Karriere von David Alaba so entscheidend beeinflusst wie Werner Kern.
Zu diesen wenigen Menschen gehört auch Gerland. Auch wenn Alaba in seiner ersten Saison 2008/09 hauptsächlich bei den U-Mannschaften zum Einsatz kam, trainierte er häufig mit den Amateuren unter Gerland, den Wegbegleiter als den „perfekten Nachwuchstrainer“ beschreiben. Einerseits ist er extrem kritisch und fordert eine exakte Umsetzung seiner Vorgaben – andererseits weiß Gerland genau, wann er Spieler etwas sanfter anpacken und ihnen unter die Arme greifen muss. Wer beim Tiger hart arbeitet, wird belohnt, und Alaba war einer dieser harten Arbeiter. An heißen Sommertagen ließen die Jugendtrainer gerne eine Übung trainieren, bei der eine Mannschaft in Unterzahl gegen eine in Überzahl spielt. Alaba hatte es auf seiner Seite mit drei Gegnern zu tun und spielte sie in Grund und Boden.
Es waren diese kleinen Situationen, die Kern und seinen Mitentscheidern bewiesen, dass der junge Österreicher zu höheren Aufgaben berufen war. Das Niveau der U17, bei der er anfangs im Kader stand, war für den 16-Jährigen zu niedrig. Im Oktober wechselte er in die U19, die von Kurt Niedermayer trainiert wurde, der von 1977 bis 1982 selber gemeinsam mit Rummenigge und Co. 178-mal als Abwehrspieler für den FC Bayern auflief. Am 9. November 2008 hatte Alaba seinen ersten wirklich großen Auftritt außerhalb des Trainingsgeländes: Das U19-Derby gegen 1860 München entschied er mit seinem Tor zum 3:2 in der letzten Spielminute. Angesichts der Tatsache, dass die Sechziger und die Bayern sich damals wie heute nicht in der Bundesliga begegnen, sind die Nachwuchs-Derbys eines der jährlichen Highlights für die lokale Rivalität. Und nebenbei war der TSV zu diesem Zeitpunkt einer der härtesten Konkurrenten um die A-Jugend-Meisterschaft. Dank Alaba nicht mehr.
Er blieb für den Rest der Saison bei der U19 und spielte dort jedes Wochenende eine wichtige Rolle. Zu seinen Teamkollegen zählten damals schon Spieler wie Diego Contento oder Nicola Sansone, der heute für den FC Villareal stürmt. Doch Alaba stach hervor, auch weil er sich abseits des Platzes hervorragend verhielt. Der große Spaßvogel, als den ihn heute viele kennen, war er in der Jugend nicht. Fokussiert, ehrgeizig und zielgerichtet arbeitete er an seiner Profikarriere. Solange ein Fußball involviert war, war Alaba dabei. Wie sehr er bereits die Führungsrolle verinnerlicht hatte, zeigte sich im Juni 2009. Seit einigen Monaten hatte Alaba nicht mehr bei der U17 gespielt, doch als die Saison der U19 am 14. Juni endete, fuhr er nicht etwa in den Urlaub, sondern half bei seinen ehemaligen Kollegen von der U17 in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft aus. Im Halbfinale schlugen Alaba und seine Jungs den VfL Wolfsburg, im Finale wartete der VfB Stuttgart. Drei Tage nach seinem 17. Geburtstag erlebte Alaba jedoch seine erste Finalniederlage im Bayern-Trikot: 1:3 verloren die kleinen Bayern nach Verlängerung gegen die Konkurrenten aus Schwaben. Minutenlang musste Werner Kern den komplett am Boden zerstörten und in Tränen aufgelösten Alaba trösten.
Die Niederlage im Meisterschaftsfinale war Alabas letztes Spiel in einer Jugendmannschaft. Mit Beginn der neuen Saison spielte der Österreicher fest bei den Amateuren, der zweiten Mannschaft des FCB. Trainer dort war Mehmet Scholl, Hermann Gerland war als Co-Trainer zur ersten Mannschaft gewechselt. Es sollte nicht allzu lange dauern, bis er seinem wohl wichtigsten Jugendtrainer folgte, doch im Herbst 2009 hatte Alaba erst mal eine andere Aufgabe: Er galt als Jahrgangsbester und war bei den Amateuren als Führungsspieler gefordert. Mit der zweiten Mannschaft spielte er in der dritten Liga. Herrenfußball, auf einmal ging es nicht mehr gegen Jugendteams, sondern gestandene Profis und alte Traditionsvereine. Scholls Team reiste nach Dresden, Aue, Erfurt, Kiel und Burghausen. Der Drittligafußball war für Spieler des FC Bayern eine Schule auf hohem Niveau. Viele, die sich bei den Profis durchsetzten, waren einmal Führungsspieler bei den Amateuren. Werner Kern erzählt gerne die Geschichte, wie der junge Thomas Müller einmal bei einem Auswärtsspiel in Paderborn nach einer Schwalbe das gesamte Spiel von rund 10.000 Zuschauern ausgepfiffen wurde: „Selbst Thomas war da beeindruckt.“
Auch David Alaba ging durch diese Schule, spielte im Mittelfeld und als Linksverteidiger und schoss trotzdem das ein oder andere Tor. Die jungen Münchner starteten mit Schwierigkeiten in die Saison, doch arbeiteten sich langsam, aber sicher vom letzten Tabellenplatz nach vorne. Die Reisen mit den Amateuren hielten den aufstrebenden Youngster Alaba, den „Rohdiamanten“, wie ihn sogar der sonst sehr dezente Standard in Österreich nannte, auf dem Boden. Drei Tage nach seinem Debüt für die österreichische Nationalmannschaft gegen Frankreich spielte er wieder vor ein paar Hundert Zuschauern im betongrauen Grünwalder Stadion gegen den VfL Osnabrück und verteidigte gegen Thomas Reichenberger statt gegen Thierry Henry. Seine Flanke auf Stürmer Maximilian Haas führte zum 1:1, ein Punkt gegen die starken Osnabrücker war viel wert.
Im Jugendmagazin des FC Bayern prangte David Alaba im Dezember 2009 auf der Titelseite. „So viele junge Spieler sind schon hochgejubelt worden und dann abgestürzt“, meinte Alaba im Interview und sagte einen Satz, den die wenigsten jungen Spieler nach ihrem ersten Jahr beim FC Bayern sagen: „Noch habe ich nichts erreicht.“ Alaba erkannte schon damals, dass in ihm ein enormes Potenzial steckt. Bislang war er gut genug gewesen, um es von Austria Wien nach München zu schaffen. Er hatte sich von der U17 zur U19 und weiter zu den Amateuren hochgearbeitet. Die Cheftrainer Jürgen Klinsmann und Louis van Gaal hatten ihn sogar schon das ein oder andere Mal mit den Profis trainieren lassen. Doch die ganz großen Ziele – Bundesliga, Champions League und Profivertrag – musste er erst noch erreichen.
Was Alaba Anfang Dezember 2009 noch nicht wusste: Sein erstes Trainingslager mit den Profis stand kurz bevor, seine Premiere in der Champions League war knapp drei Monate entfernt, und in weniger als einem halben Jahr würde er die Meisterschale in den Händen halten.
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