Innenansichten. Dietrich Korsch
im Sinne eines theologisch definierten Kognitionsprodukts genau nicht die Vorgängigkeitsposition eingeräumt werden muss, sondern dass auch die Vorstellung von einem möglicherweise eintretenden Gefühls-Ereignis, das an signifikanten Lebenslaufpunkten entstehen mag, bereits als mindestens gleichrangig angesehen wird.
Damit reagiert sie – auf dieser Ebene kirchenleitend, weil praxisorientiert – auf die veränderte Lage der Kirche in der Gesellschaft. Diese Lage ist davon geprägt, dass die Wissensgestalten und die alltagskulturellen Kontextgestalten, in denen solche Spürbarkeiten sich ereignen könnten, sich in den vergangenen 50 Jahren geändert haben, sei es auf der Ebene der Partizipationsgelegenheiten, oder sei es auf der Ebene der Motivation dafür, warum man sich überhaupt religiös und kirchlich ansprechen lassen sollte bzw. gar eigentlich müsste. Im Blick auf die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD hat Joachim Matthes für die große Mehrheit der Protestanten der 70er bis 90er Jahre des 20. Jahrhunderts die auch gegenwärtig gültige Diagnose der »Orientierung am Unbestimmten« formuliert, die typisch ist für die Mehrheit der freiwillig auch Kirchensteuer zahlenden Kirchenmitgliedschaft. Nach dem, was sich aus Frau Imhofs Selbstbeschreibungen ihrer professionellen Motive, Wahrnehmungen und Tätigkeitsziele ablesen lassen kann, gründet sich ihre Berufsausübung auf die – von ihr wohl eben genau nicht als defizitär begriffene –Akzeptanz dieser Unbestimmtheit. Im Gegenteil: Diese Unbestimmtheit, so praktiziert es professionell die Pfarrerin Imhof in ihrem Verständnis von Religionskompetenz, gehört – wie das Hadern in den biblischen Psalmen – zu den Gegebenheiten des Menschseins. Für diese Gegebenheit gilt beides zugleich: sie sowohl zu respektieren als auch mit Angeboten des biblisch gespeisten und allererst lebensbegleitenden Deutens und Verstehens lebenspraktisch anzureichern.
10. DER PFARRER IN DER VOLKSKIRCHE ALS VERMITTLER ZWISCHEN KIRCHENDISTANZIERTER ÖFFENTLICHKEIT UND KERNGEMEINDLICHER FRÖMMIGKEIT
PFARRER JONAS JÄGER
Bernhard Dressler/Interview: Albrecht Schöll
Wenn (.) ähm ich für mich sage, dass äh für/ für meinen Glauben Texte wie die Bergpredigt oder auch äh die/ die alttestamentlichen Propheten mit ihren äh sozialen Forderungen, das spielt für mich eine wesentliche Rolle. Ich finde/ äh ich/ ich meine, der Glaube muss äh sichtbar werden. (.) Und er hat äh politische Relevanz. Und das äh (.) bejahe ich für mich. Das versuche ich in/ zu/ zu leben in meiner persönlichen Lebensführung. Und das äh hat natürlich auch Konsequenzen auf die Art, wie ich äh Texte lese und verstehe. Ganz/ Ganz unbedingt. Und das andere ist, dass für mich die Vorbereitung von Predigt und Gottesdienst ähm (.) auch der Hauptpunkt ist, wo ich SELBER mich mit diesen biblischen Texten (.) auseinandersetze, und äh deshalb auch gerne ähm Predigtliteratur hinzuziehe, um mich auch anregen zu lassen, von der Art und Weise, wie andere diese/ diese Texte verstehen und was sie darin lesen. Und äh (.) dann eben vielleicht selber die/ die eine oder andere Erkenntnis da habe, wie man (.) einen Text auch anders verstehen und lesen kann.
Ich habe als eine Bereicherung erlebt, die Bibel zu lesen als ein Buch, in dem Menschen von ihren Glaubenserfahrungen berichten, und dann diese Vielfalt zu entdecken, die in diesen Glaubenserfahrungen steckt.
10.1 Persönliche Situation
Herr Jäger ist zum Zeitpunkt des Interviews 36 Jahre alt. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Er versieht seinen Pfarrdienst seit einigen Jahren in zwei benachbarten Dörfern, die sehr unterschiedliche kirchliche und soziale Strukturen aufweisen: Die kleinere Gemeinde ist stark von der landeskirchlichen Gemeinschaft und einer hohen Kirchenverbundenheit geprägt. J. spricht von einer innigen Frömmigkeit. Die etwa doppelt so große Nachbargemeinde ist ein industriell geprägter Ort mit eher kirchenferner Bevölkerung, in Fragen, die Kirche und Glauben stellt, manchmal auch sehr unbedarft, aber mit einer überraschend großen Bereitschaft für das Mitfeiern kirchlicher Events.
Mit der Situation im Kirchenkreis ist J. zufrieden (ich glaube, wir machen hier im Kirchenkreis schon eine gute Arbeit). J. ist im Pfarramt von Anfang an mit Strukturreformmaßnahmen betraut. Den damit oft verbundenen Stress und das Unbehagen an administrativen Abwicklungsmaßnahmen lässt er kaum erkennen.
10.2 Religiöse Sozialisation und Theologiestudium
Herr Jäger ist in einem stark kirchlich geprägten Milieu in Ostdeutschland aufgewachsen. Das Abitur hat er einige Jahre nach der Wende gemacht. Neben regionalen Traditionen eines sehr verbindlichen evangelischen Christentums spielt für sein Gefühl der Beheimatung und des Eingebettet-Seins in die Kirche die Konfrontation mit dem religionskritischen Umfeld der DDR und dessen Nachwirkungen eine wesentliche Rolle. Die entscheidenden Impulse für sein Theologiestudium erhält er jedoch nicht nur durch sein Zugehörigkeitsgefühl zur Kirche. Er ist dafür auch in starkem Maße kognitiv motiviert. Das Motiv, Glaubensfragen theologisch zu reflektieren und zu klären, verbindet sich von Anfang an mit dem Ziel, Pfarrer zu werden. Herr Jäger sucht in seinem persönlichen Umfeld schon als Schüler und Student Gesprächskontakte mit Personen, die sich distanziert zu Kirche und Religion verhalten. Sein intellektuelles und wissenschaftliches Interesse an der Theologie ist eng verbunden mit der Pflege einer besonderen praxis pietatis und dem gleichzeitigen Bedürfnis nach Verankerung in Halt gewährenden sozialen Lebensformen. Das führt bei ihm zur Ausbildung von kommunikativen Umgangsformen, die seine intellektuellen Reflexionen an lebensweltliche Themen zurückbinden.
In dem als Freiraum empfundenen kirchlichen Milieu und aufgrund seines Engagements in einer sehr aktiven jungen Gemeindearbeit hat Herr Jäger auch verschiedene Pfarrer kennengelernt. So entwickelte sich seine Vorstellung, dass der Pfarrberuf seinen Begabungen entspreche. Nach dem nach 1990 angetretenen Grundwehrdienst beginnt er das Theologiestudium in einer ostdeutschen Großstadt. Eine Zeitlang ist er währenddessen – bis zu seiner relativ frühen Heirat – Mitglied in einer Kommunität für Studierende.
Eine wichtige Erfahrung während des Studiums machte J. als Tutor bei der Begleitung von Studierenden, die durch die historisch-kritische Bibelexegese verunsichert waren. Dabei ging es ihm darum, diese verschiedenen Zugänge, diesen pietistisch-evangelikalen, stark die Autorität der Heiligen Schrift betonenden Zugang, und die historische Kritik in ein wertschätzendes Gespräch zu bringen. Für J. selber scheint seine individuelle Frömmigkeit mit der Wissenschaftlichkeit der Theologie nicht in Konflikt geraten zu sein. Er betont die Bedeutung des Studiums für die Persönlichkeitsentwicklung und sieht in den nicht unmittelbar zweckorientierten Inhalten des Studiums eine Art unverzichtbaren Mehrwert.
Im Rückblick auf das Studium hat J. auf dem Gebiet der Systematischen Theologie nicht nur am meisten gelernt, sondern sich dort auch am meisten eingebracht. Das Durchdenken von Glaubensthemen wird als der von Anfang an vorherrschende Grundzug seines theologischen Interesses deutlich. Trotz des von Anfang an angestrebten Pfarrberufs gehört die Praktische Theologie nicht zu seinen wissenschaftlichen Interessenschwerpunkten. Seinen intellektuellen Fähigkeiten verdankt er das Angebot, im Fach Kirchengeschichte zu promovieren. Die Absicht, Pfarrer zu werden, scheint aber nie in Frage gestellt zu sein: Ich habe als eine Bereicherung erlebt, die Bibel zu lesen als ein Buch, in dem Menschen von ihren Glaubenserfahrungen berichten, und dann diese Vielfalt zu entdecken, die in diesen Glaubenserfahrungen steckt.
10.3 Das Professionsprofil des Pfarrers Jonas Jäger
Herr Jäger entscheidet sich nach dem Studium, das Vikariat wegen der sehr rigiden Einstellungspolitik seiner ostdeutschen Landeskirche in einer westdeutschen Landeskirche anzutreten. Mehrfach betont er, gut auf den Pfarrberuf vorbereitet worden zu sein. Nur bei gewissen technisch-administrativen Aufgaben fühlt er sich überfordert. Hier sieht er Förderungsbedarf, vor allem aber die Aufgabe, durch ehrenamtliche Netzwerke den Pfarrer zu entlasten, dessen verlässliche Anwesenheit und Kontaktpflege indes unerlässlich bleibe.
Die Vorliebe für die systematische Theologie bleibt ihm auch im Beruf erhalten und kommt insbesondere bei seinen Predigtvorbereitungen