Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi. Kjersti Scheen

Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen


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      »Ja«, sagte er. Dann kam er langsam ins Zimmer und ans Bett, machte fast eine Art Diener, eine ungeschickte und schiefe Bewegung. »Tut mir leid, das mit dem blauen Auge. Ich bin Tom. Tom Vågevik. Der, dem das Haus hier gehört, heißt Harry. Er kocht Ihnen grad einen Kaffee.«

      Im selben Moment kam der Typ namens Harry herein. Das Geschirr auf dem Tablett klirrte heftig, er war zittriger als die alte Tante Maisen, dachte Margaret Moss beunruhigt. Sie sah, wie er das Tablett auf das Nachtschränkchen stellte. Eine Tasse Kaffee, ein Bierglas und ein Teller mit zwei halben Brotscheiben. Die eine Hälfte mit Jarlsbergkäse und die andere mit Jarlsbergkäse.

      »Danke«, sagte sie matt.

      »Elfrid meinte, ich sollte Spiegeleier braten, aber ich dachte, Ihnen ist vielleicht übel«, sagte der Typ, der Harry hieß, und blickte sie an.

      Ja, im Grunde war ihr ein bißchen übel. Wenn sie genauer darüber nachdachte.

      Sie schloß das gesunde Auge. Das andere war ohnehin geschlossen.

      »Harry ist zur See gefahren«, sagte die Stimme des Jungen. »Er kann gut kochen.«

      »Harry Hesthaug«, sagte Harry und verbeugte sich.

      Sie öffnete wieder das Auge.

      »Ich verstehe gar nichts«, sagte sie.

      »Wir werden Ihnen alles erklären«, sagte er beruhigend. Die Sprungfedern ächzten, als er sich auf die Bettkante setzte. »Geht’s, oder sollen wir warten?«

      »Legt einfach los«, sagte sie schwach und schloß das gesunde Auge erneut. Die Cholerabakterien wüteten schlimmer als je zuvor.

      4

      »It takes a worried man to sing a worried song,

      I’m worried now but I won’t be worried long.«

      Trad.

      Sie waren eine nahezu glückliche kleine Familie gewesen.

      Zumindest für eine Weile.

      Vater, Mutter, Kind.

      Der Vater hatte auf der Rosenbergwerft gearbeitet, die schon bessere Tage gesehen hatte. Aber es waren noch längst nicht alle entlassen, damals, als man sie Rosenbergwerft nannte – und nicht Moss-Rosenberg AG, obwohl das seit 1970 der offizielle Name war, oder Kværner-Industrie, von der die Werft später aufgekauft wurde. Es war, noch ehe man im Unternehmen die Nase so hoch trug, daß sich einer der Kværner-Manager sogar einen privaten Golfplatz in London kaufte.

      Viel früher.

      Als sie, wie gesagt, einfach Rosenbergwerft hieß und die meisten Männer, die dort arbeiteten, am Sund unter dem Brückenbogen wohnten, in der Gegend, die man Varmen nannte.

      »Meine Mutter heißt Arna und kommt von der Insel Karmøy«, sagte Tom, der am Bett saß und Moss betrachtete, während er an seinen blonden Haarsträhnen herumzupfte, als helfe es ihm, konzentriert und klar zu erzählen. »Mein Vater ist ... war ein echter Stavangerjung. Wenn er Mama ärgern wollte, sang er immer: Geborn bin ich in Straen, bin ein echter Jung vom Meer.«

      Arna Vågevik war Hausfrau. Damals hatte es sich ein ordentlicher Metallarbeiter noch leisten können, seine Frau zu ernähren. Dafür hatte der Lohn gereicht. Als Tom 1982 eingeschult wurde, hatte sie nachmittags als Wäscherin gearbeitet, wie Margaret Moss später von Arna Vågevik erfuhr. »Wir hatten uns nämlich grad eine neue Wohnung oben in Tasta gekauft.«

      Als Kolbein 1993 gekündigt wurde, mußte Arna ihr Arbeitspensum erhöhen.

      »Ich hab Glück gehabt und unten im Ort einen Teilzeitjob gekriegt, in der Imbißbude, zusätzlich zum Waschen. Aber nach zwei Jahren haben meine Muskeln gestreikt. Ich wurde krank geschrieben. Immer wieder, 1997 kam ich in die Reha und sollte danach wieder ins Arbeitsleben eingegliedert werden. Aber was nützt so was schon bei einer wie mir? In was sollte ich schon wiedereingegliedert werden?«

      Arna Vågevik blickte Moss an und lachte. Es war kein fröhliches Lachen.

      »Ich bin einfach sitzen geblieben. Und hab geraucht. Und Zeitschriftenartikel über Fibromyalgie ausgeschnitten, falls jemand vorbeikommen würde. Da hatte ich was zum Vorzeigen, die Krankheit hatte immerhin einen Namen!«

      Kolbein hatte versucht, wieder Arbeit zu finden, so war es nicht. Eine Weile hatte es etwas heller ausgesehen. Er hatte eine Stelle in einem großen Lager gehabt, doch nach einem Jahr wurde alles auf Computertechnik umgestellt. Kolbein wurde auf Fortbildungen geschickt, aber irgendwie bekam er es nicht hin. Nach und nach graute ihm davor, zur Arbeit zu gehen, und er begann morgens unter Durchfall zu leiden. »Das sind die Zigaretten«, sagte er. »Jetzt werd ich verdammt noch mal das Rauchen aufgeben.«

      Doch er brauchte nicht auf seine Selbstgedrehten zu verzichten.

      Einsparmaßnahmen, nannte es der Personalchef. Wer zuletzt gekommen war, mußte zuerst gehen.

      1995, kurz vor Weihnachten, war er einem Mann begegnet, der sein Leben verändern sollte. Er hieß Rune Reiedal.

      »Ich kann mich noch gut erinnern«, sagte Harry, der mit einer neuen Zigarette im Mundwinkel auf der Bettkante saß. »Kolbein und ich hingen unten am Anleger rum, war das ein schöner Tag, du meine Güte, man wollt nicht glauben, daß schon Dezember war.«

      Dann hatte drüben am alten Zollhaus ein Auto gehalten, und ein Mann war ausgestiegen. Es war Rune Reiedal, der Wichtigtuer (so nannte man ihn in Stavanger), Alleinerbe von Reiedal & Knudsen. Früher hatte das große Geschäftshaus »Feine Textilmanufaktur« geheißen, inzwischen war es längst ein Modehaus, das sich vor allem an junge Mädchen wandte. Es war an eine Firmengruppe verkauft worden. In Stavanger erzählte man sich, Rune Reiedals Vater hätte Konkurs gemacht, wenn nicht der Sohn zu Beginn der siebziger Jahre die Leitung des Unternehmens übernommen hätte. Rune hatte gerade sein Betriebswirtschaftsstudium abgeschlossen, als er Kompagnon des Vaters wurde. Einen Knudsen gab es nicht mehr, er war 1958 gestorben und hatte keine Erben hinterlassen.

      »Wir hatten grad von Rune gesprochen, und es war schon verdammt merkwürdig, als er plötzlich aufgetaucht ist.«

      Harry schüttelte den Kopf, daß die Asche von seiner Zigarette hinunterrieselte.

      Die beiden alten Kumpel hatten auf dem Pier gesessen, der Frührentner und der Arbeitslose, und beobachtet, wie sich die Häuser am Strandkai in der unruhigen Wasseroberfläche spiegelten. Gerade war ein Versorgungsschiff eingelaufen, das nagellackrot und unfaßbar riesig dalag, wie ein großes Tier knurrte und vom Ölwunder draußen auf der Nordsee zeugte.

      »Die Sache mit dem Öl ist ja nicht für alle gleichermaßen wunderbar«, hatte Kolbein gesagt und ins Wasser gespuckt.

      »Aber es gibt immer welche, weißt du«, hatte er gesagt, »es gibt welche, die fallen immer wieder auf die Füße.«

      Und dann hatten sie sich über Rune Reiedal unterhalten, den sie noch von früher kannten, als sie gemeinsam in der Stadt herumgezogen waren und sich mit allen möglichen Leuten einen hinter die Binde gegossen hatten.

      Damals war Rune zusammen mit ihnen durch die Stadt gestreunt, der scheinbar wohlerzogene, aber im Grunde völlig hemmungslose Kaufmannssohn, dessen Ruf ruiniert war, seit man ihn besoffen und buchstäblich mit heruntergelassener Hose aufgegriffen hatte. Mit den Söhnen des Apothekers hatte er Äthylalkohol aus der Apotheke getrunken. Sie waren damals etwa fünfzehn gewesen. Später hatte er die Haushaltshilfe geschwängert, die nach Dänemark geschickt wurde, um abzutreiben, wie es hieß. Niemand hatte sie je wiedergesehen.

      »Rune war wirklich ein Wilder«, hatte Harry gesagt und wegen des Verkehrslärms hinter ihnen auf dem Kai die Stimme erheben müssen. »Aber reich ist er geworden!«

      Genau in diesem Moment stieg Rune Reiedal am alten Zollhaus aus seinem Auto und entdeckte die beiden. Er kam mit langen Schritten auf sie zu und setzte sich zu ihnen. »Na, und ihr sitzt hier und genießt die Aussicht?«

      Harry und Kolbein hatten sich einen mißtrauischen Blick zugeworfen, aber Rune war kumpelhaft und


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