Innenansichten. Dietrich Korsch
umzusetzen, die in der Gemeinde vorliegen bzw. dort möglich erscheinen. In anderen Worten: Seine Konzentration auf Reflexion und theologieangemessene Kommunikabilität helfen ihm, sein akademisches Wissen ›auf den Fall‹ zu beziehen und jene Prozesse zu fördern, die ›unbestimmt‹ fühlenden oder inkongruent argumentierenden Menschen auf die ihrem Sein/ Tun möglicherweise innenwohnende Religion und Religiosität anzusprechen; oder anders formuliert: religiös zu bilden. Gerade darum dürfte er die unmittelbar praktischen Aufgaben in seiner pastoralen Tätigkeit immer auch theologisch reflektieren, um auf diese Weise sinnvolle Lösungen anzustreben. Ein Handlungsmodus, der sich allererst bzw. überwiegend auf die Seite entweder von Praxisvollzügen oder die der wissenschaftlichen Reflexion schlägt, ist für ihn obsolet.
Allgemein formuliert: Professionelles Handeln ist für ihn keine unmittelbar, gleichsam mechanische Ableitung aus theoretischen Erkenntnissen. Zwar sind Faktenwissen und theoretisch generierte Problemhorizonte Voraussetzung insbesondere für pastorales Handeln. Aber eben deswegen ist beides – ›Fakten‹ und ›Theorie‹ – nicht gleichsam ›identitätsfrei‹ abrufbar, sondern sie sind als sein Habitus Teil der beruflichen Biografie. Das erscheint als ein für Herrn Holtmann wesentliches Charakteristikum. Die jeweilige praktische Tätigkeit als Pfarrer muss theologisch begründet werden und sich gegenüber anderen Alternativen bewähren.
8.6 Der Kern der Professionsvorstellung des Pfarrers Hans Holtmann
Sein professionslogischer Modus hat für ihn unmittelbare Auswirkungen auf die Gemeindearbeit, die er als ein ›spannungsgeladenes Dienstleistungsverhältnis‹ charakterisiert: Gemeindemitglieder erwarten bestimmte Dienstleistungen vom Pfarrer. Diese Leistung hat er zu erbringen, aber eben nicht immer unbedingt auf die Art und Weise, wie sie von den Gemeindemitgliedern erwartet werden, sondern mit einer theologischen Begründung, die der Pfarrer Holtmann bei Bedarf auch selbstbewusst und mit Anspruch auf Akzeptanz zu formulieren weiß.
Ich muss sie ja nicht gleich schroff zurückweisen, aber ich äh/ die Art und Weise wie ich mich da selber verstehe, also […] in dem Spannungsverhältnis von diesen beiden Kompo/ Komponenten, die in dem Wort Dienstleistung drin stecken, ne, die/ äh die würde ich schon (druckst) gerne äh akzentuiert wissen wollen. Also DIENST ja, nicht, also es werden bestimmte Fragen an mich herangetreten und (eine bildende?) Leistung wird auch von mir erwartet ähm a/ aber äh, äh i/ in den Räumen sozusagen auch von Gestaltungshoheit, die ich ja habe.
In seiner Selbstwahrnehmung verliert sich Herr Holtmann weder in den vielen unterschiedlichen Anforderungen und Aufgaben der Gemeindearbeit, noch delegiert er sie als unliebsame Aufgaben, etwa an Kollegen oder Gemeindemitarbeiter. Er sieht sich als einer, der in der Lage ist, umsichtig und zielorientiert (zu) arbeiten. Er erklärt es zu einer Selbstverständlichkeit, alle Aufgaben in einer Gemeinde, die zum Tätigkeitsfeld eines Gemeindepfarrers gehören, anzugehen und zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Auch anstehende Umstrukturierungsprozesse verbunden mit der Reduktion von Gemeinde- und Pfarrhäusern gehören dazu. Im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen aber, die, wie er vermutet, das Universitäts-Studium der Theologie eher als Pflichtaufgabe betrachtet haben und die in der gemeindlichen Praxis und deren zahlreichen Aufgaben und Aktivitäten ›aufgehen‹, erfolgt seine Herangehensweise in einem doppelten Modus. Er beschreibt seine Herangehensweise als eine mit Realitätsbewusstsein, aber auch mit inneren Perspektiven und äußeren Perspektiven. Die innere Perspektive scheint die in seiner Person habituell verankerte theologische Perspektive zu sein, die sich mit der äußeren Perspektive verschränkt, also jener, die auf die erfolgreiche praktische Bewältigung der Aufgaben gerichtet ist. Die Aufgaben müssen in einen Sinnzusammenhang mit der theologisch fundierten Handlungsbegründung gebracht werden und müssen sich wiederum in der Praxis bewähren. Es ist ein ständiger Reflexionsprozess, der seine pfarramtliche Arbeit begleitet, die er, wie er sagt, gerne angeht.
Theologische Reflexionen in Bezug auf das ›Tagesgeschäft‹ eines Pfarrers sind für ihn konstitutiv für das Leben und Überleben im Pfarramt. Es geht ihm darum, als theologisches Subjekt weiterhin unterwegs zu sein. Diese Disposition hat er sich im Studium erarbeitet, denn das Studium ist eben ein Bestandteil meiner Biografie. Gerade wegen der Gefahr der Dominanz der vielen administrativen und strategischen Aufgaben darf die theologische Reflexionsarbeit nicht aus den Augen verloren werden, und so achtet er darauf, dass bestimmte Themen präsent bleiben und verfolgt werden. Was er damit meint, umschreibt er so: Theologie darf nicht fremdwörterisch ausgedrückt und zu einer legitimierenden Zweitcodierung werden.
Dass für Herrn Holtmann der Sonntagsgottesdienst in seiner Vielfalt und die liturgische Gestaltung des Gottesdienstes zum Qualifikationsmerkmal der Gemeinde gehört, mag im Kontext der bisherigen Analyse nicht überraschen. Für Pfarrer Holtmann spielt darüber hinaus der Gottesdienst auch persönlich eine zentrale Rolle sozusagen […] für meine Identität als Pfarrer. Und neben den Gottesdiensten sind es die Kasualien und damit bedeutsame biografische Übergänge im Leben von Menschen, die es zu gestalten gilt. Es geht um Abschied nehmen vom Alten und um Offenheit für Neues. In dieser Hinsicht versteht er sich selbst als Wanderer, der sich einen weiteren Wechsel im Pfarramt sehr wohl vorzustellen vermag. Und wenn es der liebe Gott äh so äh geben möge, dann gibt es das nochmal irgendwann.
9. KIRCHE FÜR DAS GANZE DORF – SYMBOLORT FÜR DAS, WAS DIE HEIMISCHE KULTUR ÄSTHETISCH UND INHALTLICH ALS EINE CHRISTLICHE IDENTIFIZIEREN LÄSST
PFARRERIN IRENE IMHOF
Andreas Feige/Interview: Bernhard Dressler
Ich bin mit Kindergottesdienst, Kindergruppe, Jugendgruppe aufgewachsen, hatte auch einen guten Kontakt zu der Pfarrerin damals in A., und die hat mich dann letztlich auch für das Theologiestudium interessiert. Für den Pfarrerberuf zuerst, dann auch fürs Studium.
Maßgeblich mitgeprägt hat mich in der Oberstufe mein Religionslehrer, wir haben Texte gelesen, Jean Paul, die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei. Das hat mich unglaublich beeindruckt, damals so als 16-, 17-Jährige, dass man das denken darf. Ja, dass man so radikal fragen kann, es waren ja als Jugendliche auch meine Fragen.
9.1 Persönliche Situation
Irene Imhof ist 51 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern. Ihr Mann verantwortet die Öffentlichkeitsarbeit eines außerhalb des Wohnortes liegenden Unternehmens. Frau Imhof, aufgewachsen in einem vorstädtischen Ambiente einer mittelgroßen Stadt, strebte für ihr Vikariat bewusst in den ländlich-dörflichen Raum, um auch dort die sozialen Lebensstrukturen kennenzulernen. Sie bekam dann von der Kirchengemeinde, in der sie einige Jahre die Pfarrvikars-Stelle bekleidete, die Einladung, sich auf die frei gewordene Pfarrstelle zu bewerben. Das tat sie erfolgreich und hat sie bis in die Gegenwart inne.
9.2 Grundlegende Pfade im Berufszugang
Frau Imhof ist in einem familialen Setting aufgewachsen, in dem nicht die Familie zur Kirche gehörte, sondern die Kirche gleichsam in der Familie zu Hause war: Eltern und ein Großvater waren in verschiedenen Kirchenvorständen, Großmutter und Mutter in der Frauenhilfe bzw. im Chor; und zur Pfarrerin vor Ort bestand ebenfalls enger Kontakt. Die Möglichkeit zur Praxisbeobachtung an einer konkreten Person haben Irene Imhof schon recht früh den Fokus allererst auf den Pfarrberuf und dann erst auf das Theologiestudium legen lassen. Freilich hat sie sich erst während der Oberstufenzeit für das Ziel Theologiestudium und nicht für das zunächst erstplatzierte Berufsziel Medizin entschieden. Maßgeblich hat zu diesem Rangplatztausch ihr Oberstufen-RU bzw. der ihn gestaltende Pfarrer beigetragen. Durch den wurde sie mit der intellektuellen Erfahrung des freien Denkens, etwa am Beispiel eines Textes von Jean Paul (»Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei«) bekannt gemacht. Und dieser Pfarrer hat wirklich auch unsere Fragen ernst genommen. So hat sie schon früh wesentliche Seins-Formen geistig-intellektueller Aktivität vorgestellt bekommen: das Denken und das Dürfen, das Kreative und die Ordnung; Negation und Affirmation.