Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi. Kjersti Scheen

Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen


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und flach, mit hartem Gras, das von den Windböen an den Boden gedrückt wurde. Sie wandte sich von den Scheinwerfern der vorbeisausenden Autos ab und ging los. Nach einer Weile machte die Straße eine Kurve und schien schließlich in die richtige Richtung zu führen.

      Irgendwie hatte sie ihr Ziel ein wenig aus den Augen verloren, das Ganze hatte an Reiz eingebüßt. Sie war müde und unkonzentriert, und sie hatte steife Beine. Sie schob die Umhängetasche weiter nach oben, packte die Reisetasche fester und ging unentschlossen auf das zu, was – wie sie hoffte – das Ziel ihrer Reise war.

      Sie durfte jetzt nicht aufgeben, dann würde alles nur noch sinnloser werden. So sinnlos, daß man nicht mal darüber nachdenken mochte.

      Es roch nach Silage.

      Nach Silage und nasser Erde. Der Wind kam in unregelmäßigen Böen. Hoffentlich vom Meer. Die Wellenpferde – oder wie hieß das noch bei Arne Garborg? Ein Brausen lag in der Luft, das vorher nicht dagewesen war.

      Sie stolperte vorwärts, während sie sich an die Wellenpferde zu erinnern versuchte. Sie hatte einmal die Tabitha in Garborgs Stück ›Der Lehrer‹ gespielt und einen heftigen, aber kurzzeitigen Garborg-Tick gehabt. Wie ging sie noch, die Stelle mit dem Meer hier im Westen? Schwarzgrün kommt es in gewaltigen Wogen aus den westlichen Strichen herangewälzt, seine mähnenweißen Wellenpferde aus dem Meeresnebel führend. Und dann irgendwas von dem donnernden, tiefen, ewigen Orgelton aus den fernsten Abgründen. Oh, sie begann das ganze Unternehmen zu bereuen, warum mußte sie auch hinaus zu den Orgeltönen, wo sie doch trocken und gemütlich in der Bar des Hotels Atlantic hätte sitzen können, um auf ein besseres Morgen zu warten?

      Das Elfenland, dachte sie und stolperte wieder, hielt sich aber auf den Beinen. Wer will eigentlich näher zum Meer, wenn es Abend wird und regnet?

      Trotzdem ging sie unverdrossen weiter, schließlich stellte sich eine Art Rhythmus ein, die Absätze ihrer Stiefel knallten auf den Asphalt. Wären Autos gekommen, dann wäre sie per Anhalter gefahren, aber alles war ruhig, die Leute saßen vermutlich zu Hause und sahen fern. Ob sie auch mit geschlossenen Augen gehen konnte? Es tat gut, die Augen ein bißchen zuzumachen, sie war so müde. Direkt vor dem Straßengraben öffnete sie sie wieder. Irgendwo mußte sie eine andere Richtung eingeschlagen haben, oder die Straße hatte eine Kurve gemacht, ohne daß sie es gemerkt hatte, denn jetzt schlug ihr der Wind direkt ins Gesicht. Vielleicht hatte sie sich auf einen Seitenweg verirrt.

      Sehen konnte sie auch nichts mehr.

      Das Brausen des Meeres hatte dagegen ständig zugenommen. Mittlerweile war sie sich vollkommen sicher, daß das Geräusch vom Meer stammte und vom Schlagen der Wellen ans Ufer.

      Und plötzlich hatte sie Sand unter den Füßen.

      Losen Sand, sie kämpfte sich voran, wollte umkehren, aber der Sand war auf allen Seiten, Sand und große Grasbüschel, aufwärts ging es und hin und wieder abwärts, sie hatte die Orientierung verloren, hartes Gras schlug gegen ihre Hosenbeine, und ziemlich feiner Sand wirbelte durch die Luft.

      In dem Moment fiel sie.

      Hinterher saß sie lange mit dem Rücken an die Böschung gelehnt im Sand.

      Es dauerte eine Weile, bis sie sich vom Schrecken erholt hatte. Sie fühlte sich wie zerschlagen, atmete stoßweise und klammerte sich an ihre Umhängetasche. Aber sie traute sich nicht, sie zu öffnen und noch mehr Gummibärchenschnaps zu trinken.

      Es war so schon schlimm genug. Das Knie hatte sie sich auch noch aufgeschlagen.

      Sie wünschte sich verzweifelt etwas Nichtalkoholisches zum Trinken.

      Wasser.

      Und außerdem hätte sie gern eine Taschenlampe gehabt, sie konnte nicht begreifen, wieso es plötzlich dermaßen finster war.

      Das Meer mit seinen Orgeltönen dort draußen – nur nicht daran denken. Der jäh abfallende Meeresboden, der Steilhang unter Wasser, in dieser Gegend gab es keine vorgelagerten Schären, nur diese windgepeitschte Küste im tiefsten Süden des Landes. Es kam ihr vor, als versuchte ganz Norwegen – vom Nordkap bis in den tiefen Süden –, sie mit Nachdruck ins Meer zu schieben.

      Sie grub die Finger rechts und links tief in den Sand und starrte hinaus auf die Wellenpferde, die in der Finsternis an Land galoppierten. Ihr Mund war so trocken, daß sie nicht schlucken konnte.

      Sie mußte zusehen, von hier wegzukommen.

      Sie legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu schauen, von wo sie hinuntergestürzt war. Das sah nicht gerade vielversprechend aus. Die Böschung war zwar nicht sonderlich hoch, dafür aber um so steiler. Sie lehnte sich vornüber und sah nicht aus, als wolle sie sich von unten entern lassen.

      Ihre Augen tränten, und sie wischte sie mit dem Handrücken ab, als sie plötzlich etwas hörte.

      Einen Ruf?

      Sie lauschte mit offenem Mund.

      Da war es wieder. Kam es von draußen? Halbvergessene Bilder von Schiffen in Seenot und umhertreibenden Wasserleichen. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und sie bekam eine Gänsehaut. Da war es schon wieder, dieses Rufen, und ihr wurde klar, daß es nicht vom Meer kam.

      Irgendwo oben in den Dünen waren Menschen.

      Gleich schöpfte sie neuen Mut, da war jemand, sie war nicht allein, da führte einer seinen Hund aus oder war am frühen Abend joggen gegangen. Sie richtete sich auf, schnallte sich die Umhängetasche wenig elegant quer über die Brust und hängte sich die Reisetasche über den einen Arm. Dann nahm sie Anlauf und zog sich mit aller Kraft nach oben, klammerte sich an störrische Büschel von Strandhafer, scharfe Halme, die ihr in die Hände schnitten, hielt sich mit beiden Händen an den zähen Wurzeln fest und spürte, wie Sand und Kies an den Stellen abbröckelten, wo sie mit ihren Stiefeln Halt suchte.

      Mit letzter Kraft wälzte sie sich über den Rand, lag keuchend und kraftlos zwischen den Strandhaferbüscheln, erleichtert darüber, wieder auf festem Boden zu sein. Mühsam stand sie auf. Sie sah niemanden, es war zu dunkel, und die Stiefel glitten noch immer durch losen Sand. Unsicher tastete sie sich auf die Stimmen zu, die vom feuchten Wind zu ihr getragen wurden.

      Plötzlich waren Scheinwerfer zu sehen.

      Ein Stück entfernt. Sie sah einen Parkplatz und zwei Autos, die sich gegenüberstanden. In ihrem gleißenden Licht spielte sich eine Szene ab, die ihr für einen kurzen Moment unwirklich vorkam. Sie ähnelte einem Filmausschnitt, allerdings ohne Ton, denn die Rufe waren verstummt, nur das Donnern der Brandung begleitete die Schläge und Tritte, die auf die Gestalt hinunterhagelten, die zwischen den beiden Autos halb lag und halb kniete.

      Was taten die eigentlich da drüben?

      Ihr Herz machte einen Satz und begann in der Brust wie verrückt zu rasen. Rein instinktiv ließ sie sich auf den Boden fallen, legte sich auf den Bauch, die Stirn gegen den Unterarm gepreßt, dann blickte sie wieder hoch.

      Es sah aus wie eine Bestrafungsaktion.

      Zwei Männer, die abwechselnd Schläge und Tritte austeilten, ein weiterer, der danebenstand und zusah. Aus dem wenigen zu schließen, was sie im Dunkeln ausmachen konnte, handelte es sich um Erwachsene. Es war also keine Auseinandersetzung zwischen Jugendbanden. Das Opfer selbst sah auch nicht jung aus. Der Mann trug zwar Jeansjacke und Jeans, hatte aber schütteres Haar und einen Bart.

      Jetzt lag er flach auf dem Bauch.

      Die beiden Männer, die ihn geschlagen hatten, legten eine Pause ein. Keuchend und mit herabhängenden Armen blickten sie auf ihr Opfer hinunter, dann traten sie noch einmal zu, jeder einmal. Moss glaubte, etwas knirschen zu hören, aber das war natürlich nur Einbildung. Sie hörte nichts als das Meer.

      Jetzt redeten die da drüben miteinander.

      Was sollte sie nur tun, nicht einmal ihr Handy hatte sie dabei. Das Gerät, das sie sich neulich gekauft hatte, mußte defekt sein. Es piepste die ganze Zeit, und sie hatte es zu Hause gelassen. Sie verfolgte die Männer mit den Augen, wie sie die Reißverschlüsse ihrer Jacken zuzogen und die Kragen hochstellten. Es sah aus, als kämen sie aus


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