Tanausú. Harald Braem

Tanausú - Harald Braem


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weiter ging er und blieb erst stehen, als er dicht vor ihr stand. Den Blick hatte er nicht gesenkt wie sonst. Sein Herz pochte wild, und das Blut in seinen Adern rauschte so laut wie das Meer.

      Mit einem Mal wurde ihm überdeutlich bewusst, dass sie sich schon geraume Zeit gegenüberstanden. Wie schön Ica war! Die schönste Blume der Insel, und gischtnass ihre Haut, die in der Sonne funkelte, wie von tausend Perlen besetzt. Ich kann wieder nicht sprechen, dachte Bencomo, nur schauen und schweigen wie immer. Aber zu seiner grenzenlosen Überraschung öffnete sich sein Mund ganz von selber.

      «Ich heiße Bencomo», hörte er sich sagen und war erstaunt über seinen Mut.

      Das Lächeln, das er so liebte, verzauberte ihr Gesicht.

      «Ich bin Ica», sagte sie. Bildete er sich das nur ein, oder glitt ihr Blick wirklich zärtlich über seinen Körper?

      Er trat noch einen Schritt vor und streckte die rechte Hand aus. Und Ica, was tat Ica? Sie ließ den Korb von ihrer Schulter gleiten und ergriff seine Hand. Eine ganze Weile standen sie so, blickten sich an und hielten sich an der Hand. Es war ein Stück von der Traumzeit, das plötzlich greifbar geworden war.

      «Was sammelst du da?» fragte Bencomo. «Das können doch keine Lapas sein …»

      «Es sind Steine», antwortete Ica und deutete auf den Inhalt ihres Korbes. «Ich nehme nur die schönsten, die mit weißer und grüner Maserung. Sie kommen aus dem Meer und können Geschichten erzählen – wusstest du das nicht?»

      «Und was tust du mit ihnen?»

      «Ich bringe sie zum Tagoror unseres Stammes, um damit den Boden auszulegen», antwortete Ica. «Im Tagoror, im Kreis der großen Steine, wird Rat gehalten und alles Wichtige besprochen. Es wird aber nicht nur geredet, sondern auch geschwiegen, das ist sehr wichtig, denn in der Stille sprechen die Steine. Deshalb sammle ich die schönsten Steine vom Meer, die von ihm zu berichten wissen. Sie bringen dem Rat unserer Alten Freude und machen ihn noch weiser.»

      «In der Stille sprechen die Steine …», wiederholte Bencomo nachdenklich. Wie recht sie hatte, und wie klug sie darüber sprach. Er hätte nie gedacht, dass ein so junges Mädchen fähig war, einen so großen Gedanken so leichthin auszusprechen.

      «Gehörst du vielleicht zu den Harimaguadas, bist du eine, die aus den Bergen kommt?»

      Ica lächelte und blieb doch ernst dabei. «Noch nicht. Aber ich habe vor, eine Zeitlang bei den weisen Frauen in die Lehre zu gehen.»

      Bencomo fühlte sich plötzlich hilflos und klein. Während ihres Gesprächs war die ganze Welt ringsum für ihn unsichtbar und unbedeutend geworden. Jetzt kam sie mit all ihren Geräuschen zurück. Er hörte die Stimmen der anderen Kinder, das Meer, die Schreie der Seevögel. Und er dachte an Mazo, der immer noch verschwunden war.

      «Ich komme von dort oben, aus Hiscaguan, und lebe im Dorf Tixarafe», sagte er, mit dem Daumen über seine Schulter zur Felswand des Time deutend. «Ich muss gehen.»

      Er drehte sich abrupt um und lief, ohne sich noch einmal umzusehen, zu jenem Steinbuckel zurück, wo die Körbe und die Fischgabel lagen. Dort saß Mazo und blickte ihn mit großen Augen fragend an.

      «Du hast mit ihr gesprochen», sagte er, «und die anderen Kinder waren dabei, ich habe alles gesehen.»

      «Lass uns gehen.»

      «Aber wir wollten doch noch Fische fangen», protestierte Mazo.

      «Jetzt nicht», antwortete Bencomo. «Nicht vor den Augen der anderen. Wir suchen uns eine stille Bucht.»

      «Schade», maulte Mazo, «es hat mir hier gut gefallen. Und Fische gibt es hier auch genug, große sogar. Meinst du, dass es woanders auch so große Fische gibt?»

      «Mehr als genug. Komm jetzt, lass uns gehen.»

      Sie hasteten zum Fuß der Steilwand und überwanden ein paar glitschige, vorgelagerte Klippen. Nach einer Weile drehte sich Bencomo um, aber von der Bucht, von Ica und den Kindern war nichts mehr zu sehen.

      Später, nachdem sie drei Prachtexemplare von Fischen gefangen und im Korb verstaut hatten, machten sie sich auf den Rückweg. Sie kletterten schweigend in den Felsen und kehrten erst am späten Nachmittag heim. Schon von weitem hörten sie im Dorf die Trommeln dröhnen, dazu den Klang des Muschelhorns. Es tönte traurig und langgezogen, wie das sehnsuchtsvolle Rufen eines einsamen Tieres auf See.

      «Was hat das zu bedeuten?» fragte Mazo.

      «Ich weiß es nicht», antwortete Bencomo wahrheitsgetreu. Ein banges Gefühl beschlich ihn, die Ahnung, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Denn die Töne klangen alles andere als fröhlich, sie waren gedehnt und dunkel, etwas Unheimliches schwang darin mit, das nichts Gutes verhieß.

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      Das Dorf Tixarafe bestand aus einer Ansammlung von Steinhäusern, die sich geduckt in die Landschaft schmiegten. Alle waren aus Bruchstein in der typischen Rundform erbaut, die Fugen mit Erde abgedichtet und die Dächer mit Holz, Reisig und Blattwerk gedeckt. Viele der Häuser waren vor den Eingängen kleinerer Höhlen gebaut oder besaßen zumindest eine geräumige Vertiefung im Erdboden, die im Sommer kühl war und zur Lagerung von Vorräten diente. Oberhalb des Dorfes lag der Tagoror, der große Steinkreis, in dem die Versammlungen stattfanden. Ein Feuer brannte in seiner Mitte, und da im Dorf keine Menschenseele anzutreffen war, stiegen Bencomo und Mazo gleich hinauf. Der ganze Stamm war versammelt. Die Männer saßen innen im Kreis, schlugen in dumpfem Rhythmus die Trommeln und sangen dazu. Ihr Lied klang getragen und traurig, es war eine Melodie und ein Text, den Bencomo niemals zuvor gehört hatte. Immer wieder fielen die Frauen, die außerhalb des Steinkreises mit Schalen und Krügen hantierten, an bestimmten Stellen des Refrains mit ihren helleren Stimmen ein, wobei sie ein Heulen und Winseln intonierten, das an den klagenden Ruf eines Hundes erinnerte. Es war ein Gesang zu Ehren des Guayote, des hundsgestaltigen Dämons aus dem Vulkan.

      Bencomo war näher herangetreten, hatte die aufgeregt umher laufenden Kinder beiseite geschoben und trat nun in den Kreis zu den Kriegern. Er sah, dass neben Adargoma noch ein Platz frei war und ließ sich dort nieder. Das Gesicht des Alten war unbeweglich, zur Fratze erstarrt. Mit weißer Farbe hatte er sich bemalt, das Gesicht und den Oberkörper mit Linienmustern und Punkten verziert. Auch die anderen Männer sahen so aus, und immer noch schleppten die Frauen Krüge mit frisch angerührtem Farbbrei heran, während andere am Boden hockten und in Schalen die Kalkbrocken zu Pulver zerstampften und mit Steinmühlen zerrieben.

      «Was ist geschehen?» flüsterte Bencomo.

      «Madango ist tot», gab Adargoma halblaut zurück, ohne den Kopf zu bewegen. Madango, der alte Häuptling des Stammes, der Hochkönig der Insel …

      Jetzt sprang einer der Männer in die Mitte des Kreises, hob das Muschelhorn und blies in die durchbohrte Spitze. Laut und dumpf klang das Signal, als käme es aus der tiefsten Tiefe des Meeres. Als er absetzte und in die Nacht lauschte, klang fern von den Bergen Antwort.

      «Wir rufen die anderen Stämme zusammen», sagte Adargoma.

      «Madango war nicht nur unser Anführer, sondern Herrscher über Benahoare. Ohne König ist nun die Insel, unser Volk voll von Trauer. Horch, der Guayote hat uns verstanden.»

      In der Tat setzte in diesem Moment ein Geheul ringsum ein, das aus vielen hundert Kehlen zu kommen schien. Die Hunde reagierten auf das Signal, schienen die Botschaft, die sich von Berg zu Berg über die ganze Insel fortpflanzte, zu verstehen und gaben sie auf ihre Weise weiter.

      Eine volle Stunde oder länger dröhnten die Trommeln, ging der Klagegesang, wurde immer wieder das Muschelhorn in die vier Richtungen des Himmels geblasen. Dann brach der Lärm abrupt ab. Alle hoben lauschend die Köpfe. Es war plötzlich sehr still ringsum, nur die Zikaden schrillten noch, und ein paar Hunde konnten sich absolut nicht beruhigen. Die Menschen des Stammes, selbst die Kinder, hielten wie erstarrt inne.

      Von ferne, irgendwo aus der Richtung der Cumbre, vielleicht vom Vulkanberg Nambroque, klang ein dumpfes, unterirdisches Grollen.


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