Innenansichten. Dietrich Korsch
als jemand mit einer radikal aufgeladenen Gerechtigkeitsidee, der im Studium einen Selbstdisziplinierungsprozess durchlaufen hat. Er verfolgt einen Gestaltungstypus, der die Radikalität des Gerechtigkeitsimpulses im Verlauf des Studiums so transformiert, dass auch andere Perspektiven entwickelt werden können, ohne aber die ursprüngliche Perspektive völlig aufzugeben. Er kann nun verschiedene Perspektiven, die ihm begegnen, in seine Weltsicht und sein Handeln integrieren.
12.4 Vikariat
Ein Erlebnis während seiner Vikariatszeit hat zu einem entscheidenden Transformationsschritt beigetragen, das als Kanzel-GAU eine nachhaltige Zäsur in seiner berufsbiografischen Geschichte einläutet. In dieser Krise findet er einen neuartigen Umgang mit der sein Leben durchziehenden Gerechtigkeitsidee. Ein Kirchenvorstand, der in seiner pietistisch engen Frömmigkeit und Dominanz seinem Vater gleichkommt, unterbricht mitten im Konfirmationsgottesdienst die Predigt von Lukas Langer, weil er sie als politisch aufgeladen empfindet.
Predigttext war die Pfingstgeschichte und ich erzählte da von den Jüngern, die da saßen irgendwie (.) niedergeschlagen, obwohl sie von der Auferstehung gehört hatten und äh später sollte dann die Pfingstgeschichte und der Heilige Geist kommen, aber ich walzte erst mal da so diese trübe Stimmung aus und erzählte vor den Jugendlichen, was ich bei DENEN an trüber Stimmung und No-Future damals mitbekommen hatte und so.
L. hat die damalige trübe Stimmung und das No-Future-Desaster der Jugendlichen in Anlehnung an den Predigttext aufgegriffen, wahrscheinlich im Kontext seiner damaligen politischen linken Weltsicht. Das wurde für den Kirchenvorstandsvorsitzenden unerträglich. Er stand mitten in der Predigt auf und unterbrach sie mit den Worten: »Das langt mir jetzt. Jetzt haben Sie genug erzählt. Das hier ist ein Konfirmationsgottesdienst und keine politische Lehrstunde« und so. Die Fronten hatten sich unversehens verkehrt: Waren es im Studium die Studenten, die die Vorlesungen der konservativen Professoren unterbrachen, so ist es in der Gemeinde der pietistische Kirchenvorsteher, der den jungen linken Vikar mitten in der Predigt unterbricht. […] das war natürlich eine entsetzliche Situation. Meine Vikarskollegen nannten das nachher den Kanzel-GAU, ähm. (.)
Nur aufgrund der Intervention seines Lehrpfarrers kann er die Predigt zu Ende bringen. In der Folgezeit besuchen die Dozenten des Ausbildungsseminars seine Gottesdienste, in seiner bisherigen Sichtweise also das ›Establishment‹, um über die Freiheit der Predigt zu wachen und damit die Unabhängigkeit des Vikars zu garantieren. Es ist für ihn ein Sieg des linken Weltverbesserers über das Diktat einer engen pietistischen Religiosität und damit auch ein Sieg über seine Herkunft. Zwei inhaltlich dichotome Weltsichten standen sich gegenüber, beide mit umfassendem Wahrheitsanspruch und vertreten mit gleich starker Dominanz. In dieser Hinsicht basierten beide freilich auf einer homologen Struktur.
Dieser Sieg im Kampf für eine gerechte Welt initiiert bei dem Vikar Langer einen Reflexionsprozess: Er stellt sich die Frage, ob eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen allein ausreicht, um Menschen in ihrem Glauben zu stärken und für ein Engagement für mehr Gerechtigkeit nachhaltig zu motivieren. und ich habe, glaube ich, sehr oft, ähm – (.) tut mir heute auch durchaus leid –, aber ich habe sehr oft Menschen ähm nach Hause geschickt mit wenig Rückenwind, wenig Stärkung und viel kritischen Fragen. […]
12.5 Aspekte des Berufsverständnisses – Religionskompetenz
Damit vollzieht er einen entscheidenden Schritt im langfristig angelegten Transformationsprozess. Er verabschiedet sich zunehmend von den geschlossenen linken Weltverbesserungstheorien und wendet sich hin zu den konkreten Belangen und Problemen der Menschen, die seinen Predigten zuhören. Damit findet in seinen Predigten auch eine Art Textverschiebung statt: Er redet nicht mehr über gesellschaftliche Verhältnisse, sondern über und mit Menschen.
Früher ähm habe ich die Leute ähm/ habe ich auch schon kritisch gesagt, viel zu oft hinterlassen mit ähm der Botschaft, »eigentlich leben wir alle, lebt ihr alle falsch, nun mal irgendwie Umkehr und macht es anders«. Ähm. (.) Dann ist das jetzt doch eigentlich ganz anders. […] jetzt stelle ich mir schon auch die Frage ähm, (.) was kann der Text und was kann ich verantworten, denen mitzugeben an STÄRKUNG für ihr Leben, […] auch mit wirklich dem Gefühl, ich bin mit dem, was ich hier erlebe, nicht allein. So. Das hat sich schon geändert, sehr deutlich.
Lukas Langer wird sich seiner Verantwortung diesen konkreten Menschen gegenüber bewusst. Sein Gerechtigkeitsimpuls findet Erfüllung in der Hinwendung zu den leibhaftigen Menschen, denen er gerecht werden will. Dabei kommt ihm zugute, dass er gut mit Menschen umgehen kann. Es ist die Begegnung mit Menschen, der aufmerksame und auf mögliche Unterstützung bedachte Blick auf ihre Bedürfnisse, Interessen, Vorlieben und Benachteiligungen sowie ihre Stärkung angesichts der Herausforderung im Leben, die er jetzt als eine seiner Hauptaufgaben im Pfarrberuf betrachtet. Der Focus auf die Menschen erlaubt die Relativierung seines eigenen und auch der Weltbilder jener Menschen, die ihm begegnen. Hier schließt sich der Kreis seiner langfristig angelegten persönlichen Entwicklung.
12.6 Professionsprofil
Herr Langer ist seit 26 Jahren in derselben dörflichen Gemeinde tätig. Durch seine liberale Haltung, seine Wertschätzung gegenüber allen Menschen hat er eine erfolgreiche Gemeindearbeit mit zahlreichen ehrenamtlich aktiven Gemeindemitgliedern aufgebaut. Die verschiedenen Tätigkeiten sind an Gemeindemitglieder delegiert, die dem Pfarrer auch zum Teil unliebsame (Verwaltungs-)Arbeiten abnehmen. Dabei ist Pfarrer Langer darauf bedacht, dass jedes Gemeindeglied zu seinem Recht kommt. Die Entscheidungsgewalt, die Gestaltungs- und Deutungshoheit allerdings werden nicht delegiert, diese bleiben in seiner Hand. Das kommt in seiner Erzählung an mehreren Stellen zum Ausdruck und wird nach seinem Eindruck von allen Gemeindemitgliedern auch akzeptiert. Insofern kann Pfarrer Langer von sich sagen: Es ist eigentlich immer schön. Und hier in diesem Dorf, ähm, ja, da muss ich auch immer ein bisschen aufpassen, dass ich auf dem Boden bleibe. Hier bin ich der Papst. Das ist so. Eine solche Aussage macht, trotz der sicherlich mitzuhörenden selbstironischen Distanz, deutlich: Hierdurch kommt die habituelle Disposition einer dominanten Vormachtstellung, die er in seinem Elternhaus erworben und nie endgültig überwunden hat, wieder zum Vorschein, zumindest ein kleines Stück. In biblischen Metaphern ausgedrückt schlüpft er in die Figur des ›guten Hirten‹, der seine Gemeinde in den Bedrängnissen und Finsternissen der Welt begleitet.
Andersdenkende, insbesondere evangelikal eingestellte Christen, gibt es in seiner Gemeinde nicht. Diese sind in die benachbarten freien Gemeinden abgewandert. Wieder mit leiser Selbstironie kommentiert er diesen Sachverhalt: Nee, solche gibt es hier nicht. Die habe ich wahrscheinlich über die Jahre auch alle verschreckt, wenn es die noch gab. Ähm. Die sind dann (schmunzelnd) irgendwo in freien Gemeinden in der Umgebung, //kann gut sein.//
Im Fall von Lukas Langer zeigt sich, dass die aufgrund der Herkunft erworbenen habituellen Dispositionen sich, wenn überhaupt, nur schwer verändern lassen. Das gelingt am ehesten in ihrer Ausdrucksgestalt: Allein inhaltlich aufgeladene Weltbilder (etwa seine in der Methode Jesus zum Ausdruck gebrachte radikale linkstheologische Sichtweise), die auf der Grundlage dieser Dispositionen variabel und teilweise austauschbar erscheinen, können einem – wenn auch langfristig angelegten – Transformationsprozess unterzogen werden.
Lukas Langer verschließt sich in seiner Arbeit keineswegs den Entwicklungen der Moderne. Er hat im Verlauf seiner langjährigen Tätigkeit als Pfarrer in einer Gemeinde sehr wohl den sozialen Wandel wahrgenommen: von einem ganzheitlichen und stabilen Milieu mit umfassender Identität seiner Akteure hin zu offenen und fragilen Milieus, deren Grenzen die Menschen selbst festlegen und in denen ihnen Optionen eröffnet werden. Heute ist bei den Menschen – so die Sichtweise Langers – ein Freiheitsimpuls vorherrschend. Den in der Gesellschaft zu beobachtenden Individualisierungsprozess begründet er theologisch mit der reformatorisch formulierten Freiheit des (Christen-)Menschen und kann den Freiheitsimpuls aus diesem Grund positiv bewerten.
Allerdings entsteht dadurch für ihn ein Dilemma. Die Optionsmöglichkeiten bringen den Menschen auch die Möglichkeit, sich für die kirchlichen Angebote und für den Glauben zu entscheiden – oder aber eben auch dagegen. Zugleich ist es aber für ihn fraglos, dass