Tanausú. Harald Braem

Tanausú - Harald Braem


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Kraft besaß.

      «Dann bringt jetzt das Pulver aus Kiefernholz und Heidekraut und mischt es mit dem Bimsstein», sagte Tamogante. «Sind die Ziegenfelle bereitgelegt?»

      «Ja», antworteten die Mädchen und beeilten sich, das Gewünschte herbeizuschaffen.

      Jetzt musste in den präparierten Leichnam das Pulver eingefüllt werden. Nur so gelang es, den Prozess der Verwesung aufzuhalten. Später würden sie ihn in die Ziegenhäute wickeln und die Felle mit dem Harz des Drachenbaums verkleben. Schicht um Schicht musste das gemacht werden, fünfzehn Mal, bis die Mumie ihre neue Haut besaß und die Reise ins Schattenreich antreten konnte. Danach, am dreißigsten Tag, würde sie zur Grabkammer gebracht, wo die anderen Ahnen des Stammes ruhten. Dort, auf ein Drachenholzbrett gebunden, mit dem Kopf nach Norden, den Füßen nach Süden, würde der tote König ruhen, bis die Zeit anbrach, in der die Ahnen zu neuem Leben erwachen und zum Stamm zurückkehren würden. Aber das konnte noch lange dauern, viele hundert Jahre oder mehr, vielleicht bis zu jenem Zeitpunkt, den die Mythen den ältesten und zugleich auch den jüngsten Tag nannten.

      Viel hatte Tamogante von ihren Vorgängerinnen im Amt gelernt und an die Mädchen weitergegeben. Die meisten von ihnen blieben nur zwei, drei Sommer lang bei ihr in der Lehre und gingen dann in ihre Dörfer zurück, um als Medizinfrauen zu wirken. Oder sie heirateten tüchtige Krieger und brachten ihr Wissen als nicht hoch genug einzuschätzende Mitgift in die Ehe ein.

      Aber es gab auch Harimaguadas, die länger im Bergkloster blieben, manche für immer. Wie Agora, die gute Seele. Sie war nicht mehr die jüngste und besaß das zweite Gesicht: Sie konnte die Gedanken anderer Menschen lesen. In Tamogantes Abwesenheit leitete sie das Kloster, eines Tages würde sie ihre Nachfolgerin werden.

      Die alte Medizinfrau saß in der Abendsonne und lächelte still vor sich hin. Sie dachte an die vielen Jahre, die sie hier oben in der Bergeinsamkeit verbracht hatte, an die guten und auch an die schlechten Zeiten, wo es Vulkanausbrüche, Brände oder strenge Winter mit Schnee gegeben hatte, in denen die Vorräte knapp wurden und der Hunger ein ständiger Begleiter war. Als junges Mädchen war sie ins Kloster gekommen, um in die Geheimnisse des Heilens, des Orakelbefragens und Hellsehens und die Kunst des Mumifizierens eingeweiht zu werden. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie damit verbracht, die Natur zu beobachten und darauf zu warten, dass Abona entstand. Wenn das Wirken von Tara, dem weiblichen Prinzip, und von Orahan, der männlichen Kraft, zusammentreffen, dann entsteht daraus etwas Neues, dann wird Abona, das Leben, geboren. Überall war die Anwesenheit von Tara, der großen Erdmutter, zu sehen, in jedem Stein, jeder Pflanze, jedem Tier und auch im Menschen. Orahans männliche Kraft dagegen war unsichtbar, nur zu spüren, durchwehte den Himmel, lebte im Wind, trieb das Wasser von der Quelle zu Tal und ins Meer. Wirkten beide zusammen, paarten sich Tara und Orahan, dann schufen sie Abona, das Leben. Und alles, was Abona besaß, war richtig und gut.

      Abonas Gegenspieler war der Guayote, der Dämon aus dem Vulkan. Vor ihm musste man sich in Acht nehmen, seine vielfältigen Erscheinungen ständig im Auge behalten, denn der Guayote war schlau und gerissen. Er konnte sich tarnen und selbst in scheinbar harmlos aussehenden Situationen auftauchen, um Unheil zu stiften. Verkleidet kam er und leise, wie ein Dieb in der Nacht, um Abona zu stören. Ewig lagen Abona und der Guayote im Kampf.

      Dies besonders, das Wirken der Prinzipien und wie sie in der Natur unterschiedliche Gestalt annahmen, galt es für die Harimaguadas zu lernen. Und Tamogante hatte lange beobachtet und studiert. Würde es nach ihr jemals wieder eine so erfahrene Heilfrau geben wie sie? Tamogante lachte. Natürlich! Agora zum Beispiel und andere der Mädchen besaßen gute Ansätze, die gleichen Fähigkeiten zu entwickeln. Sie war keine Ausnahme, kein besonderes Wesen, nur ein Teil des großen, ewig währenden Spiels, das formte, wuchs und verging, wieder und immer wieder in andere Gestalten schlüpfte. Ja, sie hatte nur ihre Pflicht getan, das Kloster befand sich in gutem Zustand, eigentlich konnte sie jederzeit fortgehen, um anderen Platz zu machen, die den großen Plan fortführen würden. Nein, noch nicht ganz … Zuvor galt es noch, einen Mann zu finden, der würdig genug war, um als Hochkönig über Benahoare zu wachen.

      «Ich muss hinunter ins Tal», sagte Tamogante zu Agora und den Mädchen, «die Häuptlinge sind im Tagoror von Tixarafe versammelt, um eine wichtige Entscheidung zu treffen. Wie ich die Männer kenne, reden sie schon tagelang über die Sache, ohne eine Lösung zu finden. Möglicherweise streiten sie sogar schon, weil keiner von ihnen den richtigen Weg findet.»

      «Kennst du ihn denn?» fragte Agora.

      «Nein», antwortete Tamogante lachend, «aber vielleicht kann ich dabei helfen, ihn zu sehen. Was würdest du an meiner Stelle tun?»

      «Auch ich würde gehen», antwortete Agora, «einfach gehen, nicht suchen, mehr spüren.»

      Die beiden Frauen umarmten sich herzlich.

      «Genau das werde ich tun», sagte Tamogante, «und ich hoffe, es ist gut so. Nun muss ich aufbrechen, schon greifen die Schatten von den Bergen nach mir.»

      Leichtfüßig, als habe ihr Körper sein hohes Alter vergessen, lief Tamogante ins Tal.

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      Aber sie lief nicht nach Tixarafe, sondern bog, einer plötzlichen Eingebung folgend, am alten Saumpfad nach Norden ab. Dieser Weg führte unterhalb des Kraterrandes entlang und lag noch im warmen Licht der Abendsonne. Eidechsen stoben vor ihren Füßen auf, ein neugieriger Falke folgte ihr, doch Tamogante achtete nicht darauf. Sie lief im Lauf der Kraft, mit vorgebeugtem Oberkörper und pendelnden Armen. Diese Art der Fortbewegung strengte am wenigsten an und führte rasch vorwärts. In dem Kiefernwald spürte sie die Schattenkühle nicht, dann stieg der Pfad langsam an. Unterhalb des Freundschaftsberges wich der Wald zurück und machte dorniger Buschweide Platz. Es gab viele Steine hier, ein Gewirr flechtenüberwachsener Felstrümmer, in dem man sich hoffnungslos verirren konnte, wenn man die spärlichen Zeichen am Boden nicht sah: abgeknickte Halme, trockener Ziegenkot und Hufspuren. Die Herden zogen hier entlang, und wohin ihre Wege führten, dort lag mit Sicherheit eine Wasserstelle.

      Tamogante brauchte kaum auf den Boden zu achten. Ihr Körper lief automatisch, fand von selber den Weg. Jenseits der Hochweide fiel der Pfad spürbar ab und führte in jenes Tal hinein, in dem die heilige Dornbuschquelle La Zarzita lag. Die Sonne stand inzwischen dicht über dem Meer und schickte sich an, in die orange-roten Wasser einzutauchen. Sie machte die langen Schatten noch länger, hüllte die Welt zusehends in Dunkelheit ein. Tamogante beeilte sich, um mit dem Verlöschen des letzten Sonnenstrahls die kleine Höhle an der Dornbuschquelle zu erreichen. Ziegenfelle lagen hier im Versteck bereit. Tamogante hüllte sich in sie, rollte sich zusammen und schlief sofort ein, traumlos und tief.

      Ein vielstimmiges Vogelgezwitscher weckte sie auf. Von Leben erfüllt war die kleine Schlucht, jeder Grashalm, jedes Blatt schien sich in der Sonne zu räkeln, und bunte Schmetterlinge tanzten über den Blumen. Es war ein wunderschöner Morgen, Tamogante liebte diese Stunde besonders. Sie streckte sich ausgiebig, schlüpfte aus den Fellen, rollte sie zusammen und trat vor die Höhle. Es waren nur wenige Schritte bis zu dem Gehölz, das eine Senke umstand. Dort im grünen Dunkel des zitternden Blattwerks murmelte die Quelle und schickte ihr Nass ins Tal hinunter. Tamogante beugte sich darüber und schöpfte mit den Händen das Wasser. Es schmeckte erfrischend kühl. Sie wusch sich das Gesicht und die Arme. Danach richtete sie sich auf und betrachtete die graue, schrundige Felswand am Rande der Quelle.

      Das Gestein war über und über mit eingekerbten Zeichen verziert, wie tätowiert sah der Fels aus. Spiralformen und konzentrische Kreise bildeten das Hauptmotiv, waren vielfältig miteinander verflochten und teilweise zu endlosen Mustern graviert. Aber es gab auch konkrete Darstellungen dazwischen – den Körper der großen Erdmutter Tara mit insektenartigem Kopf, hängenden Brüsten und einem wellenliniengeschmückten Glockenrock. Links von ihr befand sich der in den Stein gehauene Altar, daneben die Darstellung eines Labyrinths und rechts davon der Kopf eines Kriegers mit Halsschmuck und weitauslaufender Federhaube. Er stellte Orahan, die männliche Schöpferkraft, dar. Zunächst ging Tamogante zum Altar und rückte die Tonfigürchen zurecht, die in den einzelnen Nischen standen. Dann kniete sie nieder. Ihre Gedanken richteten sich an die große Erdmutter, lautlos formten


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