Innenansichten. Dietrich Korsch

Innenansichten - Dietrich Korsch


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hier erlebe, nicht allein. So. Das hat sich schon geändert, sehr deutlich.

       Es ist eigentlich immer schön. Und hier in diesem Dorf, ähm, ja, da muss ich auch immer ein bisschen aufpassen, dass ich auf dem Boden bleibe. Hier bin ich der Papst.

       12.1 Persönliche Situation

      Herr Langer ist zum Zeitpunkt des Interviews 57 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder. Er ist seit 26 Jahren in derselben dörflichen Gemeinde tätig und hat eine Gemeindearbeit mit zahlreichen ehrenamtlich aktiven Gemeindemitgliedern aufgebaut.

       12.2 Emanzipation aus der Enge des Elternhauses

      Lukas Langer wächst in einer Familie auf, die von einer pietistischen und engkonservativen Religiosität geprägt ist. Sein Vater war Kirchenvorsteher, den er als in vielem knochig und konservativ charakterisiert. Die Enge des Elternhauses und die dort praktizierte Religiosität konnte er nicht mit seiner Weltsicht zusammenbringen. Das passte nicht in meine Jugendwelt. Bereits als Jugendlicher hat er versucht, sich von dieser Religiosität abzusetzen und aus dem elterlichen Milieu zu emanzipieren. Eine neue Orientierung fand er in seinem Heimatpfarrer, einem damals jungen Pfarrer, sehr liberal und progressiv. Dieser eröffnete Lukas Türen zu einer für ihn neuartigen und überzeugenden Weltsicht. Der Pfarrer wird für ihn zum Vorbild. Das willst du auch […] aber du willst es natürlich besser machen. Damit ist der Weg bereitet für seinen späteren Beruf.

      Die Emanzipation aus dem Elternhaus hätte sehr wohl – so wie damals bei vielen seiner Altersgenossen – mit einer Verabschiedung von Kirche und Religion insgesamt verbunden sein können. Spätere Hinweise in der Erzählung in Bezug auf seine Eltern, die politisch konservativ eingestellt waren und sich beide im Dritten Reich sehr wohlgefühlt (haben), hätte diese Option nahegelegt.

      Der junge Lukas Langer verlässt aber das kirchlich-religiöse Feld nicht, sondern hat, um es in einem Bild auszudrücken, von der ›Mannschaft des Elternhauses‹ zur – aus seiner Perspektive – gegnerischen ›Mannschaft des Pfarrers‹ gewechselt. In einem kleinen, aber bedeutsamen Punkt setzt er sich zugleich von seinem Heimatpfarrer ab. Lukas Langer beansprucht für sich die Durchsetzung eines für die Adoleszenz und für die damalige Zeit typischen radikalen Gerechtigkeitsimpulses, mit dem er sich absetzt von der alles verstehenden Liberalität des Pfarrers.

      Der junge Lukas Langer verlangte von seinem Pfarrer Entschiedenheit und Klarheit. Der Pfarrer hat jedoch aus seiner damaligen Sichtweise nicht Klartext geredet. Er war offen sowohl für konservative und enggläubige Christen, vertreten durch seinen Vater im Kirchenvorstand als auch für neoliberal agierende Kirchenvorstände, leitende Angestellte der XY-AG. Das behagte mir nicht so, dass der denen alles durchgehen ließ. Alle waren in der Gemeinde willkommen und wurden in ihrem ›Sosein‹ akzeptiert. Im Gegensatz zum Pfarrer vertrat Lukas Langer damals eine Gesinnungsethik, die klar zwischen Gut und Böse, richtig und falsch zu unterscheiden sich befähigt fühlt. Für einen Jugendlichen in der damaligen Situation war es zudem kaum möglich, aus einer liberalen Position heraus alles verstehend zu akzeptieren, insbesondere nicht die religiösen Weltsichten und politischen Einstellungen seines Elternhauses, von denen er sich dezidiert zu emanzipieren versuchte. Das besser machen implizierte also möglicherweise ein im Vergleich zu seinem Heimatpfarrer weniger flexibeltolerantes Weltbild.

      Die Dynamik des Gegensatzpaares »konservativ und eng« vs. »offen und liberal«, das für ihn keine zufriedenstellende Alternative darstellt, treibt ihn in Richtung eines linken und kämpferischen Weltbildes […] bisschen (.) die Welt verbessern wollen. Dieses Weltbild, gespeist von seinem ausgeprägten Gerechtigkeitsimpuls, wird von ihm sowohl religiös als auch politisch gedeutet. Damit kann er sich inhaltlich akzentuiert von seinem Elternhaus absetzen. Strukturell und habituell basiert sein neues linkes Weltbild allerdings auf Voraussetzungen, die ihm von Seiten seines Elternhauses sehr wohl vertraut sind und in denen er sozialisiert wurde: So wie die Dominanz des rigide verstandenen Religiösen das Leben im Elternhaus bestimmte, so ist es jetzt die Dominanz der (linken) Theorie der ›besseren Welt‹, die die Praxis und die Weltsicht des jungen Lukas Langer bestimmen. Die im Elternhaus erworbenen habituellen Dispositionen haben sich erst einmal nicht verändert, sie entsprechen vielmehr dem Modus seiner pietistischen Herkunft. Sehr wohl aber haben sich die Inhalte in Bezug auf Glaubensvorstellung, Werte und Normen radikal geändert, die sich in einem Entweder/Oder-Modus gegenüberstehen und bekämpfen. Eben zu diesem Zweck greift er – praxeologisch durchaus folgerichtig – auf die in der Herkunftsfamilie erworbenen habituellen Dispositionen vorbewusst zurück. Der erworbene Habitus bleibt sinnvoll, weil er richtungsweisend in eine kompatible linke Ideologie führt, verbunden mit einem weltverbessernden Gerechtigkeitsimpuls.

       12.3 Theologiestudium

      Im Studium wird der Gerechtigkeitsimpuls radikalisiert durch eine politische Praxis und zugleich theoretisch untermauert durch entsprechende Theologien und der Suche nach den theologischen und kirchengeschichtlichen Wurzeln. Zunächst findet eine weitere Verengung seiner Weltsicht statt. Jegliche, insbesondere die politische Praxis kann und muss aus der ›richtigen Theorie‹ abgeleitet werden. Für den Theologiestudenten Lukas Langer ist es die SCHRIFT, die einen direkten Weg zu wahrhaft gerechten Bedingungen in dieser Welt weist. Es bedarf in diesem Fall keiner Reflexion zwischen Theorie und Praxis, da letztere direkt aus der Theorie/Schrift ableitbar ist. In der Methode Jesus findet er den dazu passgenauen Weg, die Probleme dieser Welt (zu) lösen und (zu) heilen.

       Wir haben schon im ersten Semester das erste Haus besetzt ähm, also ich bin da ganz schnell auf so eine Spur gekommen, wo es eigentlich darum ging, jetzt mal die Ärmel hochkrempeln und diese Welt verbessern und für mehr Gerechtigkeit sorgen und so STEHT ES DOCH in der Schrift, LOS GEHT ES. SO.

      Diese Form des politischen Agierens ist nicht diskursfähig. Zu diesem radikalen Weltbild passt, dass Professoren und Professorinnen, die kongruente Theorien vertraten, von den Studenten wie Götter verehrt wurden und liberal eingestellte Professoren als Verräter aus der avantgardistischen Weltverbesserungstruppe ausgeschlossen wurden.

      Eine erste Öffnung des geschlossenen und radikalisierten Weltbildes beginnt, als Lukas Langer zusammen mit Kommilitonen in eine Wohngemeinschaft zieht, um in Gütergemeinschaft den linken Lebensstil unter dem Focus von Gerechtigkeit umzusetzen. Über das Zusammenleben in der WG im Umfeld einer Universitätsstadt und die Arbeit an der kirchengemeindlichen Basis (Kirchenchor, Jugendarbeit) wird der weltverbessernde Gerechtigkeitsimpuls auf eine konkrete und überschaubare Praxis begrenzt. Im Praxistest sind konkrete Lösungen und kleine Schritte gefragt.

       Wir haben das, was wir hatten, zusammen in einen Pott geworfen und ähm haben STUNDENLANG diskutiert […] ob es denn nun irgendwie/IRGENDWIE zu verantworten ist, da ein altes Auto zu kaufen oder nicht. Also solche Sachen. Hochinteressant.

      Das Passungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis geht nicht in einem 1:1-Verhältnis auf. Die praktische Frage, ob man ein Auto kaufen soll, kann man aus keiner Theorie und auch nicht aus der Heiligen Schrift ableiten. Die Praxis erweist sich als widerspenstig zu einer geschlossenen Theorie. Zur Entscheidungsfindung muss stundenlang diskutiert werden. Man kann sich nicht ausschließlich und einseitig radikal positionieren; der zwanglose Zwang der praktischen Anforderungen erfordert vielmehr, dass man sich gegenüber dieser widerborstigen Wirklichkeit sukzessive öffnet, auf Kosten einer geschlossenen und alles erklärenden Theorie. Dieser praktische Transformationsprozess hat Auswirkungen auf sein theologisches Verständnis. Er öffnet sich gegenüber zwar weiterhin linken, aber liberaleren Theologien. Die Suche nach den theologischen und kirchengeschichtlichen Wurzeln einer die Welt verbessernden Gerechtigkeitsidee erweitert sich auf die Erforschung weiterer Perspektiven, die mit der eigenen Sicht in einen Zusammenhang gebracht und kritisch reflektiert werden müssen. In diesem Wechselbezug werden zuvor feststehende Grenzen veränderbar und verhandelbar. Dazu hat beigetragen, dass liberale Theologen unter seinen Lehrern zwar seine Radikalität nicht übernehmen, aber dafür Verständnis aufbringen.

      Im weiteren Verlauf des Studiums hat Lukas Langer dann gelernt, sein politisches Handeln theologisch und traditionsgeschichtlich zu begründen. In den Feldern der kirchlichen


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