Tanausú. Harald Braem

Tanausú - Harald Braem


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übrigens gehen, Kleiner», sagte er, «deine Wache ist vorbei, und ich bin hier, um dich abzulösen.»

      «Nenn mich nicht immer Kleiner, auch wenn du ein Verwandter meines Vaters bist», sagte Bencomo.

      Adargoma grinste spöttisch. Er wollte etwas erwidern, verkniff es sich aber. Statt dessen stieß er den Jungen freundschaftlich an die Schulter. «Ist gut, ich werde das nächste Mal daran denken. Weißt du, wenn man erst so alt ist wie ich, kommen einem die meisten Menschen wie Kinder vor … Geh nun, im Dorf warten bestimmt deine Freunde auf dich. Für mich sind die stillen Abende gut, und noch besser die Nacht.» Er deutete auf die an seinem Haarschopf baumelnde Feder. «Wahrscheinlich bin ich eine alte Krähe. Ich unterhalte mich gerne mit ihnen, wenn sie zum Seelenstein kommen …»

      Er brabbelte noch weiter, aber das hörte Bencomo, der in langen Sätzen die Hänge nach Tixarafe hinabsprang, schon nicht mehr. Der Geruch des Feuers zog ihn ins Dorf.

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      Ich muss Ica unbedingt wiedersehen, dachte Bencomo. Aber unter welchem Vorwand kann ich zur Bucht gehen? Auffällig oft schon war er zum Lapassammeln zu den Klippen hinabgestiegen. Seine Freunde hatten es bemerkt, seine Eltern. Und sie hatten ihn gewarnt: «Lass dich nicht so oft im Aridane-Tal sehen, das geht auf die Dauer nicht gut. Wir leben zwar in friedlicher Nachbarschaft mit Mayantigos Stamm, aber das war nicht immer so und kann sich auch wieder ändern. Willst ausgerechnet du Ursache für neue Streitigkeiten sein? An den Felsen von Tixarafe kleben genug Lapas, ausreichend für uns alle.»

      «Aber keine so großen wie in der Bucht von Taxacorte», widersprach Bencomo starrköpfig. «Außerdem habe ich neulich auf dem Weg dorthin Obsidianknollen entdeckt, so groß, dass man mehrere Klingen daraus schlagen könnte. Obsidian ist härter als der Basalt, den wir für unsere Messer verwenden. Basalt wird im Gebrauch schartig und stumpf, außerdem bricht er sehr leicht. Bei Obsidian passiert so was nie.»

      «Du bist ein sturer Bursche», antwortete Zuguiro, Bencomos Vater. «Meinetwegen geh, aber lass dich nicht erwischen.»

      Und Bencomos Mutter ergänzte: «Pass vor allem auf Mazo auf, wenn du ihn mitnimmst. Du bist für ihn verantwortlich.»

      Mazo, der jüngere Bruder, war jedes Mal begeistert, wenn Bencomo ihn auf seine Streifzüge mitnahm. Mazo war zwölf, galt also noch als Kind und durfte nicht im Kreis bei den Kriegern sitzen. Wenn alles gut ging und der Feycan, der Richter, zustimmte, würde er im Sommer zur Männerweihe zugelassen werden. Die Weihe war mit einer Mutprobe verbunden. Erst wenn man diese bestand, galt man als vollwertiges Mitglied des Stammes.

      Mazo war blond, sein Haar viel heller als das von Bencomo, und seine Augen glitzerten so blau wie das Wasser des Taburienteflusses. Er lief meist nackt, bis auf den ziegenledernen Lendenschurz, und er beneidete Bencomo heftig darum, dass dieser bereits einen Jagdbeutel mit allerlei Utensilien am Gürtel tragen durfte. Einmal hatte der ältere Bruder den Inhalt ausgebreitet und stolz die Gegenstände, die er ständig bei sich trug, gezeigt: Klingen und Schaber aus Basalt und Obsidian, schwarze, getrocknete Mocanbeeren als Notnahrung, eine verzierte Knochennadel – und als kostbarsten Besitz eine kleine Tonfigur, die ihm die Medizinfrau nach der bestandenen Mutprobe geschenkt hatte. Sie war kaum so groß wie eine Fingerkuppe und stellte Tara, die große Erdmutter dar – eine fette, sitzende Frau mit langem Hals, der in einen winzigen, gesichtslosen Kopf auslief. Jeder Krieger und auch die erwachsenen Frauen besaßen eine solche Figur. Sie sah bei jedem anders aus, verkörperte aber stets Tara. Die große Erdmutter offenbarte sich in vielerlei Gestalten und Formen.

      «Pass auf», sagte Bencomo, «wir steigen zur Bucht von Taxacorte hinunter und sammeln den ganzen Tag lang alles, was wir brauchen können. Wir nehmen Körbe mit, häng dir den großen um, den Vater neulich geflochten hat.»

      «Werden wir Lapas schneiden?»

      «Ja.»

      «Und vielleicht auch ein paar Fische fangen?»

      «Auch das.»

      «Dann nehme ich den Angelhaken und den Speer mit.»

      «Tu das. Vor allem aber versprich mir eines: Verhalte dich ruhig; wir wollen unbemerkt bleiben, und wenn wir Leute des anderen Stammes sehen, verstecken wir uns. Es ist ihr Gebiet, in dem wir unterwegs sind.»

      Mazo war aufgeregt. Er fieberte darauf, sich zu beweisen. der Ausflug war ganz nach seinem Geschmack.

      Im Morgengrauen, als die Sonne schon ihr erstes Licht aufs Meer schickte, aber noch nicht über den Hängen des Time stand, gingen sie los. Sie folgten der Trittspur zum Seelenstein, bogen dann aber ab und benutzten den alten Weg, der an den verlassenen Höhlen vorbeiführte. Hier wurde Mazo still, presste die Lippen zusammen und konzentrierte sich darauf, seine Füße sicher zwischen die bröckligen Steine zu setzen, ohne nach rechts oder links zu blicken. Dabei war der abschüssige Weg hier keinesfalls gefährlicher als an anderen Stellen am Time. Aber die verlassenen Höhlen ängstigten ihn. Es hieß, in den uralten Zeiten seien hier Menschen begraben worden, und ihre Geister schwebten noch immer über dem Ort.

      Das stimmte möglicherweise sogar. Bevor man den Friedhof in der großen Felskammer angelegt hatte, war es bei den Vorfahren üblich gewesen, die Toten in Wohnhöhlen zu lassen oder sie sogar dort einzumauern. Solche Höhlen waren fortan tabu, man machte einen weiten Bogen um sie. Einmal waren Mazo und Bencomo bei ihren Streifzügen auf eine Höhle gestoßen, die weitab von den anderen im Felshang lag. Da es regnete und ein heftiger Sturm ging, suchten sie einen Unterschlupf und hatten sich nach anfänglichem Zögern weiter hineingetraut. An der Rückwand der Höhle waren sie auf röhrenartige Löcher gestoßen, in die sie aber nicht kletterten, weil Bencomo sagte, es seien alte Gasschlünde des Vulkans, und sie würden direkt zum Zentrum der Erde führen, wo der Guayote saß und über das Schattenreich wachte.

      Dann aber waren sie in einem Seitenteil der Höhle auf einen Raum gestoßen, dessen Zugang durch große Steine verschlossen war. Ein paar davon waren herausgefallen und gaben oben in der Wand einen Spalt frei.

      «Heb mich hoch, damit ich durch den Spalt sehen kann», hatte Mazo gefordert und war auf Bencomos Schultern geklettert. Als er oben stand und den Kopf durch die Öffnung steckte, sah er zuerst nichts, nur Dunkelheit und einige Spinnweben. Aber nachdem sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, entdeckte er die beiden Körper in der Ecke. Ein Mann und eine Frau saßen dort, seltsam starr in Ziegenhäute gewickelt, als würden sie frieren. Anstelle der Gesichter aber starrten ihn zwei Totenschädel an. Mazo hatte vor Entsetzen aufgeschrien und sich, so schnell er konnte, von den Schultern des Bruders gleiten lassen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er Mumien gesehen hatte.

      Seitdem flößten ihm Höhlen, besonders solche, die weitab von den anderen lagen, Respekt ein. Nicht, dass er das Tabu gefürchtet hätte – wie Bencomo glaubte er die übertrieben klingenden Geistergeschichten nicht, die man sich abends am Lagerfeuer erzählte –, aber vorsichtig war er schon geworden. Man konnte schließlich nie wissen, wie sich die Toten verhielten, und ob sie neugierigen Kindern wohlgesonnen waren …

      Das Wegstück nach den verlassenen Höhlen war wesentlich steiler und erforderte größte Aufmerksamkeit, dennoch atmete Mazo spürbar auf. Klettern konnte er wie jedes Kind der Insel. Schon von klein auf lernte man es und wetteiferte darin mit den Ziegen. Bencomo war, seiner längeren Beine wegen, Mazo stets ein gutes Stück voraus. Um den jüngeren Bruder brauchte er sich aber keine Sorgen zu machen. Lieber blieb er des öfteren stehen und überprüfte sichernd die Umgebung.

      Wer wohl jetzt gerade oben auf dem Seelenstein lag und Wache hielt, überlegte Bencomo. Ob der sie sah und mit den Augen ihren Abstieg verfolgte?

      Auf halber Höhe des Time gingen sie parallel zur Schlucht der Todesängste. Bei jedem Schritt raschelte es, wenn Eidechsen vor ihnen flüchteten. Spinnen hatten ihre Netze von Dornbusch zu Dornbusch gespannt, Kreuzspinnen und die größeren schwarz-gelb gestreiften Zebraspinnen. Aber die taten niemandem etwas. Mit der Spitze der Lanze hob Bencomo vorsichtig die Haltefäden ihrer Netze an und ließ die Tiere beiseite gleiten, bevor er weiterging. Nach ein paar Stunden bereits würden sie ihre Netze repariert haben und erneut zwischen den Büschen hängen.


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