Innenansichten. Dietrich Korsch

Innenansichten - Dietrich Korsch


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des Gymnasiums lernt sie dasjenige kennen und für sich bzw. für ihre Berufswahlüberlegungen fruchtbar zu machen, was anderen üblicherweise frühestens im Studium, oft auch erst im Vikariat begegnet: die Frage und die Aufgabe, dass und wie Theologie Ziele und Praxis des Pfarramtes intellektuell-akademisch aufeinander zu beziehen und mithin professionell zu betreiben seien. Schon in dieser Zeit vermag sie sich – etwa über die Thematisierung der Spannung zwischen der metaphysisch und offenbarungstheologisch zu wendenden Gottesfrage an den Beispielen von Jean Paul und Karl Barth – neu-zusätzliche Beurteilungs-, Verstehens- und Formulierungsmaße für die eigene Weltwahrnehmung anzueignen, die sich in der Oberstufe intellektuell entfaltet.

       9.3 Prägende Personen und Fragen im Studium

      Frau Imhof beginnt ihr Studium an einer kleinen Fakultät und lernt dort eine linke und barthianische Theologie kennen. Sie wird von einem ihrer Lehrer ermuntert, den Studienort zu wechseln und auch liberal-konservative Richtungen der Theologie kennenzulernen. In der Schlussphase des Studiums wendet sie sich an ihrem dritten Studienort der neutestamentlichen Wissenschaft zu. In Kirchengeschichte schließlich schreibt sie ihre Examensarbeit zum Thema des Übergangs zwischen dem landesherrlichen Kirchenregiment und der Kirche in der Weimarer Republik, weil das sind ja die Grundlagen gewesen, die dann auch unsere Kirchen jetzt noch prägen.

       9.4 Zentral prägende Erfahrungen im Vikariat

      Gleich am Anfang ihres Vikariats sei ihr deutlich geworden, worauf es beim Arbeiten im Pfarramt auf dem Dorf ankomme: Dass man diese Strukturen kennt – und respektiert. Und dass man sehr aufmerksam zuhört auf das, was die Leute einem erzählen. Sie hat dabei gelernt, auch das ernst zu nehmen, was die Leute voneinander halten und das auch sagen; bzw. dass die Leute es akzeptieren, von der dörflich überschaubaren Öffentlichkeit beobachtet und darin normativ kontrolliert zu werden. Mit diesem Respekt vor etwas, was ihr als gelernter Städterin eher fremd war, zeigt sie etwas vom Ethos ihres Professionsverständnisses, das ihr der betreuende Propst immer wieder ans Herz gelegt habe: die Leute in dem, was sie bzw. wie sie sind, allererst ernst nehmen und dann überlegen, was ich ihnen da geben kann.

      Dabei lehnt sie es strikt ab, zur Kennzeichnung dieser Menschen in ihrer Umgebung – wie der Interviewer laut überlegt – von Konventionschristentum zu sprechen. So sei es eben keine bloße Konvention, dass es z. B. nach ihrer Beobachtung in diesem Ort für die Jugendlichen einfach dazu gehört, Konfi zu sein und gemeinsam in diesem Jahr eine Menge zu erleben. So begreift Frau Imhof diese Phase im Leben der Jugendlichen als die des Erwachsenwerdens, des Kennenlernens von sich selber und anderen, des Sichausprobierens und des Sich-mal-ganz-andere-Gedanken-über-das-Leben-machens. Und eben für dieses Sich-Gedankenmachen in der Pubertät – aber vermutlich nicht nur dafür – stellt die Dorf-Pfarrerin und Theologin Imhof ihre professionelle Expertise auf dem Gebiet des Reflektierens, Fragens, Bezweifelns, Ausprobierens und Orientierens zu Fragen des Lebens überhaupt zur Verfügung – etwa mit der gleichen Selbstverständlichkeit, in der Sporttrainer Ratschläge geben.

       9.5 Irritationen im Blick auf die Berufswahl?

      Diese Frage des Interviewers kann sie klar mit nein beantworten: Weil mir deutlich geworden ist, dass Zweifel zum Glauben dazugehören. Also wenn man die Psalmen aufschlägt, die Menschen hadern bereits, ja, mit ihrem Gott. Das Hadern gehört also zum Leben, gehört zur Wirklichkeit, die ich hier in der Gemeinde erlebe. Das gilt also nicht nur in der semantischen Konkretion auf einen näherhin christlich formatierten Gott hin, sondern generell im Blick auf das Leben überhaupt. Es ist ein Leben, das gerade in den Psalmen eben erst einmal als solches in den Blick genommen wird, womit ja auch das Leben jener beschrieben werde, die es nicht als explizit religiös formatiert wahrnehmen. Und deshalb kann sie von dieser (Selbst-) Wahrnehmungsposition aus die Menschen da wirklich in ihren Bedürfnissen und Sorgen ernst nehmen und überlegen, was ich ihnen da geben kann.

       9.6 Einschätzung eigener Stärken und Schwächen in ihrer Professionspraxis

      Als eine Stärke sieht sie ihre Fähigkeit, Mitarbeiter zu finden, also mit Menschen in Kontakt zu sein und zu spüren, was die so drauf haben und sie dann auch zu fragen, ob sie das nicht einbringen möchten. Es ist personzentrierte Zusammenarbeit mit den Menschen hier, in den ganz verschiedenen Bereichen, z. B.: Gottesdienstmitgestaltung durch Gemeindemitglieder, Kirchenmusik, Kindergottesdienst, Besuchsdienstkreis und Pflegeheimbetreuung. Dabei macht sie sich natürlich auch Gedanken über die Struktur der Kirche und über die Struktur der kirchlichen Arbeit. Aber das sei eindeutig praxisbezogen, also nicht so wie bei Kollegen, die wirklich auch so perspektivisch gucken, wo die Landeskirche hingeht und so. Das ist nicht meins.

       9.7 Religionskompetenz – Charakteristika ihrer allererst beziehungsorientierten Konzeption für die »Kirche im Dorf«

      Neben gemeinsamen Veranstaltungen mit der katholischen Gemeinde wie Weltgebetstag, Betreuung im Altenpflegeheim, die Gottesdienste im Altenpflegeheim, Martinszug, Sternsängeraktion, gemeinsame Vortragsabende zu theologischen Themen oder dergleichen mehr baut sie auch zielstrebig Kontakte auf zu anderen Religionen. Das tut sie z. B. in einer Klasse, in der ein Drittel der Kinder Muslime sind. Und wir, in Absprache mit dem kirchlichen Schulamt, bieten einen interreligiösen Religionsunterricht an, in dem im Curriculum eben muslimische und christliche Themen, gleichermaßen vorkommen, z. B. das Thema Gottesbilder.

      Zum heute immer stärker sozial wirksam werdenden Thema des Nebeneinanders von Religionskulturen versucht sie auch den Blick ihrer KonfirmandInnen zu weiten und diese darin zu unterstützen, auch das Eigene genauer wahrnehmen zu können. Sie besucht mit ihnen eine buddhistische Nonne, die auch aus XZ stammt, dann Buddhistin geworden ist, und sich entschieden hat, Nonne zu werden. Diese Frau habe als Deutsche selber Konfirmandenunterricht gehabt und wisse, was die Jugendlichen denken und könne das aufnehmen, um ihnen klarzumachen, in welcher Religion sie jetzt lebt und glaubt. Nach Auffassung von Frau Imhof klärt das auch nochmal bei den Jugendlichen vieles so für ihre eigene, äh, Religiosität oder das macht sie da auch sehr, sehr viel toleranter und wertschätzender.

      Zu dieser Konzeption einer positionsgestützten Offenheit, in der sich jenes Denken und Dürfen abbildet, das sie früher im eigenen RU wahrzunehmen und zu schätzen gelernt hat, gehört auch ihr Urteil über den Modus, den sie bei ihren – sehr seltenen – Kontakten zu der ebenfalls in der Region angesiedelten evangelischen Gemeinschaft beobachtet. Wenn da in den Predigten den Menschen, die ihre alten, pflegebedürftigen Angehörigen nicht zu Hause versorgen, oder die Schwierigkeiten mit ihrer Ehe haben, diese Umstände sofort als Glaubensmangel ausgelegt werden und man sie deshalb auffordere, bei Jesus zur Tankstelle zu kommen und aufzutanken, dann könne sie da einfach nicht mit. Demgegenüber habe sie den Anspruch als Pfarrerin, Menschen das Evangelium zu verkündigen, also sie zu trösten, sie zu begleiten, ihnen schon auch mal den Spiegel vorzuhalten. Denn es gehe darum, Menschen zum Leben zu helfen. Deshalb gelte in der von ihr betreuten Kirchengemeinde: Die Menschen kommen und können mitsingen und beten und glauben und können auch ihre Fragen stellen. Und wenn sie das nicht tun, ist es auch in Ordnung. Hier kann jeder seine Distanz zum Geschehen, zum Gottesdienst, äh, zum Glaubensbekenntnis selbst bestimmen, ohne dass ich das beurteile, ohne dass der Kirchenvorstand das beurteilt.

       9.8 Der Kern des Professionsprofils der Pfarrerin Irene Imhof

      Insgesamt – so lässt sich besonders aus ihren detailliert und begeistert formulierten Aussagen zu ihrer Taufpraxis schließen – ruht der Kern ihrer Pfarramtsgestaltung allererst auf etwas, was als Kasualien-Theologie bezeichnet werden könnte: bei allen als Kirchenmitgliedern verzeichneten Menschen in der Gemeinde und bei den Gottesdienstbesuchern kommunikativ-lebensbegleitend die Einsicht zu bewirken, dass die in der und von der Kirche geprägten Passage-Rituale, die man eben so lebt, auf der Überzeugung aufruhen, dass so für die Menschen Glaube spürbar werden kann. Sie lässt dabei offen, wie Glaube und spürbar werden zueinander im Verhältnis stehen: eher dialektisch und synchron oder eher kognitiv und konsekutiv? Aber die Pfarrerin Imhof würde vermutlich – wenn man sie auf die Frage nach dem Bedingungsverhältnis zwischen


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