Tanausú. Harald Braem
ist eigentlich der tote König?» fragte er.
«Da oben», sagte Adargoma und deutete mit der Hand auf einen Felshang oberhalb des Dorfes. «Wenn alle eingetroffen sind, morgen wahrscheinlich, ziehen wir zu ihm hinauf.»
Der Tag verging damit, dass ununterbrochen neue Besucher ankamen, sogar von Tigalate und vom Teneguía, ganz weit im Süden der Insel. Nach und nach trafen die Häuptlinge der zwölf Stämme ein. Bencomo sah sie alle aus nächster Nähe. Sie saßen mit ihren Beratern und Feycans im Tagoror, der jetzt von den Leuten des Dorfes geräumt war. Viele weitere Feuer wurden am Abend entzündet, der ganze Hang von Tixarafe war von ihrem Lichtschein erhellt. Als die Nacht anbrach, wurden erneut die Gesänge angestimmt. Aus vielen tausend Kehlen tönten die Lieder, ein monotoner Gesang, und die Trommeln schrieben den Rhythmus vor. Die Feycans tanzten dazu, überboten sich gegenseitig. Doch keiner reichte an die Ekstase der Darbietung der vergangenen Nacht heran, als der leibhaftige Guayote den Menschen von Tixarafe erschienen war.
Am Morgen des zweiten Tages wurde es nicht richtig hell. Dicke, regenschwere Quellwolken hingen am Himmel, nur spärlich blakte das Licht der Sonne hindurch. Bencomo fröstelte. Es war frisch in der Morgenkühle, taubedeckt war das Gras. Als er zu den bewaldeten Bergen blickte, die den äußeren Rand des großen Kraters umkränzten, sah er dort einen riesigen Schwarm Krähen schweben. Es schien, als würden auch sie sich versammeln, wie die Menschen. Waren das Seelenvögel, hatten die Geister der Ahnen Gestalt angenommen, um als Krähen die Zeremonien der Lebenden zu überwachen?
Als die Leute zur Felsplattform aufbrachen, auf der der Leichnam Madangos aufgebahrt lag, reihten sich Bencomo und Mazo in den Zug ein. An der Spitze ging Tamogante, begleitet von den Seherinnen und Harimaguadas der anderen Stämme. Es folgten die Feycans und die alten, ehrwürdigen Krieger, dann erst die jungen und das übrige Volk. Die Häuptlinge schritten nicht mit im Zug. Am vergangenen Abend waren sie vorausgestiegen, um die Nacht über bei ihrem toten Hochkönig Wache zu halten. Als die Menge auf der Plattform eintraf, hockten sie dort im Kreis. In ihrer Mitte war aus Kiefernstämmen und dem Holz von Drachenbäumen eine Art Thron errichtet, auf dem Madangos Körper ausgestreckt lag. Jeder der Ankömmlinge trat in den Kreis und berührte ihn. Stundenlang dauerte die Prozession, bis auch der letzte Guanche Abschied von Madango, dem großen, weisen König, genommen hatte. Als Bencomo an der Reihe war und vortrat, um den Holzstoß zu berühren, sah er, dass die Haut des Toten mit roter Farbe aufgefrischt war. Das war zu Pulver zermahlener Blutstein, wie er an manchen Stellen der Insel vorkam. Das Blut der Erde, das Blut der Erdmutter oder kurz Taras Blut nannten die Alten diesen Stoff. Er war heilig und durfte nur zu bestimmten Anlässen verwendet werden. Die Häuptlinge selbst hatten ihn im Mörser gestampft, in der Steinmühle zermahlen und das bleiche Gesicht ihres verstorbenen Herrschers damit geschminkt. In der geschlossenen rechten Hand hielt Madango einen Bumerang, der magische Bedeutung besaß, in der linken eine tönerne Tarafigur, von der nur noch der längliche Hals mit dem kleinen Kopf zu sehen war.
Bencomo sah den Leichnam fest an, kniff die Augen zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, dass sich der steife Körper etwas bewegt hatte. Und eine Vision überkam ihn: Ich nehme Abschied von einem bedeutenden Herrscher. Mit ihm geht eine Zeit unaufhaltsam zu Ende und wird niemals wiederkehren. Wie ruhig er daliegt – so ruhig, wie er regiert hat. Nach ihm wird alles verändert sein, aufgeregt und in Bewegung …
Die Vision verblasste, Bencomo trat einen Schritt beiseite, um dem ihm Nachfolgenden Platz zu machen.
«Was geschieht jetzt weiter?» flüsterte Mazo fragend.
«Keine Ahnung», antwortete Bencomo. «Wenn ich es wüsste, wäre ich nicht ich, sondern so weise und hellsichtig wie Tamogante …»
Die Gedanken der alten Heilfrau waren nicht frei von Sorgen. Für sie und ihre Helferinnen brach eine anstrengende Zeit an. Zunächst musste der Leichnam des toten Königs zum Höhlenkloster in die Berge geschafft werden. Dafür waren vier Krieger als Träger zuständig, aber sie durften nur bis zum Vorplatz der Höhlen gehen. Das Kloster dahinter mit seinen labyrinthartigen Gängen und Kammern, die wie jBienenwaben im Fels klebten, war für sie absolut tabu. Nachdem sie umgekehrt waren, begann für Tamogante und die Harimaguadas der Prozess des Einbalsamierens. Dreißig Tage dauerte diese Arbeit, erst dann konnte die Mumie des Königs zur Grabkammer gebracht werden.
Aber dies war nicht Tamogantes einzige Aufgabe. Die Insel durfte keinesfalls dreißig Tage lang ohne Herrscher bleiben. Wie leicht hätte in dieser Zeit ein Konflikt zwischen den zwölf Stämmen ausbrechen können. Jeder der Häuptlinge strebte nach Anerkennung, es musste also möglichst schnell eine Entscheidung fallen und ein neuer Hochkönig gewählt werden. Zwar kürten ihn die Häuptlinge, sie mussten den besten und mutigsten aus ihren Reihen finden, um ihn auf den Thron von Benahoare zu setzen. Aber die weise Medizinfrau wusste genau, dass diese Wahl nicht problemlos vonstatten gehen würde, zu viel Ehre und Ansehen standen auf dem Spiel. Und so fiel ihr eine Schlüsselrolle zu. Sie hatte auf die Zeichen zu achten, auf eine Vision, ein Gesicht, wodurch die Götter ihre Entscheidung kundtun würden.
Da war Madangos Nachfolge als Häuptling von Hiscaguan und Tixarafe schon leichter. Tamogante lebte schon lange im Gebiet dieses Stammes, sie kannte die Krieger genau und konnte fast ihre Gedanken lesen. Sie würden sich für Atogmatoma entscheiden, der sich durch Klugheit, Besonnenheit und ein natürliches Talent für Diplomatie auszeichnete. Ja, Atogmatoma würde eine gute Wahl sein, da war sie sich sicher.
Aber schwierig war es, einen Hochkönig zu finden, der mit der Sympathie aller Stämme rechnen konnte. Mindestens drei der Häuptlinge waren über die Grenzen ihres Stammesgebietes hinaus bekannt und berühmt: der alte, listige Mayantigo aus dem Aridane-Tal, Ayucuahe, der am Vulkan Teneguía lebte, wo sich eine wundersame Heilquelle befand, und Tanausú vom Kessel des großen Kraters. Tanausú war noch jung und galt als überaus mutig. Von allen Ringkämpfern der Insel war er der erfolgreichste, sein Wort galt, er hielt zuverlässig alle Vereinbarungen ein – und was das wichtigste war: In seinem Gebiet lag der Idafe, der Heilige Berg, der als Weltensäule galt und mit seiner Spitze den Himmel stützte. Tanausú hatte sich letzthin viel Anerkennung bei der Eindämmung eines verheerenden Waldbrandes erworben, der vor zwei Jahren am Kraterrand gewütet und sich auf die Gebiete anderer Stämme auszuweiten gedroht hatte. Was gegen ihn sprach, war die Neigung, leicht in Zorn zu geraten und in seiner Wut manchmal keine Grenzen zu kennen. Viele fürchteten Tanausú deshalb. Konnte man einen solchen Mann zum Hochkönig der Insel machen? Tamogante grübelte lange hin und her. Sie gab den Mädchen ihre Anweisungen, kontrollierte sorgfältig alle Arbeitsgänge der Mumifizierung, aber ihr Geist fand keine Ruhe, kam stets wieder auf die anstehende Wahl zurück. Vielleicht waren die drei, Mayantigo, Ayucuahe und Tanausú auch zu ähnlich in ihrer Art, sich in vielem zu ebenbürtig, vielleicht musste ein ganz anderer, ein neuer Mann an diese Aufgabe herangeführt werden. Warum eigentlich nicht Atogmatoma? Gegen ihn sprach eigentlich nur, dass er wie sein Vorgänger aus Tixarafe stammte, was eine eindeutige Bevorzugung dieses Gebietes darstellte und die übrigen Stämme brüskieren konnte.
Es muss eine Lösung geben, dachte Tamogante, ich benötige unbedingt eine Vision, ein klares Zeichen, das meine Zweifel zerstreut …
«Ich habe den Bimsstein zerrieben.» Eine der Harimaguadas stand vor der Medizinfrau und hielt ihr eine Tonschale mit feinem, grauem Staub hin.
«Gut», sagte Tamogante, aus ihren Überlegungen erwachend. Sie saß auf der sonnenbeschienenen Plattform vor den Höhlen und merkte erst jetzt, dass die jungen Mädchen sie umringten. Schön sahen sie aus in ihren hellen Gewändern, wie Blumen der Berge.
«Habt ihr den Leichnam in der vorgeschriebenen Art gewaschen?»
«Ja, wie du es gesagt hast: zweimal am Tag, besonders die empfindlichen Teile, die Stelle zwischen den Fingern, die Achselhöhlen, hinter den Ohren, die Nasenlöcher, Hals und Handgelenke.»
Tamogante hatte am Tag, nachdem der tote König hierher gebracht wurde, eigenhändig mitgeholfen, die Leiche auf flachen Steinen auszustrecken und die Eingeweide zu entnehmen. Jedes Mal nach der Waschung wurde der Körper mit Ziegenbutter eingerieben und mit dem Harz des Drachenbaums, das zunächst farblos war, wenn es aus dem angeritzten