Touched: Süchtig nach dir. Lea Mayance
einem kurzen Zögern legte Tom die Arme um sie. »Ich dich auch«, sagte er mit rauer Stimme.
»Du musst mich unbedingt bald besuchen kommen, ja? Und wir müssen oft telefonieren … nicht nur über WhatsApp schreiben!«
»Okay, machen wir.« Tom versuchte, sich aus ihrer Umarmung zu lösen. »Mama, ich muss zur Schule.«
Widerwillig ließ sie ihn los. »Wir können auch skypen …«
»Klar. Ist doch heutzutage gar kein Problem.« Tom lächelte gequält.
Er umarmte sie noch einmal und sie sog den Geruch seines frisch gewaschenen Haares ein.
»Ich muss los«, murmelte Tom, trat einen Schritt zurück und ging zur Tür. Als er bereits auf dem Gehweg war, drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zu.
Sie blieb an der Tür stehen, bis er um die nächste Ecke gebogen war und sie ihn nicht mehr sehen konnte. Mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen. Sie musste jetzt stark sein, sonst würde sie noch in letzter Sekunde alles rückgängig machen. Doch das war keine Option. Sie war fest davon überzeugt, dass dies ihre einzige Chance war, aus ihrem eingefahrenen Leben auszubrechen und noch einmal von vorn anzufangen. Die musste sie einfach ergreifen.
Auch andere Eltern trennen sich und ziehen um, hat sie sich eingeredet.
Aber nicht unbedingt in ein anderes Land, hat sich im nächsten Augenblick ihr Gewissen gemeldet.
Als das Taxi zügig aus der Ortschaft in Richtung Autobahn fährt, schaut sie mit leerem Blick aus dem Fenster und nimmt kaum die vertraute Umgebung wahr. Ihre Gedanken kreisen stattdessen um ihn.
Gestern Abend hat er ein allerletztes Mal angerufen, um ihr zu sagen, wie sehr er sich auf sie freue. Kaum hat sie seine Stimme am anderen Ende der Leitung – achttausend Kilometer entfernt – gehört, waren alle Zweifel wie weggewischt.
In ein paar Stunden werde ich bei ihm sein, denkt sie aufgeregt, während das Taxi über die Autobahn Richtung Flughafen rast. Sie ist froh, dass der Tag X endlich gekommen ist, an dem es keine Umkehr mehr gibt, kein Zaudern und kein Gedankenkarussell.
Bilder von ihrer ersten Begegnung mit ihm schießen ihr durch den Kopf, und sie muss unwillkürlich lächeln, als sie an ihr ungeplantes Aufeinandertreffen zurückdenkt.
***
Es war der erste richtig warme Frühlingstag des Jahres. Die Luft war noch kühl, aber in der Sonne war es schon herrlich warm. Überall war frisches Grün zu sehen, die Natur explodierte, und die Menschen schienen aufzuatmen, weil der Winter endlich vorüber war. Greta war in die Stadt gefahren, um sich mit einer Shoppingtour durch ihre Lieblingsboutiquen aus der alltäglichen Routine und Langeweile herausreißen zu lassen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es in der Stadt so voll sein würde. Das gute Wetter hatte viele Menschen angelockt, die die ersten Sonnenstrahlen genießen wollten.
Shoppen kann fast so befriedigend sein wie Sex, dachte sie, als sie mit ihren Einkaufstüten bepackt Richtung Dom schlenderte. Und davon hatte ich in letzter Zeit nicht allzu viel. Aber jetzt brauche ich erst einmal dringend einen Kaffee.
Am Marktplatz, wo einige Cafés Tische draußen stehen hatten, hielt sie nach einem Platz Ausschau. Ein aussichtsloses Unterfangen: Bei dem herrlichen Wetter waren alle Stühle besetzt, weit und breit war kein freier Tisch in Sicht. Fast wollte sie aufgeben, als sie vor ihrem Lieblingscafé Milk and Coffee einen Tisch entdeckte, an dem nur ein Mann saß. Der Typ chillte lässig mit ausgestreckten Beinen, geschlossenen Augen und verschränkten Armen auf dem Stuhl in der Frühlingssonne, beinahe sah es aus, als wäre er eingenickt. Sie zögerte, doch sie wollte unbedingt einen Kaffee trinken. Hier und da eine Entschuldigung murmelnd, zwängte sie sich mit den Tüten an den anderen Tischen vorbei und fragte den Mann mit einem gewinnenden Lächeln: »Entschuldigen Sie bitte, ist hier noch ein Platz frei?«
Er schaute erstaunt auf und runzelte die Stirn. »Excuse me?«
Greta war über seine Antwort überrascht, ließ sich jedoch nichts anmerken. »Ähm … darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte sie ihn auf Englisch und deutete auf den freien Platz.
Der Mann zögerte.
»Oh, no problem«, sagte sie schnell, »wenn Sie für sich bleiben wollen … kann ich mich woanders hinsetzen.«
Er überlegte einen Augenblick und schaute sich um. »Hm, das könnte schwierig werden. … Setzen Sie sich und machen Sie es sich bequem«, sagte er mit eindeutig amerikanischem Akzent. Seine Stimme war tief, sonor und klang, als hätte er in seinem Leben schon einige Zigaretten inhaliert. Mit seiner linken Hand deutete er beiläufig auf einen freien Stuhl an dem kleinen Tisch.
»Vielen Dank! Das ist sehr freundlich«, entgegnete sie und befürchtete, dass ihr Oxford-Englisch in seinen Ohren schrecklich klingen musste. Sie setzte sich und verstaute umständlich ihre Tüten unter dem Bistrotisch.
»Darf ich Ihnen etwas bestellen?«, fragte der Fremde, als sie sich endlich seufzend zurücklehnte.
Zu ihrer Überraschung sprach er langsam und deutlich. Sie hatte mit Amerikanern schon ganz andere Erfahrungen gemacht. »Das wäre nett. Einen Café au Lait … oder nein … lieber einen Latte macchiato, bitte.«
»Gibt es da einen Unterschied? Ich dachte, das wäre dasselbe … Kaffee mit Milch«, entgegnete er mit einem ironischen Unterton.
»Oh nein, es gibt tatsächlich Unterschiede.«
»Na, dann bin ich gespannt«, sagte er und lehnte seinen Oberkörper ein wenig nach vorn.
Na prima, dachte Greta. Und das nur, weil ich mich wie so oft nicht entscheiden konnte. Sie seufzte leise.
»Also«, fing sie an und holte tief Luft, »ein Café au Lait ist Espresso oder Kaffee mit der gleichen Menge an Milch und ein bisschen Milchschaum. Ein Latte macchiato hingegen besteht aus viel Milchschaum, in den vorsichtig ein Espresso eingefüllt wird. Und dann bilden sich diese … diese …« Sie überlegte, wie sie das Kunstwerk umschreiben könnte. »… nun, diese verschiedenen Farben, die Sie gleich bei meinem Latte macchiato sehen können. Deswegen wird er im Glas serviert.«
»Danke für die Erläuterung. Und übrigens – Sie haben einen wirklich netten Akzent«, sagte er mit einem Grinsen.
Sie wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt oder auf den Arm genommen fühlen sollte. »Thank you«, sagte sie und zog einen Mundwinkel nach oben.
Während er den Kellner herbeirief und bestellte, ließ sie ihren Blick über den Marktplatz schweifen und registrierte die vielen Menschen, die herumschlenderten, die spielenden Kinder und die Straßenmusiker. Von ihrem Platz aus hatte man einen grandiosen Blick auf den Mainzer Dom. Sie war gern in der Stadt, die überschaubar und gemütlich war.
Der Amerikaner hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und schien das bunte Treiben ebenfalls zu beobachten. Aus den Augenwinkeln musterte sie ihn. Baseballkappe, dunkle Sonnenbrille, weißes T-Shirt, ausgewaschene Jeans, keine Socken, Sneaker. Vielleicht eins fünfundachtzig, recht muskulös. Man sieht, dass er trainiert, dachte sie mit Blick auf seine Oberarme. Unter dem linken Ärmel des T-Shirts blitzte ein Tattoo hervor, ein Tribal, das sich rund um den Arm schlang. In ihrem Bekanntenkreis hatte niemand ein Tattoo, jedenfalls kein offensichtliches. Insgeheim musste sie zugeben, dass es zu ihm passte – und ziemlich sexy war.
»Und, gefällt Ihnen, was Sie sehen?«, fragte der Fremde mit ironischem Unterton in der Stimme.
Sie lachte verlegen. »Oh, es tut mir leid. Mein Blick fiel nur gerade auf Ihr Tattoo«, beeilte sie sich, zu sagen, und merkte, wie sie errötete.
»Es braucht Ihnen nicht leidzutun. Männer checken Frauen ständig ab, warum soll es nicht auch umgekehrt so sein?«
»Na ja, normalerweise tue ich so etwas nicht – abchecken, wie Sie es nennen.«
»Soso! Wenn Sie da mal nichts verpassen«, lachte er.
Sie zog die Augenbrauen hoch, aber entgegnete nichts. Sie würde einen Teufel tun, mit ihm darüber zu diskutieren.