Tanausú. Harald Braem

Tanausú - Harald Braem


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recht getan, wer ist übrig, euch zu verstehen – der Wind, die Drachen des Tages, die Geckos, die weißen Brüder der Nacht? Sagt, gibt es noch einen, der Zeichen wie diese formt, den Muldensessel, die Steine im Kreis? Wenn ich die Wurzeln esse, die Beeren, zwischen Farn niederknie und trinke – nehmt ihr dies als Opfer an? Die Sprache der Menschen ist anders geworden, ihre Handlungen auch, ihre Körper verstehen oft schon den Sinn nicht mehr. In den Dörfern löscht die Erinnerung aus. Doch ich, Pflegerin des alten Wissens, will ich jemals zurück, kann ich noch gehen?

      An der Dornbuschquelle bin ich, habe Wasser getrunken und Zeichen geformt …»

      Tamogante stand auf. Für einen kurzen Augenblick spürte sie das Alter ihrer Knochen, Muskeln und Sehnen. Steif waren ihre Beine, Schmerz saß in den Knien. Wie ein Tier hockte ihr das Alter im Genick und beugte ihren Körper. Sie schüttelte das unbehagliche Gefühl ab und wandte sich ganz ihrem Dienst zu. Mit geschlossenen Augen tastete sie die Figuren im Fels ab. Ihre Fingerkuppen folgten den Rillen, suchten das Muster. Es ist Musik, dachte Tamogante. Eigentlich sind diese Bilder Gesang, aber einer, der lautlos klingt und innen im Körper entsteht. Es sind die uralten Lieder der Schöpfung …

      Mit einem scharfkantigen Stein kratzte sie den Boden zu ihren Füßen auf, entnahm ihm rotbraune Erde, mischte sie mit dem Wasser der Quelle und strich den Farbbrei in die Rillenbahnen. Lange dauerte diese Prozedur. Die alte Heilfrau vollzog sie in schweigsamer Andacht. Dann trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Jetzt waren sie wieder deutlich zu sehen, die alten Bilder und Muster. Die rote Erde ließ sie aufflammen und ihre innere Musik lauter werden. Es war ein Gesang, der die Geräusche von Wind, rauschendem Blattwerk und dem Sprudeln der Quelle aufnahm und überhöhte, eine Melodie, die heller als die Stimmen der Zikaden und Vogelkehlen war, dunkler als das unheimliche Grummeln der Erde und rauschender als das Brüllen des Meeres.

      Haben nicht früher die Menschen diese Lieder leicht verstanden und sie mitgesungen, dachte Tamogante. Waren damals nicht immer Bittsteller hier an der Quelle und legten Opfergaben an den Altar? Gab es nicht Feste, auf denen getanzt wurde, gelacht und gemeinsam gegessen? Wieso ist dies alles vergangen, wieso bleiben die Menschen in ihren Dörfern und sind so weit weg von Tara, Orahan und Abona? Haben die Zeiten sich so sehr geändert?

      Und als ob mit der Verehrung der Menschen die Kraft ausbliebe, wurden auch die Visionen und Gesichte rar. Hatten die Götter sich abgewandt, sprachen sie immer seltener und nur noch zu ganz wenigen Auserwählten?

      Trauer erfasste Tamogante. Sie hatte ein Zeichen erwartet, doch das Wunder blieb aus. Voller Demut kauerte sie sich vor die Felswand, konzentrierte sich ganz auf ihr Inneres, horchte in sich hinein. Ihre Finger ertasteten die Zeichen im Fels, fuhren die Spiralen und Kreisbahnen entlang. Ganz außen rechts und links hatte sie begonnen und Bewegungen vollzogen, die aussahen, als wäre sie ein Vogel und ihre Arme Flügel. Dann wurden die Kreisbahnen immer enger und steuerten den Mitten zu. Schließlich hielt sie inne. Sie war an beiden Endpunkten angelangt. Ihr Atem stockte.

      Das ist es, spürte sie, ganz deutlich spürte sie es: Was wir brauchen, ist Ruhe und Harmonie. Einen König, der für den Zustand des Gleichgewichts sorgt nach innen und außen. Nach außen? Was sollte dies bedeuten? Gab es noch etwas außerhalb der Insel, das sie nicht kannte?

      Eine fremde, unheimliche Macht griff plötzlich nach ihrem Herzen, presste es und hielt es schmerzhaft umklammert. Tamogante verlor das Bewusstsein.

      Als sie wieder zu sich kam, spürte sie ihr Herz noch immer brennen, aber dumpfer und weniger schmerzhaft. Sie lag vor den Felsen dicht bei der Quelle, und die Sonne stand hoch am Himmel. Mühsam richtete sich die alte Heilfrau auf. Dabei entdeckte sie vor dem Altar eine kleine weiße Flaumfeder, die vorher nicht dort gelegen hatte. Mit zittrigen Fingern nestelte sie ihren Kultbeutel auf und steckte die Feder hinein.

      «Beschütze mich, Tara», flüsterte sie, «gib mir Kraft, Orahan, lasst mich euer Werkzeug sein, um noch einmal Abona zu tun.»

      An der Quelle trank sie vom heiligen Wasser, bedankte sich und machte sich dann auf den Rückweg. Langsam schritt sie voran, einen Fuß vor den anderen setzend. Der Lauf der Kraft wollte ihr nicht mehr gelingen. Erneut nahm sie den Saumpfad, bog aber diesmal kurz nach der Hochweide ab und stieg hinunter nach Tixarafe ins Tal.

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      Nachdem sich das Volk zerstreut hatte, die Stämme in ihre Gebiete abgezogen waren, blieben nur noch die Häuptlinge, die Feycans und die weisen Frauen im Tagoror zurück. Lange dauerte das Palaver, endlose Tage und Nächte. Und wie Tamogante vorausgesehen hatte, war der Ratskreis in unterschiedliche Lager zerfallen. Die Häuptlinge des Südens hatten sich auf die Seite von Ayucuahe geschlagen, die des Ostens schwankten zwischen Tanausú und Mayantigo, und für Atogmatoma sprachen nur Bediesta und Temiaba aus dem hohen Norden.

      «Er wird ein würdiger Nachfolger Madangos sein», sagte Bediesta, den sie auch Felsenschulter nannten, weil seine Ausdauer im Steineheben und -werfen sprichwörtlich war. «Der Feycan von Tixarafe hat beim Tanz die Stimme des Guayote gehört, wir alle spürten die Erde beben. Warum geschah das nur bei seinem Tanz, und danach nicht mehr, als unsere Feycans an der Reihe waren? Ist dies nicht ein deutliches Zeichen, dass der Stamm von Hiscaguan und Tixarafe erneut den Hochkönig stellen soll?»

      «Du sprichst für Atogmatoma, als würde er nicht nur Häuptling seines, sondern bald auch deines Stammes sein», höhnte Mayantigo aus dem Aridane-Tal. «Gibst du so rasch deinen Anspruch auf?»

      «Unsinn», antwortete Bediesta, «unsere Stämme leben seit langem in Frieden, tiefe Schluchten trennen unsere Gebiete und legen auf natürliche Weise die Grenzen fest. Von was redest du also? Nein, worauf es mir ankommt ist, dass der Beste von uns auf den Thron kommt, und das ist nach meiner unumstößlichen Meinung nun einmal Atogmatoma.»

      «Man könnte es durch einen Wettkampf entscheiden», sagte Mayantigo. «Ich glaube allerdings, dass viele dabei den kürzeren ziehen würden. Wann hast du das letzte Mal Steine gestemmt, Felsenschulter? Stimmt es nicht, dass es lange schon her ist, weil dich seit einiger Zeit die Gicht plagt?»

      Bediesta verzog angewidert das Gesicht. Bevor er etwas antworten konnte, fiel Ugranfir, der Feycan aus dem Vulkankessel, der ein eifriger Fürsprecher Tanausús war, ein: «Alle Häuptlinge der Insel besitzen besondere Fähigkeiten, die sie auszeichnen und ehren, darüber besteht keine Frage. Ich gebe aber eines zu bedenken und wiederhole es mit großem Ernst: Nur im Krater steht der Idafe, der Heilige Berg der Guanchen, der beseelt ist und zu gewissen Zeiten mit den Menschen spricht. Wer anders als der Hüter des Berges, der mutige, furchtlose Tanausú, käme daher als König in Frage? Wenn du unbedingt einen Kampf willst, Mayantigo, dann miss dich mit ihm …»

      «Ja, kämpfe mit ihm!» rief Gareagua von Tigalate. «In früheren Zeiten wurde die Wahl des Hochkönigs stets durch einen Wettkampf entschieden.»

      «Es gibt Dinge, die wichtiger als Kraft und Geschicklichkeit sind», sagte Temiaba von Tagalguen, «zum Beispiel Klugheit und Gerechtigkeitssinn.»

      «Willst du damit andeuten, dass wir dumm und ungerecht sind?» brauste Mayantigo auf. «Hüte deine Zunge, Mann aus dem Norden, der du ohnehin die besseren Weideflächen besitzest. Deine Ziegen und Schafe sind fett vom satten Grün deiner Berghänge, der Wind schickt dir reichlich Wolken und Regen …»

      «Und Stürme im Winter, die unberechenbar sind», unterbrach Temiaba. «Nicht jeder lebt so geschützt wie dein Stamm im Aridane-Tal, das weder kalte Winter noch heiße Sommer kennt. In eurer Bucht fangen bereits die Kinder fette Fische, ohne sich anstrengen zu müssen, während das bei uns wegen der wilden See ein Wagnis darstellt. Gut Reden hast du, reicher, sorgenloser Mayantigo. Wann hat dein Stamm jemals Hunger verspürt?»

      «Beruhigt euch», versuchte eine Heilfrau aus dem Süden zu beschwichtigen. «Mit bösen Worten kommen wir einfach nicht weiter. Was wir brauchen, ist ein deutliches Zeichen, das alle verstehen.»

      «Und was schlägst du vor?» fragte Ugranfir.

      «Abzuwarten, was uns Tamogante zu sagen hat.»

      «Wo ist sie eigentlich?» riefen mehrere durcheinander. «Wo steckt sie?


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