Tanausú. Harald Braem
darauf nicht. Sie stand auf, trat aus dem Kreis und deutete statt dessen wortlos mit der Hand in Richtung der nördlichen Hänge. Alle sahen von dort die Gestalt einer alten Frau herankommen. Gebeugt schritt Tamogante, aber als sie näher kam, richtete sie sich auf. Stolz trat sie in den Kreis. Sie blickte sich um, als käme sie von sehr weit her und erkenne erst nach und nach die Gesichter im Tagoror. Dann ließ sie sich auf einem freien Steinsitz nieder.
Es war ruhig im Kreis, die Versammelten warteten darauf, dass sie sprach. Aber die alte Medizinfrau regte sich nicht, kein Wort kam von ihren Lippen. Sie saß starr und sah aus, als würde sie auf etwas lauschen, doch niemand außer ihr vernahm einen Ton.
Plötzlich erhob sie sich und entnahm dem Kultbeutel an ihrem Gürtel eine weiße Flaumfeder. Die hob sie hoch, hielt sie vor ihren Mund und blies sie an. Senkrecht stieg die Feder auf, wurde vom Wind erfasst und über den Köpfen der Anwesenden zum Tanzen gebracht. Es ging alles sehr schnell. Die Feder tanzte in der Luft, dann wurde sie von einem Windstoß gepackt und zu Boden getrieben. Genau vor Atogmatomas Füßen blieb sie liegen.
«Heb sie auf», sagte Tamogante.
Der zukünftige Häuptling von Tixarafe und Hochkönig der Insel starrte fassungslos auf die Feder. Zögernd bückte er sich nach ihr. Dann, als er sie in der Hand hielt, straffte sich seine Haltung merklich. Er richtete sich auf und zeigte allen die Feder. Ernst und Stolz lagen auf seinem Gesicht, als er sie sich ins Haar steckte.
«Ayiiieeeh!» schrie Bediesta gellend und sprang auf die Füße. Einige der Feycans und mehrere Häuptlinge folgten seinem Beispiel. Mayantigo, Ayucuahe, Tanausú und ihre Vertrauten blieben sitzen.
«Was ist?» fragte Tamogante. Streng blickte sie einen nach dem anderen an. Der Ausdruck ihres Gesichts duldete keinen Widerspruch. Sie war nur eine alte Frau, aber die ranghöchste aller Harimaguadas. Stets hatten sich die Häuptlinge ihrem Willen gebeugt.
Jetzt standen auch die auf, die bis zuletzt sitzen geblieben waren. Zögernd Mayantigo, widerstrebend Tanausú. Besonders ihm war anzusehen, dass er mit der Entscheidung alles andere als einverstanden war. Er stand auf, wie das Gesetz es befahl, aber er schwieg mit zusammengepresstem Mund. In diesem Kreis würde kein einziges Wort mehr über seine Lippen kommen, schwor er sich. Er schätzte zwar die alte Heilfrau, aber sein Vertrauen in Atogmatoma war nicht sonderlich groß. Diesem Schwächling von Hochkönig würde er niemals den Treueid leisten, lieber würde er den Feierlichkeiten fernbleiben.
Tanausú verneigte sich kurz vor der alten Frau. Dann schritt er stumm aus dem Kreis. Ugranfir und die Vertrauten folgten ihm. Alle bekamen das mit, aber niemand wagte über den Missklang zu sprechen. Auch Tamogante erwähnte den Vorfall später mit keinem Wort.
Sie war froh, dass das Orakel entschieden hatte, und über die Wahl Atogmatomas auch. Dennoch nagten Zweifel an ihr. Besonders eindrucksvoll war das Zeichen nun wirklich nicht zu nennen – eine weiche, schwache Flaumfeder hatte über das Schicksal der Insel entschieden …
Weit im Norden, in jenem fernen Land Spanien, bahnten sich zur gleichen Zeit Ereignisse von großer Tragweite an.
Man schrieb das Jahr des Herrn 1492. Das einst in viele Kleinstaaten zersplitterte und von langen Kämpfen gegen die Araber erschütterte Land war durch die Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragon als Staatswesen gefestigt worden, weshalb man die beiden nun die «Vereinigten Könige» nannte. Die christliche Reconquista hatte viel Land hinzugewonnen, die Mauren aus dem Süden endgültig vertrieben, ihre letzte Hochburg Granada genommen und sogar Teile von Nordafrika erobert. Das Glück war unbestreitbar den Katholischen Königen hold, es ging aufwärts mit der Krone, Spanien reifte zur Weltmacht heran.
Isabella und Ferdinand weilten in diesem schicksalsschweren Jahr 1492 in ihrer Residenz Santa Fé. Vor kurzem hatte ein merkwürdiger Mann bei ihnen um Audienz ersucht und sie auch erhalten, ein gewisser Cristoforo Colombo, der von den Spaniern seines schwer aussprechbaren Namens wegen Cristóbal Colón genannt wurde. Ein Seefahrer und Abenteurer, ein Besessener, der, von missionarischem Eifer erfüllt, davon sprach, einen neuen, bisher nie gewagten Seeweg nach Indien finden zu wollen. Und was hatte er dem erlauchten Paar alles erzählt und versprochen: dass er dank seiner Studien in Florenz beim Kosmographen Toscanelli und seinem Lehrer, dem Kardinal Pierre d’Ailly, das Imago mundi, das Bild der Erde besser als jeder andere Sterbliche kenne, genaue Karten für seine Entdeckungsreise besäße und die Weltkugel in westlicher Richtung umrunden wolle, dass es dort in jenem unbekannten Teil Indiens unglaublichen Reichtum gäbe, Schätze, wie sie das Herrscherpaar niemals zuvor gesehen habe, und dass nur er allein, Cristóbal Colón, diese waghalsige Reise zu meistern imstande sei.
Schon viele Jahre war er mit diesem Plan hausieren gegangen, aber stets vom Königshaus abgewiesen worden. Andere, wichtigere Probleme galt es zu lösen. Nun endlich hatten Isabella und Ferdinand zugestimmt und ihm die Mittel für seine Expedition bewilligt, drei Schiffe, Seeleute, Soldaten und Waffen nebst der Zusicherung, er könne sich dort, sofern er die Überfahrt schaffe, Vizekönig von Spanien nennen. Mochte der lästige Mann seinen Willen haben, vielleicht stimmten seine Berechnungen ja doch und brachten der Krone unerwarteten Gewinn …
Wenige Wochen nachdem dieser Cristóbal Colón begeistert und freudestrahlend davongelaufen war, stand schon wieder ein Bittsteller vor der Tür. Diesmal aber kein unbekannter Spinner und Träumer, sondern ein Mann, den man ernst nehmen konnte, ein berühmter, hochdekorierter Soldat: der achtbare Alonso Fernández de Lugo, der Held von Gran Canaria und Kommandant der dortigen Festung Agaete. Gobernador de la Conquista Adelantado mayor de Canarias durfte er sich nennen, seit er zum Statthalter der besetzten Kanarischen Inseln aufgestiegen war. Was wussten die Katholischen Könige über ihn? Dass er in der armen Provinz Lugo in Galicien geboren war, aber inzwischen als geachteter Bürger der Stadt Sevilla galt, dass seine militärische Laufbahn mit dem Krieg um Granada und der Einnahme der Alhambra begonnen hatte und durch die Eroberung von Gran Canaria unter dem Befehl der Generäle Juan Rejón und de Vera ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte.
Seit auf Gran Canaria Ordnung herrschte und die unterworfenen Guanchen keinen Aufstand mehr wagten, verwaltete Alonso de Lugo die Ländereien, die man ihm bei der Verteilung des Landes zugesprochen hatte. Das Königspaar wusste nur zu gut: Dieses ruhige Leben konnte einen Mann, der von frühester Jugend an den Umgang mit Waffen gewöhnt war, nicht lange befriedigen. In seinem Schloss hatte er immer wieder darüber nachgegrübelt, wie man die letzten beiden noch freien Kanaren-Inseln, La Palma und Teneriffa, erobern und der Krone unterstellen konnte. Diese Inseln und ihre Eingeborenen waren gefürchtet, weil sie sich jeglichem Zugriff entzogen. Alle Invasionsversuche waren bisher an dem heftigen Widerstand der Wilden gescheitert und hatten nur Verluste an Geld und Menschenleben eingebracht.
Aber in de Lugo brannte der Ehrgeiz, die rebellischen Inseln forderten ihn regelrecht heraus, sie stellten für einen Haudegen und Strategen wie ihn die richtige Aufgabe dar. Also brach er nach Santa Fé auf, um die Krone zu bitten, ihm den Oberbefehl für das geplante Unternehmen zu erteilen.
Alonso Fernández de Lugo war eine stattliche Erscheinung, stets in feinste Stoffe nach der neuesten Mode gekleidet und elegant in seinem Auftreten. Bei seinen Freunden galt er als Draufgänger, bei seinen Feinden als skrupelloser Frauenheld, Spieler und Intrigant. Auch die Königin musste zugeben, dass sein Charme, seine hochgewachsene Gestalt, das dichte schwarze Haar und die dunklen, feurigen Augen nicht ohne Wirkung auf sie blieben. Besonders als er nun seinen Hut zog und mit Grandezza einen solchen Bogen zur Seidenschärpe damit beschrieb, dass die federgeschmückte Krempe fast den Boden berührte. Bei der Verbeugung mit dem angedeuteten Kniefall klirrte sein Degen hell gegen die Marmorkacheln.
Ferdinand spürte Isabellas gesteigerte Aufmerksamkeit sofort, ließ sich aber nichts anmerken. Ohnehin schätzte er seine Gemahlin nicht sonderlich, hatte sie nie geliebt, sondern lediglich dem Druck beider Familien und der Berater am Hofe nachgegeben und der nützlichen Zweckheirat zugestimmt. Was dieser tapfere Soldat aber zu berichten wusste, interessierte auch ihn.
Gleich nach der Zeremonie der langatmigen Begrüßungsfloskeln stellte er seine Fragen.
«So, La Palma wollt Ihr für die Krone