Tanausú. Harald Braem

Tanausú - Harald Braem


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aus seinem Schlaf?

      Auch dieses Geräusch hatte Bencomo noch nie in seinem Leben gehört. Unwillkürlich musste er an die Geschichten der Alten denken, an ihre Berichte über fürchterliche Vulkanausbrüche, die tagelang anhielten und das Fundament der Erde zum Beben brachten. Seine Eltern hatten davon erzählt, dass in der Nacht die Insel taghell erleuchtet gewesen wäre vom riesigen, aus dem Berg schießenden Feuer. Dazu kamen Rauch und Schwefeldämpfe, die die Luft zum Atmen nahmen. So hatte der Guayote seinen Auftritt angekündigt. Danach war Ascheregen über das Land gefallen und hatte weite Gebiete bedeckt. Der Schlund des Vulkans aber spie weiter seine Feuersäule hoch in den Himmel, glühende Lava quoll aus dem Schlund, ergoss sich in breiten, rotkochenden Bahnen die Hänge hinab bis zum Meer. Und viele Tage hatten die Wälder gebrannt, bis von ihnen nur noch tote, schwarze Baumstümpfe und ein weißer Ascheteppich übriggeblieben waren.

      Plötzlich merkte Bencomo, dass das leise Grollen aufgehört hatte. Es war viel stiller als zuvor, noch immer saß der Stamm wie erstarrt da. Dann kam Bewegung bei den Frauen auf, sie wichen zurück und bildeten eine Öffnung zum Kreis. Durch diese Gasse schritt Tamogante, die uralte Heilfrau. Sie war in bemalte Ziegenfelle gehüllt, getrocknete Eidechsenschwänze baumelten am Gürtel ihres Gewandes, und über der Brust klirrte eine Kette aus durchbohrten Knochen, Muscheln und Eberzähnen. Sechs Harimaguadas begleiteten sie, junge, in helle Kleider gehüllte Mädchen, die Gefäße und andere heilige Gerätschaften mit sich trugen. Die erste setzte eine mit Milch gefüllte Schale im Kreis ab, die zweite legte einen gehörnten Ziegenschädel daneben, die anderen hockten sich neben das Feuer.

      Tamogante ging ihrem Alter entsprechend langsam, jede Bewegung schien bedacht und von einer bestimmten Bedeutung zu sein. Am Feuer angekommen, löste sie einen Beutel von ihrem Gürtel, öffnete die Verschnürung, hob ihn hoch und warf den Inhalt in die Flammen. Das Pulver zischte und prasselte und stob in der Dunkelheit hoch wie eine Staubwolke aus glimmenden Sternen. Die Medizinfrau breitete beide Arme aus und begann mit klarer Stimme zu singen.

      «Du siehst uns hier versammelt, Guayote», sang sie, «weil wir in großer Trauer um unseren König sind. Alt ist er geworden in Zeiten des Friedens, obgleich seine Jugend im Zeichen des Kampfes stand. Blut hat er gegeben für Benahoare, Narben blieben zurück, von seinen Feinden verursacht, die übers Meer zu uns kamen. Weise war er, ein gütiger Herrscher, unter dessen Schutz unser Stamm blühte und sich vermehrte. Aber nicht nur bei uns galt sein Wort als Gesetz, sondern auch bei den Stämmen im Norden, Süden, Osten und Westen und im großen Krater, in dem Tanausú am Heiligen Berg Idafe wacht. Dein Name sei gepriesen für alle Zeiten, Madango …»

      Die Heilfrau begann mit kleinen Schritten das Feuer zu umkreisen. Nach und nach wurde ihr Tanz schneller. Sie hatte noch immer die Arme ausgebreitet und beugte dabei wiegend ihren Oberkörper vor, als wolle sie den Flug eines Geiers nachahmen.

      Dabei sang sie: «Du bist von uns gegangen, Madango, liegst an der Schwelle zum Schattenreich, und dein Geist fordert, eingelassen zu werden bei dir, Guayote. Gib den Weg frei, großer Dämon, damit er zu unseren Ahnen kann und mit ihnen sprechen. Sieh, all unsere Gedanken begleiten ihn zu dir, sei ihm wohlgesonnen. Wir haben deine Stimme gehört, Guayote. Sie ist mächtig und zürnend, aber zürne nicht uns, denn du bekommst heute ein Geschenk dargebracht. Nimm es wohlwollend an und prüfe unsere Herzen dabei. Sie sind rein, weil wir dich verehren und dich niemals belügen können …»

      Bei den letzten Worten ihres Gesangs waren zwei Krieger aufgesprungen. Ihre Gesichter waren völlig weiß bemalt, ebenso ihr Oberkörper und die Arme. Sie nahmen eine Jungziege in Empfang, die am Strick durch die Menge herangezogen wurde. Das Tier blökte verängstigt und sträubte sich, es spürte, dass es als Opfer bestimmt war.

      Tamogante nahm die Ziege am Strick und führte sie dreimal um das Feuer herum. Sie sang: «Sieh dieses Tier, große Erdmutter Tara, höre, wie es nach seiner Mutter ruft, und bist du nicht die Mutter allen Lebens auf Erden? Wie unser König Madango ist diese Ziege ein Kind deines Schoßes, es weidete auf den Ebenen, die deine Haut sind, kletterte über die Felsen deiner Knochen und fraß das Gras, das dein Haar ist. Ich führe es nun um das Feuer, das Guayote gehört, und er riecht das Fleisch des Tieres. Vergib uns, dass wir es töten, denn es muss in dieser Stunde zu Guayote, damit er sieht: Es ist das Geschenk, das Madango auf seinem Weg ins Schattenreich begleiten soll. Nimm dieses Opfer gnädig an, Dämon aus dem Vulkan. Sei zufrieden damit und verschone unsere Dörfer vor deinem Feuer.»

      Mit diesen Worten nahm sie das Messer aus ihrem Gürtel und stieß die scharfe Obsidianklinge tief in die Kehle des Tieres. Als sie das Messer herauszog, spritzte das Blut in dickem Strahl zischend ins Feuer. Das Tier knickte auf die Vorderfüße und fiel zuckend zur Seite. Die beiden weißbemalten Krieger griffen zu, packten den Kadaver und warfen ihn in die Flammen.

      «Uuuiiii», heulte der Stamm auf, zugleich setzten erneut die Trommeln ein. Einen wilden Wirbel spielten sie, peitschten das Blut in den Adern. Jetzt sprang der Feycan in den Kreis. Der Richter war nicht wiederzuerkennen, kaum wie eine menschliche Gestalt sah er aus. Sein Körper war über und über mit Tierfellen behängt, über dem Kopf trug er eine lederne Haube, die mit gebleichten Tierschädeln und Federn besteckt war. Seine Füße stampften die Erde, sein Oberkörper war eingeknickt, und während sein Tanz ausgedehnte Spiralen um das Feuer zog, immer wieder von zuckenden Sprüngen und seitlichen Ausfällen unterbrochen, heulte und schrie er mit der Stimme eines wilden Hundes. Der Geist des Guayote war über ihn gekommen und hatte von seinem Körper Besitz genommen.

      Gebannt starrte Bencomo auf den Geistertanz des Mannes. Der Feycan war nun kein Wesen von dieser Welt mehr, er befand sich in einem Zustand weitab vom gewohnten Leben der Menschen. Immer ekstatischer wurden seine Tanzschritte und Sprünge. Er stürzte zu Boden und wühlte mit den Händen die Erde auf, er sprang in die Luft und schien einige Augenblicke über dem Boden zu schweben. Er tanzte auf das Feuer zu und sprang durch die Flammen. Er spürte keinen Schmerz mehr und besaß plötzlich die Kraft von hundert Männern. Schrill und unheimlich war seine Stimme, seine Kehle formte Laute, die voller Schrecken und Schauer waren.

      Ängstlich kauerten sich die Kinder zusammen und bargen die Köpfe zwischen den Armen. Die Erwachsenen aber, alle Frauen und Männer und auch Mazo, der voller Angst war, aber den Blick nicht abwenden konnte, sahen den Tanz des Guayote.

      Stundenlang tanzte der Feycan, dann brach er zusammen und wurde von Kriegern aus dem Feuerkreis getragen. Die Heilfrau und ihre Helferinnen bemühten sich um ihn und brachten den völlig Erschöpften endlich wieder zu Sinnen.

      Die ganze Nacht über tönte der Gesang, dröhnten die Stimmen, rief das Muschelhorn, um mit vielfachem Echo von den Bergen Antwort zu erhalten. Bencomo blieb im Tagoror und wachte mit den anderen Kriegern darüber, dass das Feuer nicht ausging. Auch er schlief schließlich vor Müdigkeit ein, erwachte aber bald wieder, als die Morgendämmerung kam.

      Inzwischen war die Menge um den Tagoror um ein Vielfaches angewachsen. Die Stämme aus dem Norden, dem Westen und dem Kraterkessel waren eingetroffen, und noch immer kamen neue Gruppen an. Es hieß, alle Menschen der Insel seien auf den Beinen, wären aufgebrochen, um dem toten König die letzte Ehre zu erweisen. Überall auf den Bergen klangen die Muschelhörner und riefen die Stämme zusammen. Seit langer Zeit hatte das Dorf Tixarafe nicht mehr solche Menschenmassen gesehen.

      Unter den Neuankömmlingen erkannte Bencomo auch Ica. Sie befand sich im Kreis ihrer Familie. Die Leute vom Aridane-Tal hatten ihr eigenes Feuer entfacht, und umringt von seinen Kriegern thronte Häuptling Mayantigo auf einem erhöhten Steinsitz. Wie die Männer aus Tixarafe und Hiscaguan waren auch sie mit weißer Trauerfarbe bemalt. Wer noch nicht Zeit dazu gefunden hatte, wurde mit Schminkpaste versorgt. An diesem Tag sollte die Sonne in kein Gesicht blicken, das nackt und ohne Zeichen der Trauer war.

      Bencomo wagte nicht, sich den Leuten von Aridane zu nähern, nur Ica behielt er im Auge. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Es schien, als bemerke sie das und sah mehr als einmal verstohlen in seine Richtung.

      Mazo war herangetreten und legte dem älteren Bruder die Hand auf die Schulter. «Ich habe Hunger», sagte er.

      «Dann musst du ihn überwinden», antwortete Bencomo. «Du solltest dich damit abfinden, dass es nun mehrere Tage nichts mehr zu essen gibt. Wir werden fasten, so schreibt


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